Über einen Sammelband zum Begriff des »Überlebens«

»Nichts ist wirklich außer dem Lager«

Der Begriff des »Überlebens« ist ein Schlüsselbegriff in der Theoriegeschichte des 20. und 21. Jahrhunderts. Ein umfänglicher Sammelband beschäftigt sich mit seinen historischen und aktuellen Konstellationen.

Der Terminus »Überleben« ist nach Auschwitz für viele Autoren nicht mehr zu trennen »von der Scham, ein Mensch zu sein« (Primo Levi). So beschreibt Levi die Begegnung mit vier russischen Soldaten in dem von den Deutschen verlassenen Konzentrationslager Auschwitz im Januar 1945 nicht als Moment der Freude, sondern als Moment der Scham. Weder die jungen russischen Soldaten noch die wenigen Lebenden im KZ können angesichts der durcheinanderliegenden Leichen und der zerstörten Baracken ihre schamvolle Befangenheit ablegen. Levi hat nach Auschwitz sein ganzes Leben versucht, über diese Scham zu schreiben, und sie schließlich mit der Schuld verbunden. Es ging darum, »dass viele (auch ich selbst) während der Gefangenschaft und danach ›Scham‹ empfunden haben, das heißt, ein Bewusstsein von Schuld«, heißt es in seinem Buch »Die Untergegangenen und die Geretteten«. Das Schuldgefühl der Überlebenden der Konzentrationslager, das alle Werke der aus dem Horror herausgekommenen KZ-Insassen durchzieht, wird bei Levi dadurch radikalisiert, dass er die Schuld in den Kontext der humanistischen Tradition stellt. Indem sich bei ihm die Scham an die Schuld bindet, wird für ihn die Erfahrung des Lagers unüberwindlich. Auschwitz hat für Levi zeit seines Lebens nicht mehr aufgehört. »Ich bin wieder im Lager, nichts ist wirklich außer dem Lager; alles andere waren kurze Ferien oder Sinnestäuschung, Traum: die Familie, die blühende Natur, das Zuhause«, fasst er die anhaltende Wiederholung der Erfahrung Auschwitz in Worte. Das Lager überlebt zu haben, war für ihn kein »Glück«, das Beschädigt-Werden hielt an.
Der Höhepunkt der Beschädigung bestand für ihn im Entzug der menschlichen Freiheit, der Zerstörung der Freiheit zum Tode. Im Lager war den Gefangenen die Wahlmöglichkeit zwischen Leben und Tod genommen und damit auch der Tod selbst würdelos geworden. »Man zögert, ihren Tod als Tod zu bezeichnen«, schreibt Levi über die »Muselmänner«, wie die Häftlinge, die sich selbst vollkommen aufgegeben hatten, in Auschwitz genannt wurden, jene »wandelnden Leichname«, deren Gesicht ausgelöscht war und deren »orientalische« Agonie niemand genauer in Worte gefasst hat als Levi. Und vom Schreckensbild der »Muselmänner«, der Gestalt gewordenen Unmöglichkeit des Überlebens, wollte Levi berichten wie von allen anderen Toten der Lager. Nicht die Überlebenden waren für Levi die Zeugen des Schreckens, sondern die, denen man alles genommen hatte. Sein Schreiben über die Lager galt denen, die »den tiefsten Punkt des Abgrunds berührt hatten«, den »Muselmännern«, den Untergegangenen, die bereits Wochen und Monate vor ihrem Ableben »die Fähigkeit der Beobachtung, des Abwägens und des Ausdrucks verloren hatten«.
Nur indem er über diese Untergegangenen schrieb, ließ sich für ihn Zeugnis ablegen von der Einmaligkeit, der historischen Singularität des Systems der nationalsozialistischen Konzentrationslager. Um die Texte Levis geht es auch in dem Sammelband »Überleben. Historische und aktuelle Konstellationen«. Der von dem Kulturwissenschaftler Falko Schmieder herausgegebene Band liefert ganz unterschiedliche Auseinandersetzungen mit dem Begriff des Überlebens – nach Auschwitz, nach dem Gulag und nach Hiroshima. Von Theodor W. Adorno bis zu Rüdiger Nehbergs Ratgeber »Survival – Die Kunst zu überleben« reicht das Spektrum. In der Gesamtschau ergibt sich tatsächlich ein Überblick über die Konstellationen, in denen mit dem Begriff des »Überlebens« operiert wird. So kommen die für die militärische Ausbildung von Piloten systematisierten Überlebenstechniken nach einem Absturz im Feindesland genauso vor wie die in den USA verbreiteten Berichte, die erklären, wie man nach einem nuklear geführten Krieg glücklich weiterleben kann.
