Eine Reportage über die Situation in Lampedusa

Die Insel der Verdammten

Rund 22000 Migranten aus Tunesien sind bisher auf der italienischen Mittelmeer-Insel Lampedusa gelandet. Die italienische Regierung zögerte lange, bis sie einen Teil der Menschen auf das Festland ziehen ließ – und provozierte damit einen humanitären Notstand. Eine Reportage vom italienischen Ende der Europäischen Union.

»C’est une catastrophe«, sagt Moqtar. Mohammed und Riadh stimmen ihm zu. Dasselbe denken vermutlich die Tausende Tunesier, die an der Mole auf Pappkartons hocken. Seit Tagen schlafen sie unter freiem Himmel, essen auf dem Boden und warten.
Diese Migranten sind weder Asylsuchende noch die Kriegsflüchtlinge, die der italienische Innenminister Roberto Maroni nach Beginn des Bürgerkriegs in Libyen erwartet hatte, als er von einem »menschlichen Tsunami« sprach. Die meisten von ihnen sind jung, männlich und kommen aus Tunesien. Bevor sie in die überfüllten und klapprigen Boote Richtung Lampedusa stiegen, dachten viele von ihnen, dass die 20stündige Fahrt über das Mittelmeer der schwierigste und gefährlichste Teil ihrer Reise nach Italien sein würde. Aber sie irrten sich. Denn die wirkliche Katastrophe für sie beginnt in dem Moment, in dem sie an der Stazione marittima von Lampedusa an Land gehen.
Mehr als 5000 Menschen kamen in den vergangenen Wochen aus Nordafrika nach Lampedusa, jeden Tag treffen Menschen aus Tunesien ein. Mittlerweile wurden viele der Migranten aus Lampedusa abtransportiert – etwa nach Sizilien oder Apulien. In einer Anlage in Mineo auf Sizilien, wo Asylsuchende untergebracht werden sollten, werden seit einigen Tagen auch Tunesier eingesperrt. Viele versuchen, durch die Absperrungen zu fliehen, einigen gelingt das, sie wollen nach Frankreich, Belgien oder Deutschland, wo Freunde und Verwandte auf sie warten. Sie fliehen auch aus dem Zeltlager in Manduria, Apulien, das auf dem eingezäunten Gelände eines ehemaligen Militärflughafens liegt.
Doch lange zögerte das italienische Innenministerium den Transport der Flüchtlinge von Lampedusa aufs Festland hinaus, und provozierte damit einen humanitären Notstand auf der Insel. In den vergangenen Wochen drohte die Situation dort zu eskalieren. Vor allem nachdem sich das Gerücht verbreitet hatte, die Insel könne wegen des hohen Epidemierisikos unter Quarantäne gestellt werden. Die Bewohnerinnen und Bewohner rebellierten, sie zündeten Mülltonnen an und blockierten den Hafen.
Besondere Zusammenstöße zwischen der Bevölkerung und den Migranten sind allerdings erstaunlicherweise nicht zu vermelden. Im Gegenteil. Oft bekommen die Migranten ihren Espresso billiger in den Bars der Insel, am Abend verteilen einige Betreiber der Imbissläden die unverkauften Gerichte am Hafen, und die Fischer verschenken den Fisch, den sie nicht verkaufen können, an die Tunesier, die auf dem Hügel oberhalb des Hafens eine Küche unter freiem Himmel errichtet haben.
Von den rund 22000 jungen Menschen aus Tunesien haben nur die wenigen, die bereits zu Beginn der Revolte vor der Polizei Ben Alis geflüchtet waren, einen Asylantrag gestellt, die anderen nicht. Sie kommen aus dem Süden des Landes, aus Städten wie Sfax, Kef, Tatawin, Djerba, Zarsis und Mednin, und sitzen jetzt hier fest. Es ist paradox. Wer hier nach einer Überfahrt von rund 20 Stunden hungrig und durstig, aber lebend ankommt, sieht frischer aus als diejenigen, die seit Tagen auf der Insel festsitzen.

