Zur politischen Geschichte des Tierfilms

Im Auge des Tieres

Eine kurze Geschichte des Tierfilms.

In Abwandlung eines Diktums von Georges Bataille kann man die »künstlerische« Betrachtung des Tieres durch den Menschen als den Moment bezeichnen, in dem der Mensch zum Menschen wird. Indem der Mensch auf das Tier schaut, beginnt er den Abstand des Menschen zum Tier zu ermessen. Der Film markiert in dem Prozess der ungeheuren Geschichte der menschlichen Bildschöpfungen vom Tier eine Art Neuanfang nicht nur im technischen Sinn.
Es gibt eine tiefe, fast möchte man sagen: existentielle Verbindung zwischen dem Kino und den Tieren. Die Entstehung des Kinos fällt historisch mit der Etablierung des Zoos in den Städten der Industrienationen zusammen. Tiere werden in Käfige gesperrt, öffentlich ausgestellt und übernehmen, auf Kunststücke trainiert, nicht selten innerhalb inszenierter Arrangements die Funktion eines Schauspielers. Nicht nur der Käfig im Zoo wird zu ihrem Terrain, Tiere werden auch auf dem Jahrmarkt und im Theater zur Attraktion. Das Tier und das animierte Bild im Kino sind – nach den Worten des französischen Filmkritikers Hervé Aubron – »zwei zeitgenössische Spektakel«.
Dabei war die Beziehung zwischen dem Kino und den Tieren nie nur äußerlich. Dem Beginn der seriellen Sequenzfotografie durch Eadweard Muybridge lag die »tierische« Frage zugrunde: Was machen die Beine eines Pferdes im Galoppschritt? Und es war die Antwort, die er 1877 in »Animal locomotion« gab, die den französischen Physiologen und Fotopionier Etienne-Jules Marey dazu anregte, das fotografische Gewehr zu konstruieren, das das Fotografieren von Bewegungsabläufen ermöglichte. Marey verfolgte mit seinen Bewegungsstudien an Hühnern, Kaninchen, Insekten oder Pferden den Zweck, »uns über all die Bewegungen aufs Genaueste zu unterrichten, denen unser Auge nicht folgen kann, weil sie entweder zu schnell oder zu langsam oder zu verwickelt sind«, wie er 1893 schrieb.
Der Weg vom Fotorevolver zur Kamera und zum Filmprojektor war dann für Marey nur noch eine Frage der Zeit. Seine Bewegungsstudien offenbaren auch die Verbindung von Tieren und Kino. »In einem spekulativeren Sinne wohnt das Tier dem Kino durch dessen prinzipiellen Mechanismus der Animation inne – die Fähigkeit zu bewegen, lebendig zu machen, zu animalieren«, wie es der Filmwissenschaftler Akira Mizuta Lippit ausdrückt.
In der Nachfolge der Bewegungsstudien Mareys ziehen sich zwei große, keineswegs immer gerade verlaufende Traditionslinien des Tierfilms durch die Filmgeschichte: Die eine findet ihren Meister in den von Konrad Lorenz initiierten Bewegungsstudien der Encyclopaedia Cinematographica, in der filmisch für Tausende von Tierarten Mareys Auftrag zur genauen Aufzeichnung verwirklicht wurde. Es handelt sich bei den Filmen der Encyclopaedia Cinematographica um die reinste Form des wissenschaftlichen Dokumentarfilms, die denkbar ist. Ohne jeden Kommentar, ohne Musik und dramatisierende Schnitte werden die Bewegungsformen und Gangarten von verschiedenen Tierarten dokumentiert. Die Filme sollten das Inventar sämtlicher existierenden tierischen Bewegungsformen bilden. Seine Endlichkeit ist die Wirklichkeit der tatsächlichen Artenvielfalt.
