Jan Ole Arps im Gespräch über linke Fabrikinterventionen in den siebziger Jahren

»Raus aus dem studentischen Milieu, rein in die Bevölkerung«

In den Siebzigern verließen einige Tausend linke Studenten die Hörsäle und gingen in die Fabriken, um die Einsichten von Marx mit den Lebens- und Arbeitsbedingungen der Fabrikarbeiter und anderer Lohnabhängiger zu konfrontieren. Jan Ole Arps hat in seinem Buch »Frühschicht« die linken Fabrikinterventionen der siebziger Jahre untersucht.

In Ihrer Studie untersuchen Sie die gesellschaftlichen und historischen Bedingungen, unter denen politische Aktivisten und Intellektuelle mit Marx, Lenin, Mao oder operaistischen Schriften im Gepäck vor dem Fabriktor, aber auch innerhalb der Fabrik die Arbeiterschaft zu agitieren versuchten. Sie haben zahlreiche Interviews mit ehemaligen Aktivistinnen geführt. Was waren das damals für Gründe, die junge Linke dazu brachten, in die Fabrik zu gehen?
Der Aufbruch von 1968 war für die Beteiligten eine existenzielle Erfahrung, die im Zeitraffer ganze Lebensentwürfe umkrempelte. Eben noch brave Studentin, jetzt schon auf der Barrikade. Mit dem Tempo, in dem sich das Leben der Einzelnen veränderte, hielten die gesellschaftlichen Entwicklungen aber nicht Schritt. Die politischen Erfolge der Bewegung waren ja bescheiden: Weder konnte sie die Notstandsgesetze verhindern noch nach dem Attentat auf Rudi Dutschke auch nur für einen Tag die Auslieferung der Zeitungen des Springer-Konzerns verhindern. Das hinterließ ein Gefühl der Ohnmacht. Dagegen: Als im September 1969 Arbeiter verschiedener Branchen wilde Streiks anzettelten, wurden ihre Forderungen meist nach wenigen Tagen erfüllt. Das machte Eindruck auf die Studenten. Hinzu kommt, dass die Fabrik in den sechziger Jahren noch von absolut zentraler Bedeutung war, fast die Hälfte der Erwerbstätigen arbeitete in der Produktion. Und in den Nachbarländern Italien, Frankreich, England wurde heftig gestreikt. Da lag der Gedanke nicht fern, dass das auch in Deutschland möglich sein müsste – wenn man etwas nachhilft. In die Betriebe oder in die Bevölkerung zu gehen, war der logische nächste Schritt für viele und ein vielversprechendes Abenteuer!
An die Stelle der bloßen Befragung sollte also eine unmittelbare Beteiligung treten. Man wollte den Arbeitern nicht nur wie ethnographische Feldforscher oder mit dem Rüstzeug der teilnehmenden Beobachtung der klassischen Industrie- und Arbeitssoziologie begegnen, sondern auch agitieren und sich selbst proletarisieren?
Die verschiedenen Strömungen setzten unterschiedliche Schwerpunkte: Die Spontis begannen mit Untersuchungen, sie wollten die Bedingungen für politische Aktionen in der Fabrik ergründen und erste Aktionen zusammen mit Arbeitern starten. Die Maoisten stellten zu Beginn die politische Agitation in den Vordergrund. Aber der Impuls war ähnlich: Raus aus dem studentischen Milieu, rein in die Bevölkerung. Übrigens auch bei denen, die, wie die DKP, vor allem in den Gewerkschaften arbeiteten oder, wie das Sozialistische Büro, über Bildungsarbeit im Proletariat nachdachten. Wie vielfältig die Versuche waren, ist heute kaum noch bekannt.
Inwiefern unterscheiden sich maoistische von spontaneistischen oder operaistischen Fabrik­interventionen?
