Über die revolutionären Entwicklungen im Nahen Osten 

Eine neue Dimension

Wie immer man die einzelnen Revolten in den arabischen Autokratien beurteilen mag, die Entwicklung ist unbestreitbar revolutionär. Die Bedenkenträger begreifen nicht, was gerade im Nahen Osten passiert.

Der Nahe Osten befindet sich in einem gewaltigen Umbruch. Dieser hat nicht erst vor vier Wochen begonnen und er wird nicht in vier Wochen enden. Angefangen hat er spätestens mit dem Sturz von Saddam Hussein, danach folgten erste demokratische Massenbewegungen im Libanon und im Iran, die jedoch wieder stagnierten oder in Terror und Konfusion umschlugen. Seit dem Abflug von Ben Ali aus Tunesien jedoch gibt es offensichtlich kein Halten mehr, und nach dem Abgang Mubaraks bleibt nur noch die Frage, was denn noch undenkbar sein könnte in dieser Region. 40 Jahre Gaddafi? Abgehakt. Wie wird der Nahe Osten in einem Jahr aussehen, in zwei oder auch in vier Wochen? Und wer weiß, wie weit die Erschütterungen mittelbar noch reichen werden, bis in das subsaharische Afrika oder gar nach China?

Sind es Revolten, Aufstände, Proteste, die wir da beobachten, oder gar Revolutionen? Sofort wird von manchen eingewandt, nein, Revolutionen seien das nicht, nicht ohne Wechsel des Systems, nicht solange nur Personal ausgetauscht wird, und überhaupt, man wisse nicht so recht, und zum Schluss reden sowieso immer alle nur über die Muslimbrüder. Man könnte mit Amir Taheri auch etwas spöttisch die Frage stellen, ob es sich etwa im Fall Ägyptens nicht vielmehr um den Versuch handele, aus einer alten Revolution endlich einen Ausweg zu finden. Es bleibt sich gleich, zum Abschied von den Ideologien des vergangenen Jahrhunderts gehört es auch, dass die spezifische Benennung der Vorgänge zwischen Tunis und Teheran ziemlich irrelevant ist. Und ob man nun in Europa mahnt, rät, ablehnt, zustimmt oder ignoriert – es passiert trotzdem. Entscheidend ist, dass Menschen in Sana’a, Bengasi und Manama für sich Demokratie, Freiheit und ein Ende ihrer Unterdrückung einfordern. Eigentlich ist das nicht so schwierig zu verstehen.
Wem nun diese plötzlich offenen Wege in die Zukunft zu unsicher erscheinen, der tut im Gegenzug wohl am besten so, als hätte er gerade einen Weg zurück in die Vergangenheit gefunden. So liebt zwar Ulrich Beck, weil er Soziologe ist, das Reden über die »unideologische, zivilgesellschaftliche Gegenmacht einer jungen, global vernetzten Generation«, aber erklären kann er sich die Vorgänge in Ägypten dann auch nur so, wie man sich die Welt früher in einem ordentlichen linken Uni­seminar erklärt hat: »Viele Ägypter sind auf die Straße gegangen nicht nur, um ihre Unabhängigkeit von Mister Mubarak zu erkämpfen. Sie demonstrieren auch für ihre Unabhängigkeit von den USA und deren Alliierten.«
Da leuchtet uns der berühmte »Dritte Weg« entgegen, den man 1979 an der »iranischen Revolution« auch im Westen attraktiv fand. Lauter Wege in die Vergangenheit, sogar der Begriff des Panarabismus ist ganz unironisch hier und da schon mal probeweise wieder hervorgeholt worden. Wenn doch nur diese plötzlich so irritierend unprätentiösen arabischen Massen dem für sie vorgesehen uralten Drehbuch folgen und wieder begreifen würden, dass Amerikaner und Juden ihr eigentliches Problem sind. Denn die Welt hat statisch zu sein und Veränderungen rühren so grässlich an geistige Gewohnheiten. So finden sich sogar notorische Antiimperialisten wie der bloggende libanesisch-amerikanische Professor As’ad AbuKhalil alias Angry Arab und die »islamkritischen« Koranexegeten zwischen Flensburg und dem Bodensee in einem gemeinsamen Interesse vereint wieder, nämlich um zu beweisen, dass die Araber auch nach der Eroberung und Verteidigung eines Befreiungsplatzes – Tahrir – dieselben Antisemiten vulgo Antizionisten wie vorher seien. Bei jedem gefundenen einschlägigen Videoclip, wo es in Sprechchören doch wieder nur um Märtyrer, Zionisten und Jerusalem geht, fühlen sie sich alle erleichtert. Seht nur her, naive Westler, seht her, so sind die da nämlich in Wirklichkeit, und so werden die auch immer bleiben, die Menschen im Orient.
Was da gerade passiert, es passt ihnen allen letztlich nicht. Die einen sehen ihre Warnrufe vor dem Islamismus in Zukunft resonanzlos verhallen und wollen die Zukunft Israels seltsamerweise untrennbar an abgehalfterte arabische Diktatoren und die Politik Benjamin Netanjahus geknüpft sehen, andere freuen sich, dass zugleich mit Ben Ali und Konsorten Thilo Sarrazin und Necla Kelek gestürzt worden sein sollen. Letztere bedenken dabei wahrscheinlich gar nicht, welche unheilvollen Auswirkungen es auf ihr kulturrelativistisches Weltbild haben könnte, wenn Figuren wie der ägyptische Google-Manager Whael Ghonim oder der tunesische Rapper al-Général das Image nahöstlicher Jugendlichkeit in Zukunft mitgestalten. Das dürfte zumindest klar sein: Was in Arabien, im Maghreb und im Iran gerade passiert, wird langfristig immense Auswirkungen auf das Selbstbild der Einwanderer nach Europa haben.