Damit hat man auch die Differenz zum zweiten großen Strang des Tierfilms in der Filmgeschichte – der Geschichte des Filmtiers – benannt. Denn »die Anzahl der Filmtier-Arten ist unbeschränkt«, wie Vinzenz Hediger in seiner »Kleinen Biologie des Filmtiers« schreibt. Den Möglichkeiten, Leben zu erfinden, zu verwandeln oder auch nur nachzustellen, sind im Film keine Grenzen gesetzt. Der Film kann ausgestorbene Arten wie die Dinosaurier reanimieren. Genauso kann er zukünftige Arten und ihre Lebensräume entwerfen oder existierenden wie Bären und Löwen eine Sprache geben und sie ihre Situation im Zoo kommentieren lassen. Es gibt jedoch keinen Grund, sich gegenüber solchen Filmtieren nicht auch wie ein Biologe zu verhalten. Ebenso wenig gibt es einen Grund, sich gegenüber dem wissenschaftlichen Film nicht wie ein Künstler zu verhalten.
Wenn die Kamera den Bewegungen des Tieres in Einzelbildern folgen kann, wird das Tier zum Objekt der neuen Möglichkeiten des Sehens. Aber was sieht der Mensch, wenn er das Tier anblickt?
Zunächst einmal sieht er sehr viel ihm schon Bekanntes. Nichts Menschliches scheint dem Tier fremd zu sein. Auch wenn das Tier irgendwie anders ist, bleibt es doch gut aufgehoben in Menschenhand. In den Händen von Menschen, die ihren jeweiligen Gesellschaftsformen in ihrer Sicht auf das Tier ihren Tribut zollen. Es sind gerade die Regisseure der revolutionären »jungen« Gesellschaften der Sowjetunion und der USA, die im Film die Dressurfähigkeit und Veränderbarkeit des Tieres betonen.
Dabei wird insbesondere der amerikanische Film in seinen besten Momenten zu einem Kino des Verhaltens, in dem Landschaften, Pflanzen und Tiere ihre Rollen spielen wie die Menschen auch. Das Naturschöne und das Sozialschöne schließen sich im Traum der amerikanischen Revolution nicht aus. Sie bilden keine Gegensätze, sie spiegeln sich ineinander, das Naturschöne zeigt auch auf das Sozialschöne und umgekehrt. Daraus entsteht in der Zerfallszeit des amerikanischen Traums nach dem Zweiten Weltkrieg ein besonderes Spannungsverhältnis, das eindringliche Bilder brutaler physischer Explosionen und Ausbrüche hervorbringt.
»Ich habe dem Hund erklärt, dass er ein Schauspieler ist«, hat Samuel Fuller zur Leistung des Hundes in seinem Film »White Dog« von 1982 lapidar angemerkt. Der Hund ist bei Fuller eine weiße, rassistische Bestie geworden, der sich in seinen Ausfällen gegen seine Opfer fast selbst zerreißt. Er ist auf mysteriöse Weise mit den Zerfallserscheinungen des amerikanischen Traums aufgeladen worden. In das Haustier, sagt der Film, sind der Mensch und seine Gesellschaft immer schon eingeschrieben. Das wilde Tier müssen wir woanders suchen. Wo, davon erzählt ein anderer Meister des Kinos des Verhaltens. Zum Ende von Sam Peckinpahs »The Ballad of Cable Hogue« (1970) wandert ein Kojote ganz ruhig in einen Ort in der Wüste ein, den die Menschen mit Postkutsche und Auto gerade endgültig verlassen haben.
Das Belohnungszeremoniell des Behaviorismus, der in den USA vorherrschenden Verhaltenstheorie, das amerikanische Filme merkwürdig unbefangen in Szene gesetzt haben, ist an sich selbst gescheitert. Bis dahin konnte ein Tier noch so alt und entwicklungsgeschichtlich noch so weit vom Menschen entfernt sein, der amerikanische Film hatte keine Schwierigkeiten, in den Tieren Amerika wiederzufinden oder die Tierwelten positiv auf Amerika zu beziehen.
Der drückende Naturalismus, in den der Behaviorismus bei Fuller und Peckinpah verwandelt wird, fand in einer Zeit, in der die Welt in Ost und West geteilt war, in der Sowjetunion eine Entsprechung. Die Hintergrundperspektive des sowjetischen Tierfilms dieser Jahre bildet die Reflex-Theorie Iwan Pawlows. Ein Theorem, das bis in den Spielfilm »Das Theater der Tiere« von 1950 wirkt und die Möglichkeit der Umerziehung an Tieren auf bedrückende Weise durchspielt. Das Tier ist schon anders, sagt eigentlich jedes Bild, aber wir können es schaffen, seine scheinbar unveränderbare Natur in die richtigen Bahnen zu lenken. Wie das geht, zeigte Wsewolod Pudow­kin, der in Pawlows Labor einen Film drehte und dabei nicht nur mit Tieren experimentierte. »Mechanics of the Brain«, wie der englische Titel des Films von 1928 lautet, war dabei für das Selbstverständnis der UdSSR so wichtig, dass gleich drei Fassungen des Films erstellt wurden: eine für den Fachmann, eine für das große Kinopublikum und eine für den amerikanischen Markt.
