Über den Roman »The Pale King« von David Foster Wallace

Der Tornado aus dem Finanzamt

Auf den unendlichen Spaß folgt die große Langeweile: Dieser Tage erscheint in den USA der nachgelassene Roman »The Pale King« von David Foster Wallace.

Als der Schriftsteller David Foster Wallace sich im September 2008 mit 46 Jahren das Leben genommen hatte, fand seine Witwe, die Künstlerin Karen Green, mitten auf dem Schreibtisch in der Garage einen sauber aufgeschichteten Stapel Papier. Die rund 200 Seiten bildeten den Kern des Projekts, an dem David Foster Wallace über zehn Jahre gearbeitet hatte und das er selbst – in der leicht befangenen Weise, in der er über sein Schreiben sprach – nur »the Long Thing« nannte. Sein Lektor Michael Pietsch flog nach Kalifornien, sichtete den Stapel und nahm ihn zusammen mit vielen hundert weiteren Manuskript- und Notizseiten in einer großen Reisetasche mit nach New York. Seitdem wartet das ­literarische Amerika gespannt auf das Erscheinen von »The Pale King«, dem dritten und letzten Roman dieses ungewöhnlichen Autors.
Er wünsche sich, so David Foster Wallace in einer Notiz, dass diese Geschichte wie ein Tornado auf den Leser zukomme, mit rasend schnell und unberechenbar herumfliegenden Bruchstücken. Gerade deshalb hat er mit dem Grundton des Romans offenbar bis zur Verzweiflung gekämpft. Dass der Autor Angst hatte, seinem Stoff zwar technisch, aber letztlich menschlich nicht gewachsen zu sein, hat er gegenüber Freunden immer wieder angedeutet, und es gibt nicht wenige, die vermuten, dass dies neben den schweren Depressionen, unter denen David Foster Wallace seit der Pubertät litt, ein Grund für seinen Selbstmord gewesen sein könnte.
Der Verlag hat die Tornado-Notiz glücklicherweise nicht als Freibrief für eine schnelle, gewinnbringende Plünderung des Nachlasses verstanden, sondern den Lektor zwei volle Jahre sortieren und basteln lassen, damit die nun fast 500 Seiten lange Fassung des Romans den Skizzen und Intentionen des Autors, die in der Ausgabe ausführlich dokumentiert sind, möglichst nahe kommt. Im Herbst nächsten Jahres wird diese Fassung auch auf Deutsch zu lesen sein. Einen kleinen Marketing-Coup konnte sich der Verlag dann aber doch nicht verkneifen: Der offizielle Erscheinungstermin ist der 15. April, »Tax Day«, der Tag, an dem die Amerikaner jedes Jahr ihre Einkommensteuererklärung beim Finanzamt abgeben müssen.
Denn in einer Zweigstelle eben dieser Bundessteuerbehörde im Mittleren Westen spielt der Roman. Die Männer und Frauen, die in dem fensterlosen Großraumbüro an langen Tischreihen unter dem Summen einer nicht zu verortenden Klimaanlage die eingehenden Steuererklärungen einer ersten Prüfung unterziehen, müssen, wie Millionen andere Menschen, mit einer Arbeit klarkommen, die aus seelentötenden, niemals endenden Routineverrichtungen besteht, die gerade so schwierig sind, dass sie ihre ganze Konzentration erfordern. Ein Setting, das der Neuling Lane Dean Jr., ein überzeugter Christ und junger Familienvater, nach wenigen Wochen einfach nur noch als Hölle empfindet. Lange Passagen des Romans drehen sich um das quälend langsame Verstreichen der Zeit, um die kleinen Tricksereien (»Erst wieder auf die Uhr gucken, wenn drei Formulare im ›Erledigt‹-Körb­chen liegen!«), um die Fünfminutenpausen, die raren und kargen Gespräche und Beziehungen zwischen den Angestellten. Unterbrochen sind diese Passagen von den Kindheitsgeschichten der zahlreichen Protagonisten, die fast durchgehend entweder von Vernachlässigung und Missbrauch oder von überhöhten elterlichen Erwartungen geprägt sind.
Schon jetzt gilt der Roman als Gegenstück zum Roman »Unendlicher Spaß« von 1996, der auf Deutsch (von Ulrich Blumenbach unfassbar hellhörig und vielstimmig übersetzt) erst vor zwei Jahren erschienen ist. Während es hier um die Unterhaltungsindustrie, um die süchtige Suche nach dem Glück der Zerstreuung geht, handelt »The Pale King« von Langeweile. Doch im Zentrum von beidem, Sucht und Langeweile, steht dasselbe Phänomen: das Ausgeliefertsein an eine machtvolle Objektivität – in Form einer Droge, einer paralysierend-unterhaltsamen Videokassette oder eben des Büroalltags in einer Steuerbehörde – ist geeignet, ganz normale Leute auf das Dasein von Pflanzen zu reduzieren. Was David Foster Wallace auch in vielen seiner Erzählungen beschäftigt, ist, wie Menschen sich gegen die drohende »Gemüsefizierung« (wie eine Figur es einmal nennt) zur Wehr setzen.