Aber da kommen endlich auch die vom Freiheitsgesäusel unbeschwipsten Strategen, und sie lassen jetzt mal den ganzen Spaß beiseite: »In den nüchternen Kategorien sicherheitspolitischer Kräfteverhältnisse bedeutet der Sturz Mubaraks eine empfindliche strategische Schwächung des Westens – und eine dramatische Verschlechterung der Sicherheitslage Israels. Das Ausmaß des Verfalls westlichen Einflusses in der Region, das mit dem Umsturz in Ägypten sichtbar wurde, scheint in unserer Öffentlichkeit jedoch noch nicht recht angekommen zu sein.« Richard Herzinger erklärt im Perlentaucher, die »Islamische Republik Iran« sei ein strategischer Gewinner der »Umstürze«. Und der Westen drohe in »eine geradezu aussichtslose Zwickmühle« zu geraten, denn wenn er Israel nicht verrät, wird er das entfesselte Arabien vor sich haben.
Dem würde die iranische Propaganda sofort beipflichten. Aber wird der Verlierer im neuen Nahen Osten neben den Diktatoren nicht eher das Modell der »Islamischen Republik Iran« sein? Ihr ausgeklügeltes Machtspiel basiert ausschließlich auf den Strukturen des alten Nahen Ostens. Herzinger ist jedoch in dem einen Punkt absolut zuzustimmen, dass nämlich »die Entscheidung darüber, welche Züge das noch unbekannte Gesicht des neuen Nahen Ostens tragen wird, am Ende in Teheran fällt«. Allerdings sieht es nicht gut aus für die Traditionsbewahrer der »islamischen Revolution«. Solange die Minderheiten im Iran still halten, mag der Revolutionsführer mit seinem Anhang noch weitermachen, die Jugend haben sie trotzdem längst verloren. Das ist nicht ihre Zukunft, die da morgenrötet.

