Über die Konflikte in der ägyptischen Gesellschaft

Beängstigende Vielfalt

Jahrzehntelang schien die ägyptische Gesellschaft wie versteinert. Nun brechen jede Menge Konflikte aus. Manches wirkt bedrohlich, anderes ist schlicht ein nach­holender Prozess gesellschaftlicher und politischer Pluralisierung.

Wie der Einmarsch US-amerikanischer Truppen im Irak, so habe der Sturz Hosni Mubaraks in Ägypten »die Büchse der Pandora geöffnet«, kommentiert der Al Ahram-Kolumnist Hassan Abou Taleb. Was jahrzehntelang unterdrückt wurde oder bestenfalls ein Schattendasein führte, krieche jetzt unter dem Teppich hervor, den die Dik­tatur Mubaraks über die ägyptische Gesellschaft gebreitet habe.

Die zu Tage tretenden Konflikte könnten dabei unübersichtlicher kaum sein: Islamisten bekämpfen nicht nur Säkulare und Christen, sondern auch andere muslimische Organisationen; gemeinsam mit Linken und Säkularen demons­triert die Muslimbruderschaft mal gegen die ehemals herrschende Nationaldemokratische Partei, dann wieder alliiert sie sich, zum Unmut ihrer jüngeren Unterstützer, offen mit dem Militär und dem alten Machtapparat. Derweil organisieren sich Arbeiter in neuen Gewerkschaften, fordern Studenten mehr Mitsprache und bilden sich im ganzen Land sogenannte Volkskomitees, die überparteilich lokale Angelegenheiten in die eigene Hand nehmen. Im September sollen nun endgültig Parlamentswahlen stattfinden. Zu diesem Zeitpunkt will auch das Militär die Macht an eine neue Zivilregierung abgeben und den Ausnahmezustand aufheben, der seit mehr als 30 Jahren herrscht. Schon über 20 neue Parteien haben sich registrieren lassen.
Und dann sind da die weitgehend unorganisierten Jugendlichen, die jede Gelegenheit nutzen, um auf die Straße zu gehen und, wie sie immer wieder betonen, »die Revolution voranzutreiben«. Solange die Regierung den alten Machthaber Hosni Mubarak und andere Funktionsträger seines Regimes nicht vor Gericht stelle und seine Partei, die Nationaldemokraten, nicht verbiete, werde man weiter demonstrieren.
Wollen die einen, die klagen, man lebe nun in einer »Diktatur ohne Diktator«, also die Revolution weiter vorantreiben, fordern inzwischen viele Ägypter ein Ende der Proteste und eine Rückkehr zur Normalität. Ihre Sorge gilt auch der stagnierenden Wirtschaft, alleine die Tourismusbranche beklagt Gewinneinbußen von 40 Prozent in diesem Jahr. Nur was ist dieser Tage Normalität?
Längst herrscht eine Dynamik, die aufzuhalten keiner mehr in der Lage zu sein scheint, Getriebene sind sie, die Akteure der Revolution des 25. Januar. Kurzfristige Bündnisse entstehen, um sich binnen Wochenfrist wieder aufzulösen. So verkündete die »Egypt’s Youth Revolution Coalition« Ende März stolz, eine erste Großdemonstra­tion auf dem Tahrir-Platz ohne Muslimbrüder auf die Beine gestellt zu haben, nur um eine Woche später deren erneute Teilnahme zu begrüßen. Und dann lauschte man gemeinsam der Predigt von Imam Safwat Hagazi, einem üblen Hetzer, der in der Vergangenheit nicht nur zum Mord an Juden aufgerufen hatte, sondern Eltern auch per Fatwa aufforderte, ihre Kinder zum Sportunterricht zu schicken, um sie »fit für den Jihad« zu machen. Wirklich zu zünden scheint die Propaganda der Hassprediger allerdings nicht: Einer jüngsten Umfrage zufolge wünschen 63 Prozent der Ägypter, das Friedensabkommen mit Israel beizubehalten, nur 14 Prozent lehnten es strikt ab. Gerade einmal zehn Prozent sprachen dabei den Muslimbrüdern ihr Vertrauen aus.
Hieß es vor wenigen Wochen noch, der Geist der Ereigniss auf dem Tahrir-Platz sei dahin, ein Bündnis aus altem Establishment, Muslimbrüdern und Militär habe jetzt das Heft in der Hand, ist die Lage seit den jüngsten Massendemons­trationen wieder im Fluss (siehe Seite 5). Erstmals richtete sich der Unmut der Protestierenden nun auch offen gegen den regierenden Militärrat, Forderungen nach dem Rücktritt von Verteidigungsminister Mohammed Hussein Tantawi wurden laut, nachdem es immer wieder zu brutalen Übergriffen der Armee gekommen und erst kürzlich der bekannte Kriegsdienstverweigerer und Blogger Maikel Nabil Sanad verhaftet und wegen »Beleidigung der Armee« von einem Kriegsgericht verurteilt worden war.
Und während in der Presse, die erstmals seit Jahrzehnten keiner Zensur mehr unterliegt, Kolumnisten tiefsinnige Debatten über Verfassungsfragen führen, betrachten andere mit Schaudern, wie radikale wahhabitische Islamisten auf den Straßen auftauchen und gewalttätig gegen Sufis, Schiiten, Christen und unverschleierte Frauen vorgehen. Alleine 40 Gebetsstätten und Heiligtümer des Sufi-Ordens, der über 16 Millionen Anhänger zählen soll, wurden in den vergangenen Wochen von den Bärtigen angegriffen oder zerstört. In Alexandria, der zweitgrößten Stadt Ägyptens, kam es sogar mehrmals zu handgreiflichen Auseinandersetzungen zwischen jugend­lichen Demonstranten und Islamisten.
Unter Mubarak weitgehend geduldet und als Konkurrenz zu den Muslimbrüdern sogar geschätzt, solange sie auf politische Betätigung verzichteten und ihre Aktivitäten auf die meist von Saudi-Arabien finanzierten Moscheen beschränkten, wollen die Salafisten nun sogar mit einer eigenen Partei zu den Parlamentswahlen im September antreten. Ihr Programm ist einfach, es lautet: Sharia, Kalifat und Jihad den Un- und Andersgläubigen.

