Über die chinesische Atompolitik. Teil 4 einer Serie über die internationalen Atomdebatten

Im Atomlabor kommt Zweifel auf

Die chinesische Regierung plant den Bau Dutzender Atomreaktoren. Doch bereits vor der Katastrophe in Fukushima gab es Kritik, nun soll das Nuklearprogramm »überprüft« werden. Teil 4 einer Serie über die internationalen Debatten zum Thema Atompolitik.

In Hongyanhe in Nordostchina soll kommendes Jahr der erste von sechs Reaktorblöcken mit einer Leistung von jeweils 1 000 Megawatt in Betrieb gehen. Wenn das idyllische Bild auf der Website der Betreiber die Pläne korrekt illustriert, ist ein Damm gegen Tsunamis für das Kraftwerk nicht vorgesehen. Beruhigend für Interessierte dürfte auch nicht unbedingt sein, dass die Region auf seismischen Karten ähnlich wie Fukushima eine mittlere Erdbebengefährdung aufweist.
Vielleicht wird es doch einen Damm geben, denn über Atomkraftwerke, ihre Risiken und die Sicherheitsmaßnahmen wird in China erstmals intensiv diskutiert. Seit Wochen berichten die Medien rund um die Uhr über die Lage in den Re­aktorblöcken von Fukushima, und in den Internetforen gibt es eine lebhafte Debatte.
Bereits in den achtziger Jahren sollte in Hong­yanhe eines der ersten Atomkraftwerke in China errichtet werden. Es kam nicht dazu, weil nach den Unfällen in Three Mile Island und Tschernobyl, über die man in China ausführlich berichtete, der Bau gestoppt wurde. Im Jahr 1995, als wichtige industriepolitische Entscheidungen getroffen wurden, setzte sich Premierminister Li Peng für die Atomenergie und auch für den Reaktorbau in Hongyanhe ein, doch hohe Parteikader aus der Region erwirkten eine neuerliche Absage.
Infolge der Asien-Krise sank der Energiepreis, und China wollte zunächst einmal Erfahrungen bei der Übernahme dieser komplexen Technologie machen. Doch seit 2006 erlebt die chinesische Atomindustrie einen weiteren Aufschwung und hat bedeutende Fortschritte gemacht. Nun war der wirtschaftliche Druck bestimmend und es wurden Reaktoren gebaut.

Die starke Zunahme des Energiebedarfs in den zehn Jahren zuvor hatte zu einzelnen Versorgungsengpässen und Stromausfällen geführt. Überdies war die chinesische Nukleartechnologie billiger geworden – wie im Westen unter den gegebenen Umständen der Auslagerung von Risiken und Folgekosten etwa für die Atommüll­lagerung. Allerdings ist Kohle in China noch immer wesentlich billiger, Windkraft verursacht ähnliche Kosten wie die Atomenergie.
Die chinesische Regierung strebt angesichts der gewaltigen Zunahme des Energieverbrauchs aus Gründen der Versorgungssicherheit eine Diversifizierung an. Alle Formen der Energiegewinnung sollen genutzt werden, nicht nur die Atomenergie. Zudem hofft man nach einer längeren Phase der Technologieentwicklung angesichts der »Renaissance der Kernkraft«, in Zukunft Nukleartechnologie exportieren zu können.
Die Atomenergie wurde in China bislang nur in geringem Ausmaß genutzt, unter anderem weil es im Land nicht sehr viel Uran gibt und schon jetzt ein großer Teil des nuklearen Brennstoffs importiert werden muss. Doch offenbar dämpfte die Erfahrung, dass Rohstoffe sich relativ problemlos im Ausland beschaffen lassen, die Vorbehalte wegen der Importabhängigkeit. Dazu kommt der Druck aus der Klimapolitik, der in China durch die schädlichen Auswirkungen der Kohlekraftwerke auf Luftqualität und Gesundheit verstärkt wird.
Seit 2009 gelten ambitionierte Pläne: Bis 2020 soll die Atomenergie fast auf das zehnfache des heutigen Standes ausgebaut werden. Derzeit sind in China 13 Atomkraftwerke in Betrieb, ihre Kapazität ist mit zehn Gigawatt nicht viel höher als die der Atomanlagen Fukushima 1 und 2 oder aller schwedischen Reaktoren. Die chinesischen Atomkraftwerke erzeugen 1,8 Prozent des Stroms, ein Prozent der Gesamtenergie. Im Bau sind allerdings 27 Reaktoren, und der Fünfjahresplan sieht bis 2015 eine Kapazität von 43 Gigawatt vor, das wären dann drei Prozent der Stromerzeugung.
Noch viel mehr Reaktoren sind in verschiedenen Phasen der Planung, die Angaben darüber differieren, und es gibt offenbar auch unterschiedliche Standpunkte. Zuletzt wurde für das Jahr 2020 eine Leistung von 87 Gigawatt angestrebt, das ergäbe einen Anteil von acht bis zehn Prozent an der Elektrizitätserzeugung. Die Summe der von Firmen und Regionalregierungen gewünschten Atomkraftkapazität ginge sogar über 200 Gigawatt, das 20fache des aktuellen Stands, hinaus. Man erhofft sich diverse Fördermittel und hohe Profitmargen. Im Jahr 2050 könnten Atomkraftwerke 400 Gigawatt erzeugen, doch ist dies noch eine unverbindliche Zahl.
In den USA sind derzeit 104 Atomkraftwerke in Betrieb, im Bau aber ist aber nur eines, in der EU werden vier Reaktoren errichtet. In China gibt es tatsächlich eine »Renaissance der Kernkraft«, doch geht sie von einem minimalen Niveau aus.
Überdies hat eine offizielle Studie der Forschungsabteilung des Staatsrates bereits im Januar für eine Drosselung des Bautempos plädiert. Es fehle an erfahrenen Arbeitskräften, es gebe diverse Engpässe, und die »Risikokultur« sei behutsam zu entwickeln. China solle sich zudem nicht zu sehr auf die zweite Generation der Reaktortechnologie festlegen, sondern sich an den Erfahrungen der dritten Generation orientieren, offenbar auch – dies wurde nicht ausgesprochen –, um die Exportchancen zu erhöhen.

