Zur Genese des demokratischen Despotismus 

Lo stato sono io

In der italienischen Demokratie dominierte von jeher die Logik der Parteien über die Logik der demokratischen Institutionen. Als mit dem Ende des Kalten Kriegs und dem Schmiergeldskandal »Tangentopoli« die alte Ordnung der italienischen Parteien zerbrach, profilierte sich Berlusconi als unternehmerischer Antipolitiker – bis er selbst zur Verkörperung des Staats wurde. Zur Genese des demokratischen Despotismus.

Vierzig Jahre lang, vom Ende des Zweiten Weltkriegs bis zum Fall der Berliner Mauer, war Italien eine anomale Demokratie. Jeder reguläre Regierungswechsel zwischen Mehrheit und Opposition wurde aus Furcht vor der größten kommunistischen Partei Westeuropas verhindert. Diese Anomalie wurde als »Faktor K« definiert – die ungeschriebene Regel der conventio ad excludendum besagte, dass die Kommunisten auf jeden Fall aus der Regierung ausgeschlossen bleiben müssen. Obwohl es damals Wikileaks noch nicht gab, liegen inzwischen Unmengen von Dokumenten vor, die belegen, welche Angst die verschiedenen US-amerikanischen Regierungen während des Kalten Krieges vor einem möglichen Wahlsieg der italienischen Kommunistischen Partei (KPI) hatten. Um diese Gefahr abzuwehren, gab es in Italien 40 Jahre lang einen geheimen schmutzigen Krieg, gelegentlich puren Terror.
Die Anomalie bestand somit darin: Das Land war eine anerkannte westliche Demokratie, obwohl es die stärkste kommunistische Partei des Westens hatte. Und die stärkste kommunistische Partei des Westens beteiligte sich am Aufbau der italienischen Demokratie, obwohl sie deren größter Feind hätte sein müssen. Die Stabilität dieser Anomalie basierte auf dem italienischen Parteiensystem. In Italien hat sich der Staat nie als ein abstraktes, nationales, kollektives, »öffentliches« Gebilde konstituiert, er war nie ein bürokratischer Apparat mit eigenen Gesetzen und eigener Funktionsweise. Das postfaschistische Italien war ein Staat der Parteien. Sie waren Dreh- und Angelpunkt der anomalen italienischen Demokratie, nicht die Institutionen, die Parteien teilten die Macht stillschweigend und fernab vom Licht der Öffentlichkeit unter sich auf. Im Nachkriegs­italien gab es zwar fortwährend politische Krisen, die Regierungen hielten sich durchschnittlich nur sechs Monate, doch war dieses scheinbar instabile Gleichgewicht in Wirklichkeit unbeweglich. Es wurde 1989 mit dem Fall der Berliner Mauer, dem Ende des »Faktors K«, und infolge dieses Umbruchs auch durch »Tangentopoli« zerstört, der Aufdeckung eines Korruptionssystems, das die Parteien (und damit der italienische Staat) aufgebaut hatten.

Den Trümmern dieses Schmiergeldskandals entstieg Silvio Berlusconi mit seiner unternehmerisch geführten Partei. In einer Periode der Orientierungslosigkeit, in der sich die Menschen von den Parteien und ihren bis 1989 vertretenen Ideologien lösten, gab er der antipolitischen Stimmung ebenso Ausdruck wie dem Widerwillen gegenüber der politischen Misswirtschaft. Gleichzeitig verkörperte er das Bedürfnis nach Stabilität und Kontinuität. Berlusconi, ein Unternehmer, der sich aus dem Nichts hochgearbeitet hatte, ein erfolgreicher Erneuerer, der mit seinen privaten, kommerziellen Fernsehkanälen die Vorherrschaft der bisher mächtigsten Konsensmaschinerie, des staatlichen Fernsehens, gebrochen hatte, präsentierte sich als der Mann, der der italienischen Demokratie endlich eine liberale Wendung geben und dem maroden italienischen Staatsgebilde auf die Beine helfen konnte. Unternehmer, aufgeklärte Intellektuelle und Geschäftemacher aller Art versammelten sich um ihn und glaubten an das Versprechen vom Ende der »politischen Komödie«, die die italienische Demokratie so lange aufgeführt hatte.
Diese antistaatliche Stimmung, diese Abneigung gegen alle Regeln und Gesetze, die mit »dem Staat« identifiziert werden, ist das konstitutive Merkmal des Berlusconismus, darauf basiert seine politische Macht. Auch im jüngsten Streit mit dem Verfassungsgericht forderte Berlusconi die Richter auf, sich nicht an die formale, sondern an die materielle Grundlage des Gesetzes zu halten, das heißt an die Souveränität des Volkes, das ihn gewählt habe. Das antistaatliche Ressentiment war schon lange ein konstitutives Merkmal der italienischen Nation – man denke an die Opposition der katholischen Kirche gegen den italienischen Einheitsstaat im 19. Jahrhundert, die dazu führte, dass die Katholiken mehr als 50 Jahre lang dem öffentlichen politischen Leben Italiens feindlich gegenüberstanden, oder die »zweigleisige« Politik des ehemaligen KPI-Vorsitzenden Palmiro Togliatti, die den allmählichen Übergang von der liberalen Demokratie zum Sozialismus propagierte und dabei auf die »Volksrepubliken« des Ostens bezogen blieb.

