Eine Reportage aus Bengasi

They have a dream

Freiheit und Frieden wünschen sich die Menschen in der von Gaddafis Herrschaft befreiten Stadt Bengasi. Wie ihre Gesellschaft nach dem möglichen Ende des Regimes aussehen soll, wissen die meisten noch nicht. Doch trotz aller Widersprüche haben die Revolutionäre zunächst ein ­gemeinsames Ziel: den Diktator endgültig zu stürzen.

»Welcome!« Der junge Mann mit umgehängter Kalaschnikow macht das Victory-Zeichen, wie eigentlich jeder, der in der von Muammar al-Gaddafis Herrschaft befreiten Cyrenaika im Osten Libyens einen Ausländer sieht. Er bewacht mit ­einer Handvoll weiterer Bewaffneter einen improvisierten Checkpoint in der Nähe des Hafens von Bengasi, der mit 650 000 Einwohnern zweitgrößten Stadt des Landes. Hinter der Straßensperre, in 150 Meter Entfernung, am Rand des Meeres und in unmittelbarer Nähe zum Hafen, liegt das politische Zentrum Bengasis – der Tahrir Square, der dieser Tage seinem Namen, »Platz der Befreiung«, alle Ehre macht. Dort sind Dutzende von Zelten aufgebaut, auf zwei kaputten Panzern von Gaddafis Truppen turnen kleine Kinder herum, rund um den Platz befinden sich das Medienzenatrum, ein ausgebranntes Gebäude des gefürchteten Geheimdienstes sowie Räume der »Revolutionären Jugendorganisation« und diverser Komitees, die das öffentliche Leben reorga­nisieren.

Wer morgens etwas von offizieller Seite in Bengasi will, steht bis 11 Uhr vor verschlossenen Türen. Im Pressebüro des Transitional National Council (TNC), der Übergangsregierung Libyens, die inzwischen von verschiedenen westlichen Staaten und Katar diplomatisch anerkannt worden ist, beginnt die Arbeit spät. Auch der Tahrir Square liegt um diese Uhrzeit weitgehend verlassen da. Erst nachmittags füllt er sich, um dann abends von Tausenden bevölkert zu sein.
Dann sind die Zelte gefüllt, man sitzt und diskutiert, auch für das Wohl der Kinder und Jugendlichen ist gesorgt: Die einen vergnügen sich auf einer aufblasbaren Spielburg, andere mit Tischfußball, Fahrrädern oder kleinen, motorisierten Quads. Nur Frauen sucht man auf dem Platz nach Einbruch der Dunkelheit vergebens. Vor der Bühne, über der neben der Fahne des »freien Li­byen« die Flaggen Großbritanniens, Frankreichs, Italiens, der USA und Katars flattern, liegen wie in einer Moschee Teppiche ausgebreitet. Gerade berichtet ein Kämpfer von den Entwicklungen an der Front. Schließlich wird nur 150 Kilometer südlich von hier heftig gekämpft. Täglich bringen Krankenwagen die Toten und Verletzten zurück nach Bengasi.
Der nächste Redner kommt aus Ägypten, ist Mitglied der liberalen Wafd-Partei und verliest eine Solidaritätsadresse. Wenige Meter entfernt verkaufen zwei Jugendliche libyschen Revolutions-Rap. Seit Gaddafis Truppen vor etwas mehr als 100 Tagen aus Bengasi vertrieben wurden, hat sich in kürzester Zeit eine lebendige Rap-Szene entwickelt. Die Texte sind eingängig, der Sound schallt auch aus den Pickups der Kämpfer, auf deren Ladefläche Maschinengewehre und Raketenwerfer festgeschweißt sind. Ibrahim Tashani, Oberarzt der Herzstation des städtischen Krankenhauses, der über 20 Jahre in Deutschland gelebt hat, zeigt sich von der Jugend begeistert: »Sie haben geschafft, wovon wir nicht einmal zu träumen wagten. Es ist ihre Revolution, ihre Musik, ihr Leben.« Und deshalb komme er, trotz langer anstrengender Arbeitstage, Abend für Abend auf den Platz der Befreiung. »Sie sollen sehen und wissen, dass wir abends nicht einfach schlafen gehen, sondern unser Herz bei ihnen ist.«

