Der Leader des Swing

Berlin Beatet Bestes. Folge 84. Cornel-Trio: »Verlieb’ dich nicht am Nordpol« (1951).

Es scheint, als würde ich endgültig den Kontakt zur Realität verlieren. Die Musik, die mich in den vergangenen Wochen am meisten bewegt hat, ist auf einem seltsamen Material gepresst, das aus den Ausscheidungen der Lackschildlaus gewonnen wird. Rund 300 000 Lackschildläuse benötigt man, um ein Kilogramm Schellack zu ernten. Diese Schellackplatten sind höchst zerbrechlich und knistern wie bescheuert. Seit ich kürzlich einen ganzen Stapel Platten aus den späten vierziger und frühen fünfziger Jahren erworben habe, bin ich begeistert von all den neuen tollen Liedern, die ich entdecke. Es trägt zu meiner Verunsicherung bei, dass ich zusammen mit meiner Freundin vor einigen Monaten begonnen habe, Swing tanzen zu lernen, genauer gesagt: Lindy Hop. Das Tanzen macht zwar sehr viel Spaß, aber es war zunächst befremdlich, dass dieser Paartanz klar zwischen Leader und Follower unterscheidet. Wer seine Geschlechterrollen traditionell organisiert hat, dem bereitet das sicher weniger Probleme, für mich aber war es eine echte Herausforderung. Die Frauen lernen viel schneller und haben auch meist ein besseres Rhythmus- und Körpergefühl. Trotzdem müssen die Männer die Impulse für alle Figuren vorgeben: Leader geben vor, Follower tanzen nach. Und ich bin so ein schlechter Schüler! Das gab bis vor kurzem Anlass zu sehr viel Unmut und Ungeduld bei meiner Freundin. »Mensch, jetzt mach doch mal was!«, herrschte sie mich an, wenn mir beim Tanzen nach kurzer Zeit die ­Ideen ausgingen. Zum Glück tanzen wir im Tanzkurs immer auch mit allen anderen Partnern, und die waren erheblich duldsamer mit meinem Leadergestümper. Das tiefe Tal der Verzweiflung hatte ich bereits durchschritten, da wartete schon eine neue Herausforderung. Unlängst habe ich versucht, meine neuen Swingplatten auch auf einer Tanzveranstaltung zu spielen. In all den Jahren als Kneipen-DJ habe ich nie auf das richtige Tanztempo geachtet. Jetzt waren meine Platten entweder zu schnell oder zu langsam. So geht DJ-Sein also richtig! Am schönsten war es, als die Leute aus unserem Kurs zu meinem Lieblingslied »Verlieb’ dich nicht am Nordpol« getanzt haben. Der heitere Swingtitel, gesungen vom Cornel-Trio und begleitet vom Tanzorchester Leipzig unter der Leitung von Kurt Henkels, wurde 1951 von Michael Jary, einem der erfolgreichsten Komponisten der Nachkriegszeit, für den Film »Die verschleierte Maja« geschrieben. Der Originaltitel lautet: »Fahr’n Sie nicht zum Nordpol«. »Fahr’n Sie da nicht hin/Nein, bitte lassen Sie das sein/Kalt ist die Polarnacht, die bald jedem klar macht/Hier friert auch heiße Liebe ein/Oje, Oje, bleim Sie hier/ … / Das ist bestimmt kein Paradies/Da gibt es kein Kino, keinen roten Vino/Auch die Geschäfte gehen mies/ … /Kalter Wind, kalter Kuss/Kalte Füße, kein Genuss/Wie, oh Graus, hält ein Mensch das nur aus/ … /Da wächst kein Gras, da wächst kein Kraut/Nicht einmal Tomaten und statt Gänsebraten kriegt man nur eine Gänsehaut.«