Berlusconis Parteiapparat agiert nicht politisch, sondern unternehmerisch und werbewirksam. Er verfügt über nahezu unbegrenzte finanzielle Mittel, aber es ist sein Geld, es sind keine öffent­lichen Finanzmittel. Er hat den Vorteil, mit seinen Fernsehkanälen und Fernsehstars Konsens zu erzeugen, aber es sind seine Fernsehkanäle, nicht die unter den Parteien aufgeteilten der staatlichen Fernsehanstalt RAI. Die Überschneidung zwischen Privatem und Öffentlichem ist ein charakteristisches Element für Berlusconis politische Praxis. Das politische Leben des Ministerpräsidenten Berlusconi vermengt sich mit seiner privaten Geschichte. Der italienische Staat erlebt eine Art Anthropomorphose: Berlusconi ist der Staat. Seine Villa in Arcore ist der Hofstaat von Versailles. Der Berlusconismus ist nicht mehr die Anomalie einer Demokratie mit den Zügen eines Regimes, sondern die Anomalie eines Regimes mit demokratischen Zügen. Der Faktor B wird zu einer neuen conventio ad excludendum: Ein Regierungswechsel ist unvorstellbar.
Diese Art von monarchischem Absolutismus, diese postkonstitutionelle Monarchie, deren Ursprung und Ende – der Staat bin ich, nach mir die Sintflut – an den Körper des Souveräns gebunden ist, unterscheidet sich vom attischen Tyrannen, vom Cäsarismus oder Bonapartismus, der das republikanische Gesetz außer Kraft setzt und eine Diktatur errichtet; sie unterscheidet sich aber auch von einer Staatsform, die mit Ausnahme- und Notstandsgesetzen regiert, die liberale Demokratien beispielsweise im Namen des Kampfs gegen den Terrorismus erlassen und die nur vorüber­gehend gelten oder gelten sollten. Berlusconis Herrschaft ist anders, sie beschreibt ein stabiles Regierungsdispositiv, das im Namen des Wählerauftrags die Macht auf die Exekutive ver­lagert, zum Nachteil von, wenn nicht gar im Widerstreit zu Legislative und Judikative. Die Demokratie wird deshalb nicht aufgehoben, aber auf den Wahlgang reduziert, der mehr und mehr an Transparenz verliert und immer weniger Beteiligung findet. Dass die Regierung Abstimmungen ständig mit der Vertrauensfrage verbindet, entmachtet die parlamentarische Opposition, deren Rolle sich auf die der Zeugenschaft reduziert. Außerdem erlaubt ein sogenannter Mehrheitsbonus derjenigen Partei, die die relative Mehrheit, also praktisch kaum mehr als 30 Prozent der Stimmen, gewinnt, allein zu regieren. Der gesellschaftliche Konflikt hat sich entlang der Fronten pro und contra Ber­lus­coni verhärtet. Italien ist seit 15 Jahren blockiert.
Doch abgesehen von der grotesken Folklore der allzu menschlichen und höchst politischen Angelegenheiten des Ministerpräsidenten beschreibt der Berlusconismus kein rein italienisches Phänomen. Der Berlusconismus, diese Regierungsform des demokratischen Despotismus, der das Machtgleichgewicht der liberalen Demokratien zerstört, wie es sich in 30 Jahren kapitalistischer Produktion und Parteienherrschaft entwickelt hatte, hat im Niedergang des »Öffentlichen« seinen fruchtbaren ideologischen Nährboden gefunden. Aber ist die Privatisierung des Öffentlichen, des kollektiven Reichtums, nur ein italienisches Problem? Was bedeutet es, sich einen Postberlusconismus vorzustellen, der über eine formale Restauration der Verfassung hinausginge, der einen anderen Begriff des »Öffentlichen« hätte und eine Alternative wäre zum schrecklichen Triumph des »Privaten«?

Aus dem Italienischen von Catrin Dingler