Bevor sie sich auf der Suche nach einem Schlafplatz für die Nacht machen, gehen Moqtar und Aziz zum Wassertank, sie wollen Hose und Socken waschen. Sie haben Glück, es gibt noch Wasser. Häufig ist kein Wasser mehr da, und dann muss man zu Fuß bis zur via Roma gehen, um in einer Bar eine Flasche Mineralwasser zu kaufen. Jedem stehen hier drei Liter Wasser täglich zu, eine Flasche zum Mittag-, eine Flasche zum Abendessen. Moqtar versucht, witzig zu sein: »Es ist das erste Mal, dass ich meine Wäsche selbst wasche. Bisher hat das meine Mutter gemacht.«
Er ist zusammen mit Aziz Ende März gekommen, auf ihrem Boot waren 58 Menschen. Mehr als eine Woche nach ihrer Ankunft warten sie immer noch darauf, ins Aufnahmezentrum von Contrada Imbriacola verlegt zu werden. Sie hoffen, dort wenigstens duschen zu können und einen trockenen Schlafplatz zu finden. Das Aufnahmezentrum ist das Hauptziel aller Tunesier, die in Lampedusa ankommen. Jeder hier weiß: Wenn man es einmal in das Aufnahmezentrum geschafft hat und einem Fingerabdrücke abgenommen werden, heißt das, dass man bald in ein Flugzeug oder ein Schiff nach Apulien steigen darf und dass die Reise dann endlich weitergeht.
Wenn ein Boot Lampedusa erreicht, regis­triert die Polizei die Zahl der Personen, die mit ihm angekommen sind. Sie tragen in einer Liste die Namen, das Alter und das Ankunftsdatum der Migranten ein und stellen den Ankommenden eine Karte aus. Dieser mickrige, handgeschriebene Ausweis wird für die Menschen hier zu einem sehr wichtigen Papier, denn allein nach dem Ankunftsdatum wird entschieden, wann man ins Zentrum verlegt wird.
In der Regel landet die Karte in der Hand des »Chefs« des jeweiligen Bootes. Die Migrantengruppen sind streng organisiert: Einer verwaltet die Karten und zeigt sie der Polizei, sobald die Migranten ins Aufnahmezentrum transportiert werden können. Manche versuchen zu schummeln, sie mischen sich in »fremde« Gruppen, um früher ins Aufnahmezentrum zu gelangen. Doch da kontrolliert die italienische Polizei sehr penibel: Wenn mit einem Boot 58 Menschen angekommen sind, dann werden auch 58 abtransportiert – keiner mehr und keiner weniger.
Tagsüber ist der Hafen voller junger tunesischer Migranten. Weil die einzige öffentliche Toilette hier eine kleine Höhle in den Felsen ist, ist der Gestank fast unerträglich. Hunderte von Menschen kommen und gehen, doch die Gruppen, die bald mit dem Transfer an der Reihe sind, hocken dicht aneinander, ähnlich wie während der Überfahrt, an bestimmten Stellen. Mit Seilen und Lappen markieren sie Absperrungen, damit sich keine »Fremde« in ihre Gruppen einschleusen. So verbringen sie ganze Nachmittage, sie holen sich weder das Mittag- noch das Abendessen, um ja nicht den Shuttle-Bus zum Zentrum zu verpassen – der so gut wie nie kommt.

Viele Menschen hier wurden schon einmal aus Italien nach Tunesien abgeschoben und versuchen es wieder. Andere, wie Ezzedeni, haben es häufig versucht: »21 Mal bin ich in Zarzis in ein Boot Richtung Italien gestiegen, 21 Mal hat mich die tunesische Küstenwache wieder zurückgebracht.« Dieses Mal hat es geklappt. Auch Moqtar gehört zur selben Gruppe. Er ist 27 und hat ein naturwissenschaftliches Diplom. »In Gabès habe ich als Maurer gearbeitet«, erzählt er, »es gab 20 Euro pro Tag. Ein Jahr lang habe ich dann in Libyen gearbeitet.« Als der Krieg begann, floh er zurück nach Tunesien und wurde wieder arbeitslos. »Drei Tage lang saß ich am Flughafen von Tripolis fest, ich habe weder gegessen noch geschlafen.« In Lampedusa ist es nicht anders. Nur herrscht hier kein Bürgerkrieg.
Die Polizei, die Küstenwache und das medizinische Personal hier arbeiten fast ohne Pause, sie haben keine Antworten auf die vielen Fragen, die ihnen von den Reportern aus aller Welt gestellt werden. Sie können das Desaster auf Lampedusa nicht erklären, und sie schämen sich offenbar dafür. Die Inselbewohner haben sich gegen den Vorschlag der Regierung gewehrt, ein Zeltlager auf Lampedusa zu errichten, sie wollten nicht, dass die Insel, die eigentlich vom Tourismus lebt, in ein dauerhaftes Aufnahmezentrum verwandelt wird. Der Bürgermeister von Lampedusa wollte auch den Katastrophenschutz nicht auf der Insel haben. Die Verwaltung des Notstands sollte in der Hand von Lampedusa Accoglienza bleiben, dem Trägerverein des Aufnahmezentrums, das derzeit 150 Menschen beschäftigt. Es geht um Arbeitsplätze für die Einheimischen. Und um Geld. Denn für jeden Migranten, der im Zentrum untergebracht wird, gibt es 30 Euro vom Staat.
Die Köche des Zentrums bereiten das Essen für die Insassen und für die 3 000 bis 4 000 Tunesier, die am Hafen campieren. Zweimal am Tag werden die Rationen zum Hafen gefahren, sie werden mit zwei Flaschen Mineralwasser und einer Zehnerpackung Zigaretten unter den Menschen verteilt. Mehr gibt es nicht. Der erste LKW mit Kleidung und Decken kam von der Caritas Anfang April, als die Nächte bereits etwas milder geworden waren. Abends wird das Essen im Dunkeln verteilt. Manchmal ist es die Polizei, die die Scheinwerfer der Mannschaftswagen anmacht, um für ein wenig Licht zu sorgen.
Die Stimmung unter den Tunesiern ist angespannt, immer wieder wird protestiert, einige beginnen einen Hungerstreik. Nicht selten kommt es unter ihnen zum Streit um einen Schlafplatz im Hafengebäude. Manchmal gibt es Prügeleien, einige bewaffnen sich mit Holzstöcken, und es gibt viele, die danach medizinisch behandelt werden müssen. Die Polizei fürchtet, dass es bald zu einer Revolte und so zu einer noch größeren Katastrophe kommen könnte.
Viele der Tunesier versichern, dass sie noch nie ein solches Elend erlebt hätten. Sie hoffen, dass es ihnen in Frankreich, Deutschland oder in Nordeuropa besser gehen wird. Aber nicht für alle ist Italien ein Transitland, Moqtar möchte hier bleiben. Er zeigt das Italienisch-Zeugnis, das ihm von der Sprachschule »Dante Alighieri« in Tunis ausgestellt wurde. Aber er sagt: »Wenn ich gewusst hätte, was mich hier erwartet, wäre ich nicht gekommen.«