Am 14. März, kurz nach dem Beginn der Katas­trophe in Fukushima, verabschiedete der Volkskongress die Pläne für den Ausbau der Atomenergie. Doch zwei Tage später beschloss die Regierung, alle Reaktoren eingehend zu prüfen und die weiteren Genehmigungen auszusetzen. Diese Reaktion ist vor dem Hintergrund der Diskussion in der Bevölkerung und der Warnung der Forschungsabteilung nicht ganz überraschend, wenngleich die Details der geplanten Maßnahmen bekannt sind. Grundsätzlich wird am Ausbau der Atomkraft festgehalten. Es wird versichert, dass die Reaktoren in China durchweg einen höheren Sicherheitsstandard hätten als jene in Fukushima und dass die Katastrophe in Japan für China keine Gefahr mit sich bringe. Doch unmittelbar nach dem Beben in Japan kam es in vielen Städten zu panikartigen Käufen von jodiertem Salz, Lieferungen aus Japan werden nun auf Radioaktivität getestet.

Auch in China sind viele Fachleute und Politiker schockiert, weil kaum jemand eine Atomkata­strophe in einem Technologieland wie Japan für möglich gehalten hat. Man kann davon ausgehen, dass ein definitiver Ausstieg aus der Atomkraft in Deutschland durchaus eine Wirkung auf die Diskussion in China hätte, denn das Deutschlandbild ist in weiten Kreisen Chinas mit dem Image von verlässlicher Technologie verbunden. Wahrscheinlich wird die Katastrophe in Fukushima diejenigen stärken, die schon zuvor für ein gemäßigtes Ausbautempo plädierten, die Beschleunigung des Atomprogramms könnte in Frage gestellt werden. Allerdings würden zusätz­liche Sicherheitsauflagen auch zu höheren Kosten führen und dadurch den Anreiz zum Ausbau – wie in den achtziger Jahren im Westen – senken.
Da die »Renaissance der Kernkraft« in vielen Ländern in frage gestellt werden dürfte, sinkt auch die Aussicht auf Exporterfolge, damit würde ein weiteres Argument für ein ambitionertes Atomprogramm an Bedeutung verlieren. Angesichts der derzeitigen Diskussion scheint nun vieles wieder möglich. Allerdings haben chinesische und westliche Konzerne ein Interesse am Reaktorbau. Die »Renaissance der Kernkraft« hängt nicht nur deshalb maßgeblich von China ab, weil ansonsten nur Russland und Indien einen Ausbau in ähnlichen Dimensionen planen. Derzeit entwickelt sich China zum Großlabor für die Atomwirtschaft. Viele Technologien werden dort erprobt. So realisiert der US-Konzern Westinghouse in China das derzeit einzige Projekt seines Reaktors der dritten Generation, und auch für die künftige chinesische Planung und die Exportstrategie ist dieses sehr teure Projekt zentral. China hat aber auch größere Projekte mit Firmen aus Frankreich, Kanada, Russland und Japan vereinbart.
