Peter Brötzmann im Gespräch über Free-Jazz als musikalischen Umsturz

»Sollen sie ihren Scheiß weiterhören, den sie immer hören«

Ein Gespräch mit dem Free-Jazz-Pionier Peter Brötzmann über Zorn in der Jugend, Milde im Alter, die Bedeutung von Louis Arm­strong und über seinen verstorbenen Freund Peter Kowald

Der ungarische Jazzgitarrist Attila Zoller hat mal gesagt: »Wenn ich Peter Brötzmann höre, habe ich das Gefühl, dass ich alles kaputtschlagen müsste.«
Ein Zitat von ihm aus den sechziger Jahren. Das hat er gesagt, aber Attila war ein freundlicher Mensch, und wir sind in seinen New Yorker Tagen noch Freunde geworden. Ja, damals war’s eben so mit der Musik. Selbst für meine heutigen Kollegen war es immer wieder belustigend, wenn mein Freund und Musikerkollege Peter Kowald und ich irgendwo auftauchten.
Haben Sie den Spruch als Kompliment aufgefasst oder eher als Affront?
Das war damals sehr interessant. Die etablierten deutschsprachigen Kollegen nahmen uns überhaupt nicht ernst, insofern verstehe ich das Zitat. Es war auch ein Kompliment, denn darum ging’s uns ja. Die damalige Musik stagnierte, da musste man auch kaputtschlagen, was wir dann auch getan haben. Es war eine Phase und erübrigte sich nach einer gewissen Zeit. Es war aber erst mal notwendig, diese ganzen Gesetzmäßigkeiten der Jazzmusik damals kaputtzuhauen – für uns auf jeden Fall. Es gab auch sehr ähnliche Bewegungen in den Staaten, die natürlich andere Hintergründe hatten.
Was macht Free Jazz aus, was ist wesentlich?
Wichtig sind Sachen, die immer schon im Jazz Bedeutung hatten, die soziale Frage etwa. Die Art und Weise, wie Jazzmusiker miteinander arbeiten, ist immer noch die kommunikativste, die es gibt, weil tatsächlich jeder gleichberechtigt ist. Wichtig ist aber auch die Kommunikation mit dem Publikum …
… die ja eher schwierig ist.
Schwierig geworden ist, in Deutschland zumindest. Es gibt seit Jahren hier immer weniger Auftrittsmöglichkeiten, immer weniger Clubs. Für Kowald und mich war es immer sehr erfrischend, in den Staaten zu spielen. Das Publikum dort ist jung, sehr gut informiert und offen, gerade auch für europäische Musik. Es gibt z.B. Neuauflagen unserer alten Schallplatten, und einen Austausch, den ich hier seit langem vermisse.
Warum ist es so erstrebenswert, die Strukturen und Regeln des traditionellen Jazz zu brechen, so wie es der Free Jazz macht?
Das musste damals einfach weg. Kowald und ich, das nannte man dann ja auch später die Wuppertaler Schule, wir haben es sehr extrem getrieben. Selbst Kollegen waren damals äußerst skeptisch. Die haben erst mal geguckt, was da so kommt. Als dann amerikanische Musiker wie Don Cherry oder Carla Bley Kowald und mich eingeladen hatten, nahmen uns auch die anderen Herrschaften ein bisschen ernster. Na ja, solche Umwege gibt’s eben. Auch wir sind natürlich nach einiger Zeit zu dem Punkt gekommen, dass wir dachten, so geht’s doch nicht immer weiter bei uns. Auch wir hatten uns festgefahren. Ich habe dann immer versucht, mich woanders zu orientieren. Ob in Amerika oder mit Rockmusikern. Ich habe in den Achtzigern mit Bill Laswell die Band Last Exit gemacht, dort kamen Einflüsse von Rock, Blues, Jazz und Free Jazz zusammen. Gut, inzwischen sehe ich unsere kleine Revolution von damals etwas relaxter. Aber damals musste das sein, weil wir Neuland erreichen wollten, auch für uns selbst. Und selbst ich habe mit der Zeit gelernt, dass es keine künstlerische Äußerung gibt ohne Struktur, ohne Anfang und Ende. Trotzdem finde ich es wichtig, keine Modelle zu benutzen, die schon immer vorhanden waren, die einem von anderen erzählt oder sogar aufgezwungen werden. Aber wenn man arbeiten will, macht man sich eben seine eigenen Regeln. Unsere Musik ist genauso wenig oder genau so frei wie die Musik zu Louis Armstrongs Zeiten.