Mit großem Unbehagen verfolgen andere islamische Gruppierungen das Treiben der Salafisten. Denn nicht nur viele Muslimbrüder, die die Übergriffe auf Sufis umgehend scharf verurteilten, versuchen sich dieser Tage als runderneuerte Reformer zu präsentieren, die es irgendwie mit Demokratisierung, Pluralismus und Menschenrechten halten. Erst kürzlich schwor auch die Gruppierung Jama al-Islamiya, die unzählige Terroranschläge in den neunziger Jahren zu verantworten hat, auf einer mediengerecht inszenierten Konferenz in Luxor der Gewalt ab und erklärte, konstruktiv beim Aufbau eines neuen Ägypten mitwirken zu wollen.
Inzwischen organisieren Sufis mit Unterstützung ägyptischer Schiiten, einer Minderheit, der circa 1,5 Millionen Ägypter angehören, den Widerstand gegen den salafitischen Straßen- und Tugendterror. Schiiten und Sufis gelten nach wahhabitischer Lehre als Abtrünnige, als fast so verachtenswert wie Juden und »Ungläubige«. Auch die christlichen Kopten, mit rund zehn Prozent der Bevölkerung die größte Minderheit in Ägypten, warnen vor einem Erstarken radikal-islamistischer Kräfte. Zugleich klagen sie über Übergriffe des Militärs auf Kirchen und Klöster. Mehrmals in den vergangenen Wochen kam es zu äußerst gewalttätigen Angriffen auf Christen, die von Islamisten verübt und sowohl vom Militär als auch von islamischen Klerikern verurteilt wurden. Eine solche Verurteilung zumindest ist ein Novum in einem Land, in dem die Diskriminierung von Christen eine lange Geschichte hat. Mit einer eigenen Partei wollen nun auch die Kopten zur Wahl antreten. Sie hoffen auf ein Bündnis mit säkularen Kräften. Mit ihnen teilen sie auch ein zentrales Anliegen: die Abschaffung von Artikel 2 der ägyptischen Verfassung, der die Sharia als einzige Quelle der Gesetzgebung festlegt. Diese Forderung wiederum stößt bei allen islamischen Parteien, bezeichnen sie sich nun als gemäßigt oder nicht und so uneinig sie ansonsten auch sein mögen, auf vehemente Ablehnung.