Zunächst mal von der Zahl der Teilnehmer und von der Dauer ihrer Aktivitäten. Die Maoisten waren viele und sie blieben auch viel länger in den Betrieben, manche bis heute. Das hat natürlich auch mit den unterschiedlichen Konzepten zu tun. Manche Sponti-Gruppen planten ohnehin, nur ein Jahr in der Fabrik zu bleiben. Ihr Ziel war nicht, selbst zur Avantgarde des Proletariats zu werden, sondern Lage und Bewusstsein der Arbeiter und rebellische Proleten kennenzulernen, mit denen man zusammen was starten konnte. Gruppen wie der »Revolutionäre Kampf« aus Frankfurt haben sich eher als eine Art Starthilfekabel für die Selbstorganisierung der Arbeiter verstanden. Außerdem bedeutet Vollzeit-Fabrikarbeit auch, dass nicht mehr viel Zeit für anderes bleibt. Wenn du morgens um halb fünf aufstehen musst, kannst du nicht bis nachts um zwei in der Kneipe oder in der WG-Küche sitzen. Die Fabrikarbeit war mit dem Sponti-Lebensstil schlecht zu vereinbaren. Auch deshalb verließen manche die Fabrik schnell wieder.
Bei den Maoisten oder K-Gruppen stand die fröhliche Entfaltung des Individuums nicht so im Vordergrund, da wog die Organisationsdisziplin schwerer. Deshalb sind viele Maoisten länger in der Fabrik geblieben. Mit den Jahren haben sich ihre Aktivitäten im Betrieb sehr verändert, sie haben sich der Realität angepasst in Richtung Interessenvertretung, viele von ihnen sind heute noch linke Gewerkschafter, manche haben auch Karriere im Apparat gemacht. Die politische Agitation der K-Gruppen blieb davon lange unberührt, ein etwas bizarres Nebeneinander.
Sowohl die Septemberstreiks von 1969 als auch die Streikbewegung bis 1973 waren ja sehr stark von migrantischen Arbeitern geprägt. Inwieweit wurde das von den Aktivisten reflektiert?
Die Spontis zielten, zumindest in der Theorie, sowieso auf den »multinationalen Massenarbeiter«, wie es damals hieß. Ihre Grundannahme war: Die deutschen Facharbeiter sind gewerkschaftlich und durch die Arbeitsorganisation fest in die betriebliche Ordnung eingebunden. Kämpfe sind eher von denen zu erwarten, die unten in der Hierarchie stehen und die besonders unangenehmen Arbeiten machen müssen: Angelernte, Arbeitsmigranten, Jugendliche, auch Frauen. An die richteten sie sich auch vor allem. Was die Kämpfe der frühen Siebziger anging, hatten sie also einen ganz guten Riecher.
Die Maoisten appellierten stärker an die Einheit der Arbeiterklasse gegen das Kapital und die »DGB-Bonzen«. Widersprüche wurden da nicht so gesehen. Aber in der Praxis hatten sie auch viel mit migrantischen Kollegen zu tun, weil die wegen ihrer speziellen Benachteiligungen und auch politischen Ausschlüsse leichter ansprechbar waren. Das gilt für beide Lager. Und beide hatten auch viel mit politischen Organisationen der Migranten zu tun.
In den Berichten der Aktivisten merkt man auch oft die Enttäuschung über eine gewisse Lethargie der deutschen Arbeiter. Warum standen denn – wenn man die Protokolle retrospektiv liest – die Aktivisten der Arbeiterklasse doch eher fremd gegenüber, waren gar isoliert? Handelt es sich nur um ein Vermittlungsproblem? In Italien oder Frankreich scheint das anders gelaufen zu sein.
Diesen Eindruck der Fremdheit muss man vielleicht etwas relativieren; im Buch habe ich das vielleicht etwas zu sehr hervorgehoben. Für die, die nur kurz im Unternehmen waren, war es sicher so. Ich glaube, die Enttäuschung betrifft eher die schwierigen Bedingungen für revolutionäre Aktivitäten. Viele, die in die Fabrik gingen, hatten ja eine ziemlich bewegte Zeit hinter sich, Demonstrationen, Aktionen, Uni-Besetzungen. Das lässt sich am Arbeitsplatz natürlich nicht ohne weiteres fortsetzen, da sind solche Situationen die Ausnahme. Die meiste Zeit wird gearbeitet. Und wenn doch mal was Aufregendes passiert, dann fliegt man schnell raus, Störung des Betriebsfriedens. Ein Unternehmen ist ja kein öffent­licher Ort, an dem man einfach protestieren kann, die Bedingungen für Protest und Aktionen sind ganz anders. Ich glaube, die Enttäuschung betrifft vor allem diesen Punkt, wenn es sie überhaupt so gab.
