Bin abgetaucht

Wenn ein Serienmörder gefasst wird, liest man meist einige Tage später die Aussagen der Nachbarn in der Zeitung: »Das hätte ich ja nicht gedacht. Er war so ein netter, höflicher Mann.« Nach dem Tod Ussama bin Ladens wird das schon deshalb nicht der Fall sein, weil seine Nachbarn in Abbottabad, überwiegend pensionierte Generäle, großen Wert auf Diskretion legen. Überdies ist bin Laden wohl selten Brötchenholen gegangen. Dennoch sind angesichts der Tatsache, dass der meistgesuchte Mann der Welt sich vermutlich jahrelang in einem gesicherten Bereich in unmittelbarer Nähe einer Militärakademie aufhielt, Zweifel am Ermittlungseifer der pakistanischen Behörden aufgekommen.
Man hätte bin Laden eher in einer Hütte in der unzugänglichen Bergregion nahe Afghanistan vermutet. Doch für den Multimillionär und Gründer eines globalen Franchise-Unternehmens war ein Domizil in Abbottabad, der vornehmen »Stadt der Pinien«, ein standesgemäßerer Wohnsitz. Auch ein Leben in der Nachbarschaft von Pensionären war passend, denn der 54jährige war im Grunde ein Frührentner. Seit Jahren war er nicht mehr CEO, sondern nur noch Ehrenvorsitzender von al-Qaida. Man kann seinen Aufenthalt in Abbottabad wohl als Fortsetzung der public-private partnership betrachten, ohne die al-Qaida nie so erfolgreich geworden wäre. Mit seinen Nachbarn hätte bin Laden über die gute alte Zeit plaudern können, als man gemeinsam in Afghanistan gegen die gottlosen Bolschewisten kämpfte und von den trotteligen Amerikaner mit Dollars überschüttet wurde, obwohl man nie verbarg, wie sehr man sie hasste. Die pakistanischen Generäle wollen weiterhin überschüttet werden, dafür muss man auch mal einen Nachbarn opfern. Andere Partner, etwa in Saudi-Arabien und dem Sudan, hatten die Geschäftsbeziehungen bereits früher aufgekündigt. Daraufhin machte bin Laden aus dem Terrorismus eine globale Eventkultur mit großer Anziehungskraft für am Morden interessierte Männer, denen Charles Manson zu freakig und Hannibal Lecter zu intellektuell ist. Doch die Manager lokaler Tochterfirmen, die ebenfalls Talent beim Massenmord bewiesen hatten, waren immer weniger bereit, sich unterzuordnen. Bin Laden wurde zum elder jihadman, er trug seiner neuen Rolle durch einen Wechsel der Dienstkleidung Rechnung. Die Kalaschnikow, einst ein unverzichtbares Requisit bei seinen Videoansprachen, verschwand, und den Tarnanzug ersetzte er durch Gewänder, die ihn als muslimischen Würdenträger ausweisen sollten. Er versuchte sich sogar als Poet: »Ein Jüngling, lächelnd stürzt er sich in den Rauch des Krieges/Er stürmt voran, färbt rot die Spitze seiner Lanze.« Man hätte auch nicht erwartet, dass er Gedichte über die Liebe oder die Blumenpracht im Frühling schreibt. Nachdem er auf See bestattet wurde, könnte man zurückdichten: »Nun ist Ussama bei den Fischen/in seinem Haus muss man aufwischen.«