Von dieser Gegenwehr zu lesen, löst – vorsichtig gesagt – starke Gefühle aus. Oft muss man vor Entsetzen einfach lachen. Es gibt bei David Foster Wallace viele exzentrische Charaktere, und die meisten von ihnen sind entweder in ihrem Denken oder in ihrem Fühlen oder in beidem ausgesprochen limitiert. Aber der Ex-Junkie, die durch ein Säureattentat entstellte Schauspielerin, der mehr als mehrfach behinderte Kamerajunge, die zahlreichen durchgedrehten Mütter und Sportskanonen, das lexikalische, das optische und das mathematische Genie, der kleine Junge, der versucht, jede einzelne Stelle seines eigenen Körpers zu küssen, der Mann mit der Eitelkeit zweiten Grades, der theoretische Dentist und die Nymphomanin, und eben Lane Dean Jr. und seine Kollegen aus der Steuerbehörde, sie alle sind vom Elend ihrer inneren und äußeren Lebensumstände so sehr gebeutelt, dass sie jede zurückgelehnt-interessierte Distanz zunichte machen. Man bewundert sie schlicht und ergreifend dafür, dass sie überhaupt noch am Leben sind.
David Foster Wallace wollte auf keinen Fall zu den Vertretern eines psychologisch-realistischen Erzählens gehören, die eine Welt, in der »die Leute sechs Stunden am Tag vor der Glotze hocken«, ausblenden, um sich auf das Terrain des »allerinnersten Innenlebens« zu spezialisieren. Und auch nicht zu den pseudokritischen, metafiktionalen Langweilern, die sich hinstellen und sagen: »Ich werde nur noch Geschichten schreiben über Geschichten, die von Schriftstellern geschrieben werden, die über Geschichten schrei­ben.«
Wie keiner vor ihm hat David Foster Wallace erkannt, dass diese beiden Richtungen der Gegenwartsliteratur in ein und derselben Abwehr der Wirklichkeit wurzeln. Wo andere weggucken, glätten, symbolisieren oder ironisieren, fängt er an, genau zu recherchieren und vor allem: hinzuhören. Und so stehen konsequent die unterschiedlichen Sprechweisen, in denen unterschiedliche Menschen reden, leben und denken, im Zentrum seines Schreibens. Das Sprechen in Form von Dialogen, personalem Erzählen und Bewusstseinsströmen ist in David Foster Wallaces Büchern vollgesogen mit Wirklichkeit, es ist das, was die Geschichten relevant und lebendig macht, und es ist trotzdem – unabhängig vom Bildungsstand der Figuren – immer ein Sprechen, das sich seiner selbst in aller Befangenheit bewusst ist.
Wenn z.B. das 17jährige Tennis-Ass Hal, eine Hauptfigur aus »Unendlicher Spaß«, sich aus gegebenem Grund überwunden hat, bei den Anonymen Narkotikern anzuklopfen, klingt das aus der Perspektive der gleichaltrigen, schwer von ihrer eigenen Drogenvergangenheit gezeichneten Schichtleiterin so: »Dieser Jugendliche, der hatte diesen coolen Aluminiumglanz ­eines Mittelschichtsjungen (…) und außerdem die weißesten Nike-Hightops, die Johnette je gesehen hatte, und gebügelte Jeans, richtig so mit Bügelfalte vorn die Mitte runter (…); und in Pats Büro, dessen Tür sie nur anlehnte, setzte Johnette die unauffällig feindselige Miene auf, mit der sie Mittelschichtsjungen ohne Täts und mit allen Zähnen begegnete, die sich außerhalb der NA null für sie interessierten und ihre fehlenden Schneidezähne und die Sicherheitsnadel in der Nase für Zeichen hielten, dass sie was Besseres waren als sie und so, irgendwie.«
Was die Steuerbehörde angeht, so läuft dort übrigens auch jemand herum, der sich für etwas Besseres hält: Es ist der einäugige Geist eines ehemaligen Kollegen, und er riecht nach altmodischem Haarwasser und nach Fastfood vom Chinesen. Mit einer Stirnlampe auf dem Kopf referiert er dem Neuling gewissenhaft die Etymologie des Wortes »Langeweile«. Den Sekundenzeiger kann er dadurch nicht beschleunigen und die Qual des neuen Angestellten nicht verringern. Aber er wurde mit so viel Wärme, so viel Wissen um die literarische Tradi­tion und Gegenwart und mit so viel lebendiger und verzweifelter Albernheit ausgedacht, dass man als Leser weiß: Hier ist ein Autor seinem Gegenstand gewachsen, technisch und menschlich!

David Foster Wallace: The Pale King. Little, Brown and Company, London 2011, 560 Seiten. Erscheint am 15. April