Das sehen Sie heute so? Früher hätten Sie ­sicherlich etwas anderes gesagt.
Das habe ich mit Sicherheit anders gesehen, klar. Aber jetzt, im Rückblick auf 40 Jahre, komme ich schon zu anderen Einsichten, das ist einfach so …
… sehr interessant, oder?
Das ist manchmal sogar ganz spaßig. Ich arbeite viel mit jungen Musikern, vor allem in den Staaten. Denen muss ich raten, mal wieder ­Louis Armstrong zu hören. Also genau die Musik, die wir damals nicht mehr hören wollten. Aber da kommen wir wieder zum Anfang unseres Gespräches zurück: Kommunikation ist im Jazz einfach das Wichtigste. In dieser Musik passieren so viel irre Dinge, da können sich viele von den heutigen Improvisatoren, von den Neutönern und Free Jazzern, durchaus eine Scheibe abschneiden.
Was kam nach dem musikalischen Befreiungsschlag damals, was trat nach dem Kaputtschlagen zutage?
Das sind keine speziellen Momente, das sind langwierige Entwicklungen. Natürlich haben wir manchmal nach einem Konzert gedacht, okay, das war’s, jetzt sind wir der Sache schon ein Stück näher gekommen. Oft genug ist es aber auch im Niemandsland geendet, im Tal, aus dem wir dann mit viel Arbeit wieder rausmussten.
Der französische Jazzkritiker Alain Gerber hat seine Empfindungen beim Hören der Musik des Free Jazzers Albert Ayler so beschrieben: »Ich war zerrissen, ausgelaugt, es ging mir schlecht, ich hatte Lust, mit den Zähnen zu knirschen. Aber zur gleichen Zeit überkam mich eine ungeheuere Freude.« Was entgegnen Sie Menschen, denen Ihr Sound einfach zu stressig ist?
Gar nichts. Sollen sie ihren Scheiß weiterhören, den sie immer hören. Entweder entwickeln sie ein Gefühl dafür, dass da etwas passiert, das sie sonst nicht hören, etwas, das sie berührt und interessiert. Oder eben nicht.
Gibt es überhaupt Menschen, die sich Free-Jazz-Platten entspannt auf dem Sofa anhören, oder ist das nicht vielmehr eine Live-Geschichte?
Natürlich ist es live einfacher, Zugang zu einer Musik zu bekommen. Trotzdem kann man den Free Jazz nicht über einen Kamm scheren, seine Bandbreite ist sehr groß. Da gibt es mit Sicherheit auch Sachen, bei denen man ruhig sitzen kann und sich einfach freut. Trotzdem ist das nicht mein Ansatz. Klar freue ich mich, wenn Leute im Publikum sich über Free Jazz freuen, und das gelingt mir auch. Trotzdem geht es ja auch darum, dass sich das Leben in der Musik niederschlägt. Wenn ich an die vielen Tausend denke, die täglich in Afrika an Aids sterben, an Israel und Palästina denke, das kann ich nicht einfach zur Seite schieben und nette Musik machen. Das muss man verarbeiten. Deshalb ist Free Jazz nicht unbedingt eine Musik, bei der man auf dem Sofa sitzt und nur Spaß haben kann.
Also böse Musik zu einer bösen Welt, wie es die Band Napalm Death mal gesagt hat?
Das wäre ein bisschen zu simpel formuliert. Aber dass bestimmte Erlebnisse irgendwo in deinen Eingeweiden sitzen, damit muss man leben. Und das schlägt sich auch in deiner Arbeit nieder.
Free Jazz war in den Sechzigern ein Angriff auf Hörgewohnheiten, gleichzeitig auf die Macht im Jazz und dessen Regeln. Kann man diesen musikalischen Umsturz nur im Zusammenhang mit der politischen und ­gesellschaftlichen Revolte dieser Zeit verstehen?
