Über eine Studie zu Betonskulpturen und Urbanismus in Mexiko

Abkehr von der Wuchtigkeit

Kirsten Einfeldts Studie bietet erstmalig einen Überblick über die öffentliche Kunst der mexikanischen Moderne.

Beton mag heute vielleicht Undurchdringlichkeit symbolisieren und in der Stadtplanung nicht gerade den ökologischen Standards entsprechen, das Material war aber auch mal Ausdruck der Moderne, so auch in Mexiko. Der Literaturwissenschaftler Rubén Gallo hat dem Material ein ganzes Kapitel seiner Auseinandersetzung mit der mexikanischen Moderne gewidmet, »Mexican Modernity. The Avant-Garde and the Technological Revolution« erschien 2005. Beschäftigt man sich heute mit moderner Kunst in Mexiko, das legt nun auch eine neue, von Kirsten Einfeldt verfasste Studie nahe, ist an der Härte des Betons kein Vorbeikommen.
Als im Rahmen des Kulturprogramms für die Olympischen Sommerspiele 1968 ein groß angelegtes Skulpturenprojekt geplant wurde, war für die Ausführung der eingereichten Arbeiten, so Einfeldt, der Gebrauch von »Beton verpflichtend«. Denn das Material erfüllte zwei Kriterien, die der politischen Führung mit dem vom Künstler Mathias Goeritz betreuten Skulpturenprojekt am Herzen lagen: Es sollte zugleich den internationalen Standard der zeit­genös­sischen Skulptur und die nationale Besonderheit der mexikanischen Kunst zum Ausdruck bringen. Nicht zufällig war die Zement- und Stahl­industrie der Hauptsponsor des sportlichen Großereignisses. Die mexikanischen Olympischen Spiele von 1968 werden heute wohl eher mit den gereckten Black-Power-Fäusten der schwarzen Sprinter Thommie Smith und John Wesley Carlos und mit dem an demonstrierenden Studentenverübten Massaker im Stadtteil Tlatelolco zwei Wochen vor der Eröffnung assoziiert. Einfeldt erinnert jedoch daran, dass die Spiele auch Teil einer nationalen Image-Kampagne waren, die nicht nur von kulturellen Ereignissen begleitet wurde, sondern auch – wie der mexikanische Kunsthistoriker Luis Castañeda kürzlich in einem Aufsatz (»Beyond Tlatelolco«) dargelegt hat – von einer langen und intensiven Stadtplanungs- und Bauphase.
Diese urbanistisch umtriebige Epoche stand im Kontext von kulturpolitischen Formierungen, die die mexikanische Politik seit dem Ende der Revolution 1920 geprägt hatte. Bemalten damals Künstler wie Diego Rivera, José Clemente Orozco und David Alfaro Siqueiros im Staatsauftrag die Innen- und Außenwände von Regierungs- und anderen staatlichen Gebäuden im historischen Kern der Hauptstadt, wurde seit den späten vierziger Jahren die Repräsentation der Nation deutlich wuchtiger angelegt. Ganze Stadtteile und Siedlungen wurden errichtet, so wie beispielsweise die damals noch außerhalb Mexiko-Stadts geplante Universitätsstadt. An die Peripherie verlagerte sich schließlich auch der Muralismus, die Wandmalerei, und seine plastischen Ausläufer. Die Mosaike von Juan O’Gorman, die die Universitätsbibliothek schmücken (»Evolución de la Cultura«, 1949–1951) sind weltberühmt und in jedem Mexiko-Reiseführer abgebildet.
Das Bild des »neuen Mexiko«, traditionsbewusst und zugleich technologisch wie sozial auf der Höhe der Industrienationen, wurde auch mittels der Pavillons auf den Weltausstellungen und mit Museumsneubauten wie dem des An­thropologischen Museums (von Pedro Ramirez Vázquez, Rafael Mijares und Jorge Campuzzano, 1964) gepflegt.
Die erneuerte nationale Identität, orientiert an technologischem Fortschritt und begleitet von einer ökonomischen und politischen Annäherung an die USA unter Präsident Miguel Alemán (1946–1952), ging allerdings mit einer Aufkündigung dessen einher, was Einfeldt treffend den »Revolutionskanon« nennt. Die realistischen Formsprachen, die dem nationalen Mythos einer ethnisch gemischten und sozial gleichgestellten Gesellschaft verpflichtet waren, verloren an Einfluss. Die Skulpturen zu den Olympischen Spielen beispielsweise waren nicht nur durch Beton, sondern auch durch abstrakte Formen geprägt. Dass die Statue Alemáns auf dem Uni-Campus seit Anfang der Sechziger regelmäßig beschädigt wurde – einmal sogar einen Sprengstoffanschlag überlebte –, war symbolpolitisch nur konsequent. Denn wenn es den Studierenden auch weniger um einen Kanon ging, stand die Revolution und das Anknüpfen an ihre nicht eingelösten Versprechen doch lange Zeit hoch im Kurs, insbesondere um 1968.