Neben diesen manchmal bizarren, manchmal auch schlicht blödsinnigen Konzepten des Überlebens dokumentiert der Band aber auch theoretische Auseinandersetzungen, die bisher in Deutschland nicht geführt worden sind. Ein Höhepunkt des Bandes findet sich dabei in einem Text der Slawistin Franziska Thun-Hohenstein, die eine Debatte zwischen dem russischen Oppositionellen Warlam Schalamow und dem Dissidenten Alexander Solschenizyn über das ­Schreiben über den Gulag reflektiert. Verhandelt werden die spezifischen Anforderungen, die das Er- und Überleben des Gulags an den Berichterstatter stellen, dies auf eine Weise, wie es neben Primo Levi auch Jean Améry und Jorge Semprún, um nur einige Überlebende der Konzentrationslager zu nennen, getan haben. Es gelingt den Texten, die Bedingungen in den verschiedenen Lagern der Nazis und der Sowjetunion in ihrer »Eigenartigkeit« zu erfassen, ohne deren Unterschiede unter ein Totalitarismuskonzept zu fassen und zu nivellieren. So verwendet Thun-Hohenstein für den Typus des »Erloschenen«, der im Gulagsystem ganz ähn­liche Verhaltensmerkmale zeigt wie die »Muselmänner« in Auschwitz, konsequent den russischen Begriff dochodjaga, wie ihn auch Solschenizyn und Schalamow verwendet haben. Die Literaturwissenschaftlerin entscheidet sich für das Wort dochodjaga, weil sie die bisherigen Übersetzungen, wie »Kümmerling«, »Verkümmerer«, »Abkratzer« oder »Verdammter«, als zu wenig spe­zifisch empfindet und um die Unvergleichbarkeit von nationalsozialistischen Vernichtungslagern und den Gulags zu betonen.
Vergleichbar jedoch ist die Position Schalamows mit der von Levi oder Semprún. Schalamow, der 14 Jahre seines Lebens in den Lagern in der als unbewohnbar geltenden Region um den Fluss Kolyma im nordöstlichen Sibirien unter grauenhaften Bedingungen verbrachte, hat die Erfahrung des Lagers als Bruch empfunden, der sein ganzes späteres Leben bestimmte. Mit dem Bruch, den das Lager seinem Leben zufügte, stellte sich für ihn die Frage nach dem Menschen wie nach dem literarischen Schreiben auf fundamentale Weise. Darum drehte sich auch der Streit mit Solschenizyn. Schalamow hat es entschieden abgelehnt, in »Archipel Gulag« als Autor oder Zeuge aufzutauchen, weil ihm der Stil und die Haltung Solschenyzins zu klassisch waren. Er vermisste die Erfahrung des fundamentalen Bruchs. Solschenizyn schrieb in der literarischen Tradition von Puschkin und Tolstoi, er behielt die Intention der moralischen Belehrung bei und sah in der Literatur nach wie vor ein Mittel zur Erlösung der »russischen Seele«, die mit ihren spezifisch religiösen Impulsen ihre Verkörperung im russischen Bauern gefunden habe. Für Schalamow hatte sich das alles mit dem Gulag erledigt: Es gab keine moralische Belehrung mehr, der russische Bauer war wie der Intellektuelle im Gulag demselben System unterworfen, in dem es keine Regel mehr gab, nur den Zufall, der über Leben und Tod der Insassen bestimmte. Der Bildungsroman der russischen Seele war an sein Ende gekommen. Nur noch der Mensch in Auflösung, der dochod­jaga, sollte im Bericht vom Gulag zum Sprechen gebracht werden.
