Die EU und die Flüchtlinge aus Tunesien

Die Mauer muss weg!

Zur Politik von Ben Alis Regime gehörte auch, die Ausreise der Bevölkerung nach Europa zu unterbinden. In enger Zusammenarbeit mit der europäischen Politik der Flüchtlingsabwehr.

Nachdem Mitte Februar Tausende Bootsflüchtlinge auf der italienischen Insel Lampedusa angelangt waren, glaubte Innenminister Roberto Maroni zu wissen, was zu tun sei. »Das tunesische System ist dabei zu kollabieren«, befand der Politiker der rechtspopulistischen Lega Nord und wollte italienische Polizisten nach Tunesien schicken. »Sie sollen verhindern, dass sich weitere Flüchtlinge auf den Weg machen.«
Doch im tunesischen Außenministerium bekam Maroni eine wenig diplomatische Abfuhr. Die Interimsregierung dachte gar nicht daran, die konziliante Haltung des Diktators Ben Ali gegenüber dem Nachbarn im Norden beizubehalten. Maronis Vorschlag sei ein »Angriff auf unsere Souveränität«, erklärte das Außenministerium. Taieb Baccouche, Sprecher der Übergangsregierung, ereiferte sich gar, Maroni sei ein »rechts­extremer Rassist.«
Am nächsten Tag setzte sich der italienische Außenminister, einst EU-Kommissar für Justiz, Freiheit und Sicherheit, ins Flugzeug und unterbreitete Ghannouchi seinen »Marshall-Plan«: »Wir sind bereit, Tunesien zu unterstützen – mit Mitteln und über die 800 italienischen Firmen, die hier präsent sind«, sagte Frattini. Sinnvoll sei eine »ökonomisch begleitete Rückführung der Flüchtlinge«. Beide Länder hätten ein »gemein­sames Interesse daran, den Flüchtlingsstrom zu unterbinden«.

Der neue Tonfall ist symptomatisch. Ganz offensichtlich hatten die Italiener nicht mit dem Selbstbewusstsein der Tunesier gerechnet. Denn in der Vergangenheit hatte das Regime in Tunis für italienische Wünsche in Sachen Migrationskontrolle stets ein offenes Ohr – und offene Taschen. »Die Zusammenarbeit zwischen Ben Ali und Rom lief seit Jahren sehr munter«, sagt Karl Kopp von Pro Asyl, »das war für die EU geradezu modellhaft«. Wie auch anderswo habe man zwecks Flüchtlingsabwehr jahrelang einen korrupten Diktator hofiert. Viel Geld sei geflossen und die Italiener hätten Material geschickt, mit dem Tunesien die Küsten dicht gemacht habe.
Die Kontrolle war effektiv. Lampedusa liegt nur 150 Kilometer von Tunesien entfernt, trotzdem gelang es kaum noch Flüchtlingen, dort anzulegen. »Tunesien war das erste Land Nordafrikas, das Schnellboote zum Küstenschutz bekam«, sagt Elias Bierdel von Borderline Europe. Weil die Flüchtlinge nur noch heimlich und unter sehr schwierigen Bedingungen mit Booten aus Tunesien aufbrechen konnten, sei es oft zu Unglücken gekommen. »Die tunesischen Fischer haben damals sehr viele Leichen aus dem Wasser ziehen müssen.« Migranten, die aufgriffen wurden, seien mit »sehr harten polizeistaatlichen Methoden eingesperrt und abgeschoben worden«.
1998 unterzeichnete Ben Ali erstmals ein Rücknahmeabkommen mit Italien. Später baute Tunesien mit italienischem Geld mindestens 13 Internierungslager für Abgeschobene. »Viele liegen an geheimen Orten, nur Regierung und Polizei wissen, wo«, schrieb 2005 der sizilianische Soziologe Paolo Cuttitta. »Niemand soll erfahren, was mit den Flüchtlingen passiert, die aus Italien nach Tunesien abgeschoben oder schon vorher aufgegriffen werden.« Berichten zufolge seien Migrantinnen und Migranten von den Lagern aus an die algerische Grenze gebracht und ausgesetzt worden. Bewiesen sei dies allerdings nicht: »Bei den vielen Leichen, die in Algeriens Sahara gefunden wurden, kann man nicht leicht erkennen, ob sie schon auf dem Hinweg oder erst nach der Abschiebung gestorben sind«, schreibt Cuttitta. Für die italienische Regierung sei dies ohnehin belanglos: »Hauptsache, das Sterben geschieht abseits der europäischen Öffentlichkeit.«
Seit dem Jahr 2000 koordinierten Verbindungsbeamte des italienischen Innenministeriums in Tunis gemeinsame Grenzkontrollen. »Es gab völkerrechtswidrige Zurückweisungen in interna­tionalen Gewässern«, sagt Karl Kopp. Italien habe dies »jahrelang ohne Rücksicht auf die Menschenrechtssituation in Tunesien« betrieben. Dabei hatte Tunesien zunächst gar kein so großes Interesse, sich als Türsteher an Europas Südflanke zu verdingen. Schließlich überweisen Exilanten jedes Jahr eine Milliarde Dollar in das Land, dies ist eine der wichtigsten Einnahmequellen Tunesiens. Italien musste die Bereitschaft zu grenzschützerischen Hilfsdiensten also umso stärker fördern.