Lag es nicht auch am Denkfehler des politischen Marxismus bzw. des leninistischen Kader-Konzeptes, das davon ausging, dass Klassenbewusstsein nur durch Agitation entsteht, nicht aber vor allem durch die gemeinsame Erfahrung der Ausbeutung bzw. auch im gemeinsamen Widerstand?
Klar, durch ein Flugblatt wird niemand zum Revolutionär. Erst recht niemand, für den Texte keine große Bedeutung haben. Aber das gleiche Problem hatten die Spontis auch. Eine Sponti-Gruppe hat in ihrer Auswertung sinngemäß geschrieben: Wieso sollten die Arbeiter nur wegen unseren Flugblättern plötzlich ihre Angst vor dem Unternehmer verlieren, ihre Uneinigkeit überwinden und losschlagen? Wer nicht nur für ein paar Monate in der Fabrik arbeiten muss, hat mehr zu verlieren als die linken Agitatoren. Vielleicht hat man im Betrieb gerade nette Kollegen, die Arbeit ist relativ angenehm und das Gehalt auch nicht schlecht. Wieso soll man das leichtfertig aufs Spiel setzen, wenn die Alternative ist, dass das »Spiel« in einem anderen Unternehmen, vielleicht schlechter bezahlt, mit schwererer Arbeit und unbekannten Kollegen von vorne losgeht?
In der Sponti-Bewegung, die in Frankfurt im Umfeld des »Revolutionären Kampfs« und bei Opel in Rüsselsheim ihre Hochburg hatte, kam es ja recht schnell zum Abschied von der Betriebsarbeit. Ein damaliger Aktivist, der heutige Welt-Chefredakteur Thomas Schmid, schrieb 1975 einen Text im operaistisch geprägten Organ Autonomie mit dem programmatischen Titel »Facing Reality – Organisa­tion kaputt«. War das das Ende vom Anfang, entstand hier der grüne (Prä-)Realo und der Ursprung neuer, eher mikropolitischer Kämpfe?
Ich weiß nicht. Ich finde den Text super. Er enthält die Einsicht, dass man mit einem Organisationskonzept, das nur noch die Leute hinter einem schon fertigen Plan versammeln will, nicht weiterkommt. Und dass Klassenkämpfe an allen möglichen Orten entstehen können, nicht nur in der Fabrik. Das sind doch wichtige Einsichten. Dieser Hass auf das Proletariat kam bei Thomas Schmid auch erst ein paar Jahre später – soweit ich das aus seinen Texten beurteilen kann.
Wenn man sich die Streiks heute z.B. bei Gate Gourmet anschaut und auch die allgemeine Transformationen der Arbeitswelt in Betracht zieht, hat sich doch einiges verändert: Während die alten Aktivisten, zumindest in Deutschland, sich aus kleineren K-Gruppen rekrutierten und eher kaderartig versuchten, ihre Ideen den Arbeitern aufzuoktroyieren, sind heutige Unterstützer, die weder direkt in Werken arbeiten noch in der Gewerkschaft organisiert sind, eventuell risikobereiter und deshalb eventuell auch unabhängiger.
Ich glaube nicht, dass es hilfreich ist, wenn linke Aktivisten, die einen Kampf von außen unterstützen, risikobereiter sind als die Beschäftigten, um deren Kampf es geht. Das ist ja wieder der avantgardistische Gedanke, der auch in den siebziger Jahren verbreitet war. Aber es stimmt: Die politischen Rezepte von damals sind unter bestimmten historischen Bedingungen entstanden. Für heutige Arbeitskämpfe werden sich andere Formen entwickeln. Die nächsten Jahre werden sicher spannend.
Jan Ole Arps: Frühschicht. Linke Fabrikintervention in den siebziger Jahren. Assoziation A, Berlin / Hamburg 2011, 238 Seiten, 16 Euro