Der direkte Vergleich zwischen den Positionen Schalamows und Solzschenizyns macht auch deutlich, warum letztgenannter im Westen so erfolgreich sein konnte, obwohl Intellektuelle wie André Glucksmann, Bernard-Henri Lévy und Heinrich Böll mit dessen zaristisch-bäuerlicher Religiosität wohl nichts anfangen konnten. Bei Solschenizyn gab es aber noch einen Heroismus des Überlebens: Die Bauern kamen mit dem Gulag besser zurecht als die Intellektuellen, und die dochodjaga blieben Solschenizyn fremd. Sie verstanden es nicht, ihrem »Überlebensinstinkt« zu folgen. Darin äußerte sich Solschenizyns darwinistische Grundüberzeugung, die der Formel vom survival of the fittest folgt, die bis heute auch alles positiv auf den Staat bezogene westliche Denken durchzieht.
»Deshalb fällt es demokratischen Politikern nach wie vor leicht, Kriege vom Zaun zu brechen«, heißt es dazu in dem Text von Moritz Mutter. Denn »das Schlimmste, was ihnen (den demokratischen Politikern) passieren kann, ist der Verlust von Wählern«, wie es in Mutters großartigem Essay »Totalitäres ›Experiment‹ und Anthropologie ›nach Auschwitz‹ – Arendt und Agamben« weiter heißt. Sein Aufsatz ist zwar im Wesentlichen eine radikale Kritik an Giorgio Agambens Studie »Was von Auschwitz bleibt«, besitzt allerdings die für deutsche Verhältnisse seltene Größe, mit folgendem Fazit zu schließen: »Ungeachtet aller Kritik bleibt der innovative Ansatz einer negativen Kulturgeschichte, die das nackte, rein biologische Leben nicht als Ausgangspunkt, sondern als Destillationsprodukt der Kulturgeschichte begreift, zu würdigen.« Agamben habe ein nützliches Gegengift gegen die »positiv-teleologischen Geschichtsphilosopheme« geschaffen, die trotz des katastrophalen vorigen Jahrhunderts in der »vulgärkapitalistischen Alltagsreligion wie in der Theorie« weiterlebten. Was Agamben mit Primo Levis »Muselmännern« gesehen hat, ist, »dass Au­schwitz der Tod des Subjekts in einem ganz konkreten Sinn ist und dass diese Tatsache sich jeder Linderung versperrt«.
Damit gibt es natürlich auch keine Unschuld mehr in Hinblick auf das, was in den Lagern geschehen ist. Politisch hat das zuerst Alain Badiou anhand des Streits zwischen Schalamow und Solschenizyn in seinem 1985 erschienenen Buch »Ist Politik denkbar?« analysiert. Schalamow war Solschenizyns politische Abrechnung mit Stalin und dem Sowjetsystem zu oberflächlich, weil sie sich in ein Totalitarismuskonzept einbinden ließ, das die Spezifik des Gulags nicht fassen konnte. Im Gulag wurde nicht wie im KZ »der Andere« (der Jude, der Kommunist, der Russe oder der Pole) getroffen, sondern der Gleiche. Die, die die Lager füllten, »waren weder Gegner der Macht noch Staatsverbrecher«, sie starben, »ohne überhaupt zu begreifen, warum sie sterben mussten«, heißt es bei Schalamow. Die Massaker im Gulag konnten nur deshalb straffrei durchgeführt werden, weil die Mehrheit der Opfer Unschuldige waren, die niemals Politik betrieben hatten. Es war, und das ist Schalamows wie Badious Pointe, nicht die Politik Stalins, die die Lager zum Horror machten, sondern die Abwesenheit von Politik in den Lagern, die das Regiment des Grauens möglich machte. Im Namen der Opfer fordert Schalamow auf, sich nicht in der politischen Unschuld einzurichten, sondern die »Nicht-Unschuld« neu zu erfinden und zum Kern einer Politik zu machen, die allein das Grauen beenden und seine immer mögliche Wiederholung verhindern kann.

Falko Schmieder (Hrsg.): Überleben. Historische und aktuelle Konstellationen. Wilhelm-Fink-Verlag, München 2011, 439 Seiten, 54 Euro

Alain Badiou: Ist Politik denkbar? Aus dem Französischen übertragen und mit einem Nachwort versehen von Fank Ruda und Jan Völker. Merve-Verlag, Berlin 2010, 165 Seiten, 15 Euro