77 Millionen Euro Entwicklungshilfe überwies Italien allein 1998, im Jahr des ersten Vertragsschlusses, an Ben Ali. Doch viel wirkungsvoller sei das Instrument des quotierten Migranten­zugangs gewesen, das die Prodi-Regierung ersonnen hatte, schreibt Cuttitta. Jedes Jahr wird eine bestimmte Zahl an Einwanderungsgenehmigungen für Staatsangehörige ausgewählter Länder erteilt. 1998 waren dies Tunesien, Albanien und Marokko – die einzigen Länder, die zu jener Zeit ein Rücknahmeabkommen mit Italien unterzeichnet hatten. »Damit werden Herkunfts- und Transitländer für ihre Kooperationsbereitschaft belohnt«, so Cuttita. Als 2001 das italienisch-tunesische Abkommen von 1998 auslief, stieg in Italien die Zahl illegaler Grenzübertritte aus Tunesien; ein Zeichen dafür, dass die Kontrollen dort nachgelassen hatten. Zu jener Zeit durften 3 000 Tunesier legal nach Italien einwandern. Wohl als Reaktion auf die Schlampigkeit bei den Kontrollen verringerte Italien die Quote auf 600. Als 2003 ein Abkommen zur Kontrolle verdächtiger Schiffe abgeschlossen wurde, setzte die italienische Regierung die Einwanderungsquote für Tunesier wieder auf 3 000 herauf. Zum Dank erhöhte das tunesische Parlament kurz danach die Strafen für Schleuser drastisch.
Im November 2009 verurteilte ein sizilianisches Gericht zwei tunesische Fischer zu zweieinhalb Jahren Gefängnis und einer Geldstrafe von 440 000 Euro. »Das ist eines der bittersten Kapitel dieser Geschichte. Es steht außer Frage, dass die beiden nur Nothilfe geleistet haben«, sagt Bierdel. Er selbst war wenige Wochen zuvor im selben Gerichtssaal freigesprochen worden. Die Tunesier hatten mit ihren Booten das gleiche getan wie Bierdel mit der »Cap Anamour« (Jungle World 45/2010), nämlich schiffbrüchige Bootsflüchtlinge nach Italien gebracht. »Beim Prozess gegen die Fischer war Tunesiens Botschafter im Saal und hat scharf protestiert«, erinnert sich Bierdel. Doch dies hinderte das tunesische Regime nicht daran, die Fischer mit einem Berufsverbot zu belegen.

Für Bierdel ist die aktuelle Diskussion, ebenso wie die damalige, »vor allem eine Propagandaschlacht«. Die Zahl der neuen Flüchtlinge auf Lampedusa, bislang etwa 5 400, sei gemessen an der Einwohnerzahl Europas nicht hoch. »Trotzdem wird Angstpropaganda gemacht.« Die verfängt offenbar, wie ein Interview mit Rainer Wendt, dem Vorsitzenden der Polizeigewerkschaft, zeigt. Nach den Bildern aus Lampedusa hatte er gefordert, dass »Europa zu einer Festung ausgebaut werden« müsse. Bisher war dies ein Begriff, den Kritiker für die rigorose europäische Abschottungspolitik benutzten.
Noch im vorigen Jahr hatte der Kulturstaatsminister Bernd Neumann (CDU) einen Eklat in Kauf genommen, um genau eine solche Aussage zu unterbinden: Er nahm Einfluss auf die Ausstellung »Fremde – Bilder von den Anderen in Deutschland und Frankreich« im Deutschen Historischen Museum in Berlin. »Während innerhalb Europas die Grenzen verschwinden, schottet sich die Gemeinschaft der EU zunehmend nach außen ab. Die ›Festung Europa‹ soll Flüchtlingen verschlossen bleiben«, lautete die Aufschrift auf einer Ausstellungstafel. Neumann ließ sie entfernen. Doch die Zeiten, in denen solche Tabuisierung für nötig gehalten wurde, scheinen vorbei zu sein. Niemand störte sich an Wendts Forderung.