Das hört man immer wieder: Die Jugend habe zu den Waffen gegriffen, den Aufstand begonnen und weitergeführt. Wie in allen arabischen Ländern machen die unter 30jährigen über 70 Prozent der Bevölkerung aus. Und hier weiß man ihre Leistungen zu schätzen: Ungehindert können Graffitikünstler die Gebäude der Übergangsregierung besprühen, ob mit Karikaturen von Gaddafi, Bildnissen des Rappers 50 Cent oder dem Konterfei Bob Marleys. Das Pressebüro der Übergangsregierung erinnert eher an ein autonomes Jugendzentrum als an eine Behörde. Überhaupt verstrahlt der ganze Tahrir Square etwas von der Atmosphäre besetzter Häuser. Wären da nicht die amerikanischen Flaggen, der Imam, der gerade mit schriller Stimme ins Mikrophon brüllt, und die Abwesenheit von Frauen, man könnte angesichts der gesamten Stimmung auch für einen Moment glauben, sich im Barcelona des Jahres 1936 zu befinden.
Dass es so etwas wie eine Öffentlichkeit gibt, einen Ort, an dem sich Menschen aus allen Schichten und Altersgruppen der Bevölkerung treffen und politische Diskussionen führen, das ist neu in der arabischen Welt. Und was in anderen arabischen Staaten nur für wenige Tage Realität war, die Aneignung dieser Räume, haben die Menschen in Bengasi in einen Dauerzustand verwandelt. Die Rechtsanwaltsvereinigung hat ihr Zelt ebenso auf dem Tahrir Square aufgeschlagen wie Vertreter kleiner Ortschaften aus dem Umland, die Kriegsversehrten des Tschad-Kriegs sitzen in Rollstühlen neben Vertretern religiöser Einrichtungen. Bis drei Uhr morgens geht es so, Nacht für Nacht, seit der Aufstand am 17. Februar ausgebrochen ist. Jeder ist irgendwo aktiv: sei es bei den freiwilligen Putztrupps, in einem der unzähligen Komitees, die die Stadt verwalten, bei den Truppen an der Front oder mit der Herausgabe einer neuen Zeitung. Freie Medien habe es nicht gegeben unter der Diktatur, heute existierten allein in Bengasi 39 unabhängige Zeitungen und Magazine, drei Radiostationen und eine fürs Fernsehen, sagt ein Journalist aus dem Medienzentrum. Auch die Organisation des Alltags scheint immerhin rudimentär zu funktionieren: Abgesehen von mehreren Ausfällen am Tag, ist die Stadt mit Strom versorgt, es gibt Benzin an den Tankstellen, Geschäfte und Restaurants haben geöffnet.
Verklärend sprechen viele Menschen in Ostlibyen von der Zeit vor Gaddafi. Jugendliche zeigen einem das Porträt von König Idris, das sie auf ihrem Mobiltelefon gespeichert haben. Man spricht respektvoll vom ehemaligen König und von Omar Mukhtar, jenem berühmten Anführer der libyschen Guerilla, der gegen die Italiener kämpfte und 1931 in Bengasi hingerichtet wurde. Sein Großenkel Mari sitzt Abend für Abend in einem Wasserpfeifencafé und erzählt stolz von seinem Urgroßvater. Er hat in England studiert und spricht, anders als die meisten Libyer, fließend Englisch. Unter Gaddafi habe er keine Fremdsprachen in der Schule lernen können, Englisch habe er sich selber beigebracht, sagt sein Freund, der Student Osama.
Nicht weit vom Stadtzentrum entfernt, in einem Hof, liegen gestapelt Dutzende von Katju­sha-Ra­keten. »Unsere Unterstützung für die Revolutionäre in Misrata«, erklärt der junge Gastgeber. Die heftig umkämpfte westlibysche Stadt, in der über 1 000 Menschen als »verschwunden« regis­triert sind, ist noch immer von Gaddafis Truppen eingeschlossen und nur über den Seeweg erreichbar. Jeden Tag verlassen Schiffe mit Nahrungsmitteln, Munition, Waffen und neuen Kämpfern den Hafen, um am nächsten Tag mit Verwundeten zurückzukehren. Die befreiten Städte in Südwestlibyen werden hingegen aus der Luft versorgt. Auch mit Hilfe europäischer Militärausbilder scheinen sich die Truppen des »freien Libyen« – sie alle lehnen es strikt ab, Rebellen genannt zu werden – besser zu organisieren. Die zwei ersten Brigaden der neuen Armee wurden am vorvergangenen Sonntag vereidigt. Das Ereignis zog Tausende aus Bengasi an, die ihre neue Armee begeistert feierten – Frauen und Männer säuberlich getrennt.