Um künftig ein marktführender Exporteur zu werden, will China die gesamte Bandbreite der Atomtechnologie inklusive der Brennelementeproduktion und der besonders heiklen Wiederaufbereitungs- und Bruttechnik weiterentwickeln. Damit soll auch der Mangel an Uranlagerstätten im eigenen Land kompensiert werden. Die gefährlichen Anlagen der Plutoniumwirtschaft würden wohl in dicht besiedelten Gebieten errichtet werden. Weit abgelegene Orte im Westen Chinas zu wählen, brächte Transportprobleme mit sich. Über die Proteste gegen Castor-Transporte wird in den chinesischen Medien immer wieder berichtet. Über das Problem der Endlagerung hingegen wurde bislang in China nicht diskutiert.
Bisher wurde nur über einzelne Orte für Atomanlagen öffentlich diskutiert. Man folgte meist der Argumentation, dass es angesichts des Klimawandels und der Luftverschmutzung einer Alternative zu Kohlekraftwerken bedürfe. Die ­Sinologin Eva Sternfeld berichtet, dass es in China nicht eine einzige NGO gibt, »die sich explizit mit der Atomenergie auseinandersetzt bzw. in der Lage wäre, die Bedenken öffentlich zu äußern«.
Eine Ausnahme waren die Ereignisse rund um das Atomkraftwerk Daya Bay nahe der Industriestadt Shenzhen, nur 55 Kilometer nördlich von Hongkong. Vor dem Bau in den neunziger Jahren unterschrieben in Hongkong eine Million Menschen eine Petition gegen diese Anlage. Nach einem Störfall im Mai vorigen Jahres kam es wieder zu Debatten über die Sicherheit des Reaktors. Diese Vorkommnisse regten die Debatten jenseits der Grenzen Hongkongs an. In Shandong gab es in den vergangenen Jahren eine erfolgreiche Kampagne gegen den Standort Rushan.

Im Internet werden viele Diskussionen geführt, die an Fukushima anknüpfen. Im sozialen Netzwerk QQ, das Facebook ähnlich ist, gibt es eine Gruppe, in der über die Bedrohung durch das Atomkraftwerk Xinyang in der Provinz Henan in Zentralchina diskutiert wird. Die vorwiegenden Themen sind hier eine mögliche Vergiftung des Grundwassers durch Lecks sowie eine potenti­elle Gefährdung des lokalen Marktes für Tee in dieser landwirtschaftlich genutzten Region.
Weiterhin steht die unmittelbare Gefährdung im persönlichen Umfeld im Mittelpunkt des ­öffentlichen Interesses. »Wenn es hier irgendein Leck gäbe, wüssten wir nicht, was zu tun wäre«, wird ein Bauer namens Wang, dessen Dorf unmittelbar neben dem Reaktor Qinshan in der Provinz Zhejiang liegt, von der Washington Post zitiert. Kritisiert werden lokale Regierungen, da Reaktoren zu nahe an menschlichen Siedlungen stünden und auf Sicherheitsvorkehrungen sowie eine Aufklärung der Bevölkerung verzichtet werde. Zudem werden ausbleibende Kontrollen und fehlendes Fachpersonal bemängelt.
In China sind im Energiesektor staatliche oder weitgehend unter staatlichem Einfluss stehende Firmen tätig. Es gibt kaum Probleme mit privaten Eigentümern wie in Japan, allerdings kann die Korruption fatale Folgen haben. Viele Fragen zu den Sicherheitskontrollen sind nicht geklärt, dies wird sich nun bei der Überprüfung des Atomprogramms wahrscheinlich ändern. Dennoch wird es in der Öffentlichkeit weitere kritische Debatten über die Energiepolitik geben.