Was die mahnenden Stimmen gegenüber dem neuen Nahen Osten nie laut aussprechen, ist die Frage nach einer Alternative zu den realen Geschehnissen. Wie hätte man denn Mubarak halten können? Oder Ben Ali? Wie den Status quo bewahren? Mit Panzern oder besser mit der Luftwaffe? Die Frage ist müßig, es gab da offensichtlich nichts mehr zu stabilisieren. Wie viele Kübel Beton hätte man Anfang des Jahres über Tunis ausgießen müssen, um das, was da in Bewegung geriet, noch aufzuhalten? Und dann für immer? Oder bloß für ein weiteres Jahr? Damit das Grauen im Nahen Osten irgendwann völlig unerträglich geworden wäre? Die Dimensionen dessen, was im Nahen Osten passiert, begreifen sie alle nicht.
Wir stehen vor einer historischen Chance, und es sieht gerade ganz und gar nicht nach Apokalypse aus. Umbrüche, Revolutionen, Zeitenwenden, wie auch immer, es sind Generationsprojekte. Und es geht hier um sehr junge Gesellschaften. Bei der ersten Freitagsdemonstration in Sana’a im Jemen Anfang Februar sollen Jugendliche beim Anblick von Bildern von Gamal Abdel Nassers gefragt haben, wer das sei. Gespenster beleben keinen Umbruch. Ideologie ersetzt keine Zukunftsperspektive, zumindest nicht auf Dauer. Dabei ist auch klar, dass die Probleme und Auseinandersetzungen in diesen Gesellschaften jetzt erst richtig virulent werden. Aber auf einem andern Niveau, mit anderen Voraussetzungen. Freiheit war schon immer gefährlich. Jede pluralistische Anwandlung wird auch nationalistische Töne und islamistische Propaganda freisetzen, doch entscheidend wird sein, ob es gelingt, stabile parlamentarische Systeme zu etablieren. Und immerhin stellt sich diese Frage zu einem Zeitpunkt, da der Islamismus und alle scheinbar ewigwährenden Führerkulte dieser Region ihre unbefragte Autorität verloren haben. Wenn nicht jetzt, wann denn dann?
Überhaupt, wo bleibt die Empathie? Gerade von denen, die doch immer ungefragt von sich behaupten, ganz besonders für Emanzipation, Befreiung und Kritik der Verhältnisse einzustehen? Sollen wir sie die Linken nennen? Natürlich gibt es den alten Nahen Osten immer noch, seine Hässlichkeit ist nicht seit Jahresbeginn plötzlich verschwunden. Der Antisemit und der Verschwörungstheoretiker, der Islamist und der letzte Ba’athist, die Patriarchen und die debilen, zornigen, überflüssigen Söhne, sie sind alle immer noch da. Aber es entsteht gerade eine Gegenerzählung. Allein die Selbstdisziplin der demonstrierenden Menschen auf ihren Freiheitsplätzen ist unglaublich. Was für ein Chaos hätte wohl ein beliebiger Nahostkenner bei der Frage nach einem plötzlichen Umsturz von Mubarak noch Anfang des Jahres wohl prophezeit? Ja, es wird furchtbare Rückschläge geben in den nächsten Jahren. Aber das ist viel besser als die verlogene Totenruhe, die bisher geherrscht hat – immer verbunden mit der Ahnung, eines Tages werde das alles sowieso explodieren.
Revolutionen gibt es nur ohne Gewähr, worauf André Glucksmann gerade hingewiesen hat, und: »Die Zukunft ist ohne Garantie.« Aber das heißt eben auch, sie ist offen. Und sie lässt sich gestalten. Und wenn man sie so nicht einmal mehr denken will und kann, hat man abgewirtschaftet. So wie die großen Erzählungen, so wie die großen Führer. Wenn »der Westen« Angst vor der Freiheit hat, nimmt er sich selbst nicht mehr ernst. Dann allerdings sieht es düster aus für die Menschen, die sich auf universale Werte berufen. Überall.
Die Verhältnisse sind zum Tanzen gebracht worden. Von Menschen, die sich auch die Freiheit genommen haben, ihre Bedürfnisse nicht mehr in Abgrenzung vom »Westen« zu formulieren. Sie fordern ganz von sich aus das Beste von diesem »Westen« ein, die Allgemeingültigkeit der Menschenrechte. Und das ist so gefährlich wie großartig. Aber so ist das mit, nun gut, Revolutionen.