Zerstritten ist inzwischen sogar die Muslimbruderschaft selbst. Hatte Ende März deren Jugendorganisation offen gegen die gerontokratische Führungsriege und ihren Parteislogan »Islam ist die einzige Lösung« rebelliert und weitreichende innere Reformen gefordert, so gründete Abdel Moneim Abouel Fotouh, ein ehemaliges Führungsmitglied, inzwischen eine eigene Partei, deren Programm die ägyptische Zeitung al-Masry al-Youm als »liberal-islamisch« bezeichnet und das sich gegen die Positionen der Hardliner in der Organisation richtet. Die Muslimbrüder hatten im März noch angekündigt, geschlossen mit ihrer neu gegründeten »Freiheits- und Gerechtigkeitspartei« an den Wahlen teilnehmen zu wollen. Daraus wird wohl nichts, inzwischen sind auch andere ehemals hochrangige Mitglieder abtrünnig geworden, sie werden für die konservativ-überkonfessionelle Wasat-Partei kandidieren. Statt mit einer wird die Muslimbrüderschaft so mit drei konkurrierenden Parteien zur Wahl antreten. Einigkeit sieht anders aus.
Erfreut verfolgen säkulare Oppositionelle diese Entwicklung. So schreibt der bekannte Blogger Sandmonkey, der Einfluss der Muslimbrüder werde maßlos überschätzt, sie befänden sich in Wirklichkeit längst auf dem absteigenden Ast. Ob er mit dieser optimistischen Einschätzung Recht hat, wird sich allerdings erst im September zeigen. Schließlich mangelt es nicht an Warnungen, dass sie die anstehenden Wahlen haushoch gewinnen könnten.

Zumindest herrscht auch auf der anderen Seite des politischen Spektrums hektische Aktivität. Unter Führung der sich liberal nennenden Wafd-Partei, die jahrelang ein Schattendasein in Ägypten führte, fand am 31. März eine Konferenz statt, deren erklärtes Ziel darin bestand, eine möglichst breite Koalition aus säkularen Parteien als Gegengewicht zu den Muslimbrüdern ins Leben zu rufen. Verschiedene linke Gruppen haben sich zwischenzeitlich zu einer Popular Alliance zusammengeschlossen und teilen mit, gemeinsam auf einer Liste kandidieren zu wollen.
Die Journalistin Dahlia Fahmy, die die Entwicklung der Parteien nach dem Sturz Mubaraks verfolgt, diagnostiziert eine durchaus positive Entwicklung: Erstmalig seit dem Putsch Gamal Abdel Nassers 1952 formiere sich eine ernst zu nehmende säkulare Opposition und biete alter­native politische Ideen. Und ausgerechnet im früheren staatlichen Verlautbarungsorgan Al Ahram schreibt die Redaktion in einem kämpferischen Editorial, das sich gegen das alte Establishment wie die Muslimbrüder gleichermaßen richtet: »Wir haben das Joch der Unterdrückung abgeschüttelt. Aber unser Sieg wird nicht vollständig sein, so lange wir nicht in einem modernen und säkularen Rechtsstaat leben.«