Eszter Jovánovics im Gespräch über die Bürgerwehren gegen Roma in Ungarn

»Der Staat trägt die Verantwortung«

Im ungarischen Dorf Gyöngyöspata bedrohen rechtsextreme Paramilitärs seit Wochen die dort lebenden Roma. Am Dienstag voriger Woche kam es daraufhin zu einer Massenschlägerei mit vier Verletzten. Die Rechtsextremen spielen sich in Gyöngyöspata als Ordnungsmacht auf, kontrollieren die Roma und warfen Steine auf ihre Häuser (Jungle World 14/2011). Weil die rechtsextreme parami­litärische Gruppe Vederö (Wehrtruppe) die Einrichtung eines Ausbildungscamps mit Schusswaffen angekündigt hatte, verließ die Mehrheit der lokalen Roma über Ostern zeitweilig mit Bussen des Roten Kreuzes das Dorf. Die Jungle World sprach mit der Anwältin Eszter Jovánovics. Sie koordiniert das Roma-Programm der Organisation TASZ, die sich für Bürgerrechte einsetzt und in Gyöngyöspata die Lage beobachtet.

Nachdem rechtsextreme Milizen die Roma in Gyöngyöspata sechs Wochen lang terrorisiert hatten, gab es nun Verletzte. Wie konnte es so weit kommen?
Die Regierung und die Polizei haben diese Leute gewähren lassen. Aus unserer Sicht tragen die staatlichen Behörden die Verantwortung dafür, dass die Lage weiter eskalieren konnte. Denn es war absehbar, dass es zu Gewalt kommen würde, wenn niemand diese Leute stoppt. Wäre bei jenem Vorfall genug Polizei vor Ort gewesen, hätte nichts passieren können.
Auch einzelne Roma aus dem Ort haben sich mit Gewalt zur Wehr gesetzt. Spielen sie damit den Provokateuren nicht in die Hände?
Ja, wohl schon. Aber die Roma sind sechs Wochen lang provoziert und bedroht worden. Da sollte man nicht die perfekte Selbstkontrolle erwarten. Der Grund für die Gewalt liegt bei den Provokateuren.
Wie ist es möglich, dass ein paar Dutzend militante Rechtsextreme die Polizei daran hindern können, den Bewohnern von Gyöngyöspata Sicherheit zu garantieren?
Es erscheint uns eher so, als sei die Polizei selbst nicht in der Lage gewesen, angemessen zu handeln. Ihre Befugnisse zum Eingreifen waren ihnen nicht bekannt. TASZ und andere Gruppen haben auch gegenüber der Polizei klar zum Ausdruck gebracht, dass diese Leute hätten verhaftet werden können. Denn Gewalt und auch die Androhung von Gewalt gegenüber Mitgliedern einer Minderheit ist strafbar. Das gilt in Ungarn als hate crime. Aber nichts ist geschehen.
Im März erweckten die Rechtsextremen mit ihrem Auftreten große Sympathien im Dorf – wie hat sich das entwickelt?
Über Wochen hinweg hat, wie zu erwarten war, niemand aus dem Dorf gegen die Rechten protestiert. Die Vorurteile gegenüber Roma sind in Ungarn exorbitant. Es ist nicht nur eine Sache der Rechten, 80 bis 90 Prozent der Bevölkerung haben Aversionen gegenüber Roma – stärkere oder schwächere. Wer Roma zum Sündenbock macht, macht sich selbst populär.
Es gibt Gerüchte, der Anführer der Vederö, Tamas Eszes, wolle als Bürgermeister kandidieren.
Das sagte er ungarischen Medien, nachdem der bisherige parteilose Bürgermeister zurückgetreten war. Der bisherige Bürgermeister bekam die Lage nicht in den Griff, begründete seinen Rücktritt aber mit gesundheitlichen Problemen. Nach Schätzungen ist es sehr wahrscheinlich, dass nach einer Neuwahl die rechts-militante Partei Jobbik den Bürgermeister stellen kann.
Wie gestaltet sich unterdessen der Alltag für die Roma?
Sie leben in großer Angst und sind völlig deprimiert. Viele haben das Dorf inzwischen mehrere Male verlassen, aber die meisten von ihnen sind momentan wieder zurück. Die Männer bleiben aus Furcht um ihre Familien zu Hause und gehen nicht zur Arbeit. Viele Roma überlegen, ob sie das Land oder das Dorf verlassen sollten. Es herrscht ein Gefühl absoluter Unsicherheit. Unterdessen kündigen die rechten Gruppen weitere Aktionen an: von Grillen bis Marschieren.
Die Vederö hat in der Nachbarschaft der Roma Land gekauft. Wie wird sich die Situation für die Roma in Gyöngyöspata dadurch ändern?
Nur deshalb war es ihnen möglich, die Errichtung eines Militärcamps in der direkten Nachbarschaft der Roma anzukündigen. Tamas Eszes hat einem Anwohner ein Gelände am Hang unmittelbar oberhalb der Häuser der Roma abgekauft – für einen Forint (das entspricht umgerechnet 0,4 Euro-Cent). Das macht die Lage der Roma völlig aussichtslos.
Neben der Vederö und dem Bürgerwehrverein »Szebb Jövöert« (Schönere Zukunft) sind im Dorf auch die sogenannten Betyaren mit Axt und Peitsche aufgetreten. Wie sind diese verschiedenen rechtsextremen Gruppen miteinander verbunden?
Das sind eher informelle Beziehungen. Die verschiedenen kleineren Gruppen sind nach dem Verbot der Ungarischen Garde entstanden. Auch der Bürgerwehrverein Szebb Jövöert ist sehr offensichtlich mit der Jobbik vernetzt: Parlamentsabgeordnete der Jobbik sind zugleich Mitglieder jener Bürgerwehr, Gergely Ruby zum Beispiel. In Gyöngyöspata scheinen sie zusammenzuarbeiten, aber das ist nicht mehr als eine Annahme.
Über Ostern verließen viele Roma das Dorf. Das Rote Kreuz sprach danach von einem »Ausflug« der Roma und dementierte, dass es sich um eine Evakuierung gehandelt habe. Verschleiert das Rote Kreuz hier die Folgen des Antiziganismus?
In einem ersten Interview sprach das Rote Kreuz von einer Evakuierung. Erst später wurde dann von einem »Ausflug« geredet. Der Grund, warum das Rote Kreuz eingriff, war eindeutig das geplante paramilitärische Übungscamp. Die Evakuierung hat in internationalen Medien zu viel Aufsehen erregt. Und diese Geschichte war wirklich ein Skandal für die ungarische Regierung. Denn während der EU-Ratspräsidentschaft ist sie für die Entwürfe von Strategien zur Integration der Roma verantwortlich. Die Meldung war beschämend. Deshalb passte es den Regierungsvertretern wohl besser, wenn von einem »Ausflug« die Rede ist und nicht von einer Evakuierung.
Auch an zwei weiteren Orten in der ungarischen Provinz gab es seit April große Aufmärsche von rechtsextremen Paramilitärs. Wie will Ihre Organisation damit umgehen?
Wir werden dort, wo es solche Konflikte gibt, weiterhin die Lage beobachten. Und wir werden die Roma in ihren Rechten bestärken und sie in einzelnen Fällen vor Gericht begleiten. Wir können aber nicht das Problem lösen. Die Aufgabe verbleibt bei der Regierung und der Polizei. Als kleine Organisation können wir nur sagen, was sie tun könnten. Selber tun können wir es nicht.