Für uns in Deutschland war das ein ganz wichtiger Faktor. Als wir – damit meine ich immer Kowald und mich – anfingen, unseren Weg zu gehen, gab es 1964 in New York die so genannte Oktoberrevolution. Ältere Herrschaften, Kämpfer gegen Rassismus wie Charlie Mingus, Eric Dolphy und Cecil Taylor, hatten sich zusammengeschlossen. Wegen des alltäglichen Rassismus, der ihnen widerfuhr, und des bevorstehenden Vietnam-Kriegs dachten sie wie wir. Mit schwarzer Musik wie dem Swing verdienten Weiße wieder mal eine Menge Geld, während die Schwarzen wieder mal in der Scheiße saßen. Wir Free Jazzer machen elitäre Musik, das ist keine Frage, Musik, die nicht zu vermarkten ist. Das bedeutet einen Kampf ums Überleben. Deshalb ist der freie Jazz auch nicht totzukriegen.
Dann war Ihr Song »Machine Gun« von 1968 eine Reaktion auf die Grausamkeiten des ­Vietnam-Kriegs?
Nein, dieser Titel führt immer wieder zu Missverständnissen. »Machine Gun« war ein Spitzname, den Don Cherry, der Vater von Neneh Cherry, mir gegeben hatte, weil ich so viel Stakkato gespielt habe, so viel brutales Zeug. Inhaltlich hatte der Song mit Vietnam zu tun, aber auch mit unserer deutschen Nachkriegsgeschichte. Genauer: mit der Generation unserer Väter.
Sie haben Anfang der sechziger Jahre Peter Kowald in Ihre Band geholt. Warum?
Ich bin Ende der fünfziger Jahre nach Wuppertal gekommen, mit achtzehn. Ich suchte jemanden, mit dem ich etwas ausprobieren konnte. Irgendjemand sagte mir, ruf mal den Peter an. Der machte gerade sein Abitur, spielte noch Tuba. Dann hat er sich einen Kontrabass besorgt. In dem Wuppertaler Club in der Aderstraße, direkt hinter dem Hauptbahnhof, haben wir dann die nächsten 15 Jahre zusammen verbracht. Mit diversen Gastmusikern. Kowald und ich waren aber die Figuren, die immer da waren, die immer weitergemacht haben. Man kann sagen, dass wir die ersten 15 Jahre unserer Karriere gemeinsam verbracht haben. Für Mutter Kowald war ich immer der Bösewicht, weil ich ihren Sohn von der Milch zum Bier verführt habe. Dann gab’s auf einmal Frauen und Peter hing oft bei uns rum und vernachlässigte sein Studium. Ja, das war schon eine äußerst intensive Freundschaft und Zusammenarbeit.
Was waren Kowalds Stärken, seine Qualitäten? Woran erinnern sich die Menschen mit Freude?
Da müsste man vielleicht mal die Damen fragen. Was übrig bleibt, ist sicherlich, dass er das Bassspielen etwas revolutioniert hat. Im Endeffekt ging es uns immer um die Musik, wir hatten unsere eigene Plattenfirma Free Music Production. Zu Kowalds Beerdigung konnte ich nicht kommen, weil ich in Schweden eine Ausstellung eröffnet hatte. An dem Tag und zu der Stunde, als Kowald hier in Wuppertal unter die Erde gebracht wurde, habe ich verrückterweise eine Testpressung bekommen, die wir 1967 mit einem schwedischen Trommler beim Stockholmer Rundfunk eingespielt haben.
Spielen, ohne Noten lesen zu können, die radikale Ablehnung vorgegebener Strukturen, die geplante Provokation. Das gilt für Free Jazz, aber auch für Punk.
Ja, es gibt aus den achtziger Jahren noch ein Zitat von den Sex Pistols, in dem mein Freund und Musikerkollege Han Bennink und ich als die ersten Punks bezeichnet worden sind. Es gab da viele Parallelen, bloß die Punks hatten diese Wirkung nach außen. Und da wirst du schnell aufgefressen von der Industrie, und dann ist es auch schon wieder vorbei. Wir bewegen uns da immer noch am äußersten Rand, und deshalb ist der Free Jazz für die großen Plattenfirmen uninteressant. Was die Haltung betrifft, gab es mit den Punks in den Siebzigern eine große Ähnlichkeit.