Gegenüber den revolutionären Verhaltenskonzepten war der deutsche Film der Weimarer Zeit resistent und blieb sozusagen alteuropäisch: Das Tier trägt einen Abgrund in sich, es hat etwas »Böses«, das unveränderlich bleibt. Dagegen können wir gar nichts machen. Im Gegenteil: Das Animalische gehört zu unserer Natur, und damit müssen wir leben. Die Nazis werden diese Sicht buchstäblich überdrehen. Was das filmisch heißt, kann man anhand der Arbeiten des Regisseurs Ulrich K. T. Schulz verfolgen. Schulz drehte bereits in der Weimarer Zeit, dann unter den Nazis und wurde schließlich der bedeutendste Tierfilmer der DDR. Veränderte Zeiten verändern Ton und Bild und spiegeln sich in der Betrachtung des Tiers.
Bei Schulz lässt sich aber in seinen späten, in der DDR entstandenen Filmen eine Tendenz erkennen, die den Tierfilm langsam von seinen Hintergrundperspektiven löst. Die Filmemacher entdecken auf verschiedene Art wieder den Blick der Tiere auf ihre Welt. Heinz Sielmann geht dabei so weit, dass er in seinem Film »Zimmerleute des Waldes« den Spechten mit der Kamera bis in das Dunkel der Höhle im Baumstamm folgt. Die Tierfilmer werden in gewisser Weise wieder Jäger. Denn neben den scheußlichen Perversionen, zu denen die Jagd in ihren kolonialistischen und heutigen Großwildsafaris geworden ist, zeigt sich gerade in den ethnologischen Filmen noch eine andere Tendenz. In der Jagd, die das ursprüngliche Gewaltverhältnis zwischen Mensch und Tieren ausdrückt, gibt es immer auch ein Tier-Werden des Menschen, also eine Anverwandlung des Jägers an die Gewohnheiten des Tieres, wie man sie vor allem bei sehr guten Tierfilmern finden kann. Wer das Tier in seiner Bewegungsfolge respektiert und mit der Kamera einfangen will, wird nicht darum herumkommen, sich dem Tier anzuverwandeln, wie es die frühen Jäger taten und heutige Jäger manchmal noch tun. Eine Anverwandlung, mit der der künstlerische Film der Gegenwart viel genauer umgeht, als es der wissenschaftliche Film kann.
Was auch daran liegt, dass sich der künstlerische Film häufig viel mehr Zeit lässt. Romuald Karmakar etwa lässt in seinem vierminütigen Kurzfilm »Esel mit Schnee« dem Tier alle Zeit der Welt. Und Jayne Parker führt in ihrem »Catalogue of Birds: Book 3« den Waldkauz und die Heidelerche über die Kompositionen Olivier Messiaens ein, die der Komponist der Neuen Musik den Vögeln abgelauscht und in seinem monumentalen »Catalogue d’Oiseaux« verewigt hat. Messiaen, vielleicht der Künstler des 20. Jahrhunderts, der mit künstlerischen Methoden eine Forschung betrieb, die der wissenschaftlichen Untersuchung des Vogelgesangs nicht nur in nichts nachsteht, sondern auch Erkenntnisse über die Kompositionsweisen der Vögel hervorbringt, die der Wissenschaft verschlossen blieben, wird in Parkers Film zum Emblem der Möglichkeiten der Kunst. Die individuell entwickelten künstlerischen Methoden scheinen, wenn sie die Wissenschaft nicht bloß kopieren, eher in der Lage zu sein, den Paradigmen der Zeit zu entkommen, als es die Wissenschaften können.
