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Bei ihm steht nichts »auf Messers Schneide«. Die »Achillesferse« schmerzt ihn nicht. Er schmiedet keine »heißen Eisen«, denn für das »Spiel mit dem Feuer« hat er nichts übrig. Er hat nie »auf das falsche Pferd gesetzt«. Er hat nie »Vorstöße« gemacht, um einen »Kurswechsel« zu vollziehen oder irgendwelche »Positionen« auf irgendeine »Agenda« zu setzen. Er hat nie »das Kind mit dem Bade ausgeschüttet«.
Nein, für solche Formulierungen hat der Kollege mit dem Rotstift nur Verachtung übrig. Er hat für sie sogar einen ganz eigenen Fachterminus erfunden: Quatsch­wörter. Seine Leidenschaft gilt der Suche nach solchen Quatschwörtern. Hat er eines von ihnen in einem Text aufgespürt, nimmt er seinen Rotstift, streicht das Quatschwort feinsäuberlich durch und ersetzt es durch ein besseres Wort, ein treffendes, sinnvolles und vor allem: schönes.
Denn der Kollege mit dem Rotstift ist ein großer Liebhaber der Schönheit. Er liebt schöne Wörter, schöne Sätze, schöne Texte, schöne Bücher. Und er versteht nicht nur etwas von Buchstaben. Er liebt auch schöne Musik, die nicht unbedingt schön anzuhören sein muss. Und er liebt schöne Filme, die allerdings nach Möglichkeit kein Happy End haben sollten. Unser Kollege mit dem Rotstift gehört zu einer Sorte Mensch, von der es leider zu wenige gibt: Er ist ein Ästhet.
Sein Sinn für sprachliche Ästhetik ist sicher auch Ihnen aufgefallen, liebe Leser. Unser Kollege legt nämlich auch manchmal den Rotstift weg, um selbst Artikel zu schreiben – schöne Artikel, versteht sich, und zudem amüsante, gewagte und provokante. Sicher haben Sie in unserer Zeitung irgendwann einen seiner Texte gelesen, haben gelacht, sich gewundert – oder sich furchtbar aufgeregt. Vielleicht haben Sie sogar einen empörten Leserbrief geschrieben. Unser Kollege will es schließlich niemandem recht machen. Denn er ist nicht nur ein Ästhet, sondern gehört auch noch zu einer anderen Art von Menschen, von der es ebenfalls zu wenige gibt: Er ist ein Kritiker.
Seit über zehn Jahren ist er unser Kollege mit dem Rotstift, der die Quatschwörter aufspürt und an ihre Stelle schöne Wörter setzt. Seit über zehn Jahren sorgt er dafür, dass wir Woche für Woche eine schöne Zeitung herausbringen, die Sie, liebe Leser, dann in Ihrem Briefkasten oder an einem Kiosk finden. Nun verlässt der Kollege uns, um sich einer neuen Tätigkeit zu widmen. Man kann es sich denken, aber es muss einmal gesagt sein: Wir werden ihn vermissen, als Ästheten, als Kritiker, als ausgewiesenen Kenner einer exotischen Fremdsprache (Schwäbisch fließend in Wort und Schrift). Wir wünschen ihm viel Freude und viel Erfolg bei der neuen Arbeit. Und da er glücklicherweise in Berlin bleibt, können wir mit Gewissheit sagen: Man sieht sich, Kollege mit dem Rotstift! Dann aber wahrscheinlich ohne den Rotstift.