Seit den frühen siebziger Jahren wurde in Mexiko neuerlich eine Bewegung von Künstlerinnen und Künstlern wichtig. In seinem so­zialpolitischen Anspruch durchaus den revolutionären Traditionen verbunden, brach dieser Post-68er-Zusammenhang doch deutlich mit seinen kunst- und kulturpolitischen Vorläufern. Die Kunstgeschichte kennt diese Bewegung mittlerweile als Los Grupos, die Gruppen, weil sie »das Kollektiv als Arbeitsform« reaktivierte. Los Grupos standen in deutlicher Opposition zur staatlichen Macht. Die Anerkennung der Gruppen und ihrer neuen Medien und Methoden im Kunstfeld widersprach dem nicht.
Mit der Einbeziehung des Betrachters und der Betonung des Schaffensprozesses knüpften die mexikanischen Gruppen auch an die seit den sechziger Jahren praktizierten, konzeptuellen Künste in anderen Regionen der Welt an. Schablonen-Graffiti (Grupo Suma) oder Straßentheater (Grupo Marco) setzten methodisch auch weniger auf Beständigkeit und Pathos als der Muralismus. Von der Dauerhaftigkeit modernistischer Wohnblocks, die der einflussreiche Architekt Mario Pani in Tlatelolco hatte errichten lassen, gar nicht zu reden. Diese wurde erst durch das Erdbeben von 1985 sprichwörtlich erschüttert.
Dass überhaupt über so unterschiedliche Dinge wie langlebige Stadtkonzeptionen auf der einen und flüchtige Performances auf der anderen Seite gemeinsam diskutiert wird, bringt der Gegenstand mit sich: Kunstgeschichte heißt angesichts der spezifischen Geschichte Mexikos auch Geschichte der Gestaltung des öffentlichen Raums. Insofern hat Einfeldt eine adäquate Zusammenführung betrieben und diese ebenso detail- wie materialreich beschrieben. Die Arbeit ist aber auch in anderer Hinsicht vor allem eine kunsthistorische. So wird auf die ganze kultur- und sozialtheoretische Debatte um die (mexikanische) Moderne kaum Bezug genommen. Trotz thematisch extremer Nähe kommt beispielsweise der mehrfach ausgezeichnete Klassiker von Néstor García Canclini, »Hybride Kulturen. Stra­tegien zum Betreten und Verlassen der Moderne«, in Einfeldts Studie gar nicht vor. Auch die Debatte um nationale Identität, die in Estudios Culturales Latinoamericanos und Cultural Studies die Sammelbände dreier Jahrzehnte füllt und zum Teil auch prägt, findet sich im Buch nicht wieder, obwohl der Untertitel derlei Erwartungen ja wecken könnte. Die »lokale Natur und Topographie sowie ›internationale‹ Bauformen« werden so zum Beispiel als Quelle für die Formierung »des Mexikanischen« (bei Luis Barragán, Rivera und O’Gorman) ausgemacht, und weniger politische Maßnahmen, soziale Kräfteverhältnisse, Diskurse von Ein- und Ausgrenzung oder Kämpfe um Definitionsmacht. In Hinblick auf den selbst formulierten Anspruch allerdings, »insbesondere ikonographische und materia­likonographische« Tendenzen und Transformationen aufzuzeigen, ist die Studie gelungen. Denn über diese Spezifik hinaus ermöglicht sie ein Verständnis auch kunst- und kulturpolitischer Entwicklungen in Mexiko von der Revolution bis heute.
Dass die Abkehr vom nationalen Diskurs seit den siebziger Jahren auch mit einer Abwendung von bestimmten Materialien im Kunst- und Kulturschaffen einherging, dürfte selbst vielen versierten politischen Beobachtern neu sein. Die Hinwendung der Künstler zu den flüchtigeren Medien Typographie und Film bedeutete zugleich das Aus für einen anderen Werkstoff: Beton war nicht mehr der bevorzugte Ausdruck der Moderne.

Kirsten Einfeldt: Moderne Kunst in Mexiko. Raum, Material und nationale Identität. Bielefeld 2010, Transcript-Verlag, 462 S., 35,80 Euro