Schwierig bleibt das Verhältnis der Filmemacher zum Tier aber trotzdem. Zum Haustier kann schließlich prinzipiell jedes Tier werden, das man zähmen kann. »Fotofilm – Lenin mit Katze« zeigt es. 1975 von Joachim Hellwig in der DDR montiert und mit einem Text von Günter Kunert versehen, changieren Bilder und Text zwischen Geburt, Hunger, Armut, Bibelzitaten und einer Hymne darauf, dass Lenin eine Katze hält und nicht etwa einen Hund. Wobei die immer wieder geäußerte These, dass Katzen eigensinniger und freier als Hunde seien, sich in den filmischen Studien nicht bestätigt. Abgeschnitten von ihrer Sexualität, sind Hunde wie Katzen auf die Liebe ihrer menschlichen Besitzer angewiesen.
Wo die hinführen kann, das wird in Vladimir Tyulkins »About Love« als Desaster im Haushalt einer tierliebenden Frau dokumentiert. Ihr Haus wird von einem Gewimmel von Tieren besiedelt, die durch die Liebe der Frau in der Menge so hilflos zu werden scheinen, dass sie nur noch eine Idee haben: immer mehr zu werden. Das Haustier bleibt das vom Menschen abhängigste Tier.
Da hilft nur die Öffnung des Blicks auf die anderen Lebewesen durch physisches Kino, wie es Artavazd Peleshyans in seinem Kurzfilm »Obitateli« erschafft, der 1970 in der Sowjetunion veröffentlicht wurde. Der Film ist eine Hymne auf die Bewegungen des Tieres, als Einzelgänger, in der Herde oder im Schwarm. Wobei ihm jedes Tier, auch das einzelne, eine Mehrheit zu sein scheint, der er pathetisch mit seinen Bildern, seinen Schnitten und seinen Tönen das Stimmrecht zurückgeben will. Die Frage, ob es dem neuen Tierfilm gelingen kann, den Tieren ihre Stimmen zurückzugeben, ist vielleicht die, an der sich die Geister scheiden. In »Convulsion« zeigt der israelische Filmkünstler Chen Sheinberg einen Käfer, der auf den Rücken gefallen ist und deshalb schreit. Der Schrei des Käfers bleibt im Film der einzige Ton, und er ist natürlich authentisch. Damit liefert Sheinberg auch unbeabsichtigt eine Anleitung, Kafka als Realisten zu lesen. Kafkas Tiere sind auch reale Tiere, keine Fabelwesen, wie Sheinberg mit seinem Käferschrei deutlich macht. Ein Hinweis, der nicht ohne Bedeutung ist.
Denn das Filmtier kann ja nicht sterben, wie es heißt, weil es ja nicht existiert. Eine Meinung, die auch der Philosoph Stanley Cavall vertritt und mit der sich Tierfilmer von Anfang an auseinandersetzen. Aber wie kann das Tier im Film es selbst bleiben? In den besten Momenten ist die Antwort in Tierfilmen ganz einfach: Indem man die Tiere nicht der Sprache unterwirft, die Bilder wortlos bleiben und die Kamera weiß, dass auch sie andauernd von Tieren beobachtet wird. Eine Tatsache, die manche Filme schon früh im Blick hatten. Winsor McCays Zeichentrickfilm »How a Mosquito Operates« von 1912 ist nicht nur eine filmgeschichtliche Trouvaille, er stellt auch die Mücke als immer hungrig und ein bisschen bösartig dar – ein Tier, das immer auf der Lauer liegt und wenig Gutes im Schilde führt. Im Zusammenhang mit der Äußerung von Gilles Deleuze zum Zick-Zackflug der Fliege und seiner Ähnlichkeit mit der menschlichen Denkbewegung könnte sich daraus bereits eine filmische These entwickeln lassen, die darauf hinausläuft zu fragen, was es heißt, ein Tier zu sein, und was aus dem Wissen folgt, dass man ständig von Tieren angeblickt wird.

Cord Riechelmann kuratiert gemeinsam mit dem Filmemacher Marcel Schwierin das Sonderprogramm »Kino der Tiere« der 57. Internationalen Kurzfilmtage Oberhausen, die vom 5. bis 10. Mai stattfinden (www.kurzfilmtage.de). Das »Kino der Tiere« wird auf dem Festival Werkleitz in Halle vom 14. bis 16. Oktober fortgesetzt.