Und die Islamisten, die Gaddafis Propaganda zufolge Bengasi unter Kontrolle haben? Beim Aufmarsch der neuen Soldaten sieht man hin und wieder die für sie so typischen Bärte, aber keineswegs mehr als in Ägypten oder anderen arabischen Staaten. Zu deren Einfluss befragt, meint Mari, die Libyer seien keine Radikalen; im Übrigen gehöre Gott in den Himmel, Politik aber müsse auf Erden gemacht werden. Ostlibyen galt allerdings früher als Hochburg der Islamisten, und nachweislich kämpfen einige Jihadisten mit den Milizen an der Front. Darauf angesprochen, winkt Ibrahim nur ab: Das alles sei Propaganda von Gaddafi, nicht weiter ernst zu nehmen. Anders als im benachbarten Ägypten oder in Tunesien, wo inzwischen die Konflikte zwischen Muslimbrüdern und Jugendbewegung offen zutage treten, pflegt man in Libyen das »Wir-Gefühl«: Alle, die gegen Gaddafi kämpfen, gehören dazu, der Rapper ebenso wie der Bärtige.
Gläubig geben sie sich irgendwie alle, Bengasi wirkt trotz Graffiti und Revolutionsromantik wie eine konservative, völlig von Männern dominierte Stadt. Immerhin, eine organisierte islamistische Partei existiert hier so wenig wie andere Parteien auch. All das war unter der Herrschaft Gaddafis strikt verboten. Ob das völlige Fehlen politischer Strukturen sich für das künftige Libyen als Fluch oder Segen erweisen wird, wird sich zeigen. Zumindest muss man sich nicht wie in den Nachbarstaaten mit der Erbschaft des 20. Jahrhunderts herumschlagen, also mit pseudosozialistischen, panarabischen oder anderen organisierten Kräften, sondern ist genötigt, sozusagen bei Null zu beginnen. Man hat aber auch keine großen ökonomischen Probleme zu befürchten: Libyen ist reich an Öl, es dürfte ein Leichtes sein, den paar Millionen Menschen im Land eine einigermaßen gesicherte Existenz zu garantieren. Sichtbare Armut scheint nicht das Problem in Libyen zu sein. So fehlen in den Straßen Bengasis die für Ägypten so typischen Straßenhändler und Schuhputzer, auch arbeitende oder bettelnde Kinder sind nirgends zu sehen. Aber man will den Reichtum für sich. »Gaddafi hat all unser Geld in seine afrikanischen Projekte gesteckt«, beschwert sich ein Taxifahrer.
Die »Afrikaner«, also jene Arbeitsmigranten aus den südlichen Nachbarstaaten Libyens, sind nicht wohl gelitten. Man wirft ihnen vor, es mit Gaddafi gehalten, gar als Söldner für ihn gekämpft zu haben. Das Resultat: Zehntausende von Flüchtlingen aus dem Tschad, Mali, Niger und anderen schwarzafrikanischen Ländern fristen zurzeit in Tunesien und Ägypten ihr Dasein in Flüchtlings­lagern. Viele sind vor dem Krieg in die Nachbarländer geflohen, viele aber auch aus Angst vor rassistischen Übergriffen in Ostlibyen. Handelt es sich bei den Schwarzen hingegen um Landsleute aus dem Süden des Landes, scheint es keine größeren Probleme zu geben. Ahmed etwa, ein hochgewachsener Schwarzer mit kleinen grauen Einsprengseln in seinem Kinnbärtchen, der elf Jahre als Soldat in der libyschen Armee gedient hat und nun als Berater der Anti-Gaddafi-Truppen an der Front tätig ist, stellt bei einer Runde über den Tahrir Square seinen ausgedehnten Freundeskreis vor: Soldaten wie Zivilisten, Schwarze, Weiße. Ressentiments? Fehlanzeige.

Die Dankbarkeit gegenüber Frankreich, Großbritannien und den USA ist allgegenwärtig. Franzö­sische Flaggen fährt man stolz auf seinem Moped herum. Wie Rod Nordland in der New York Times verwundert feststellte, dürfte es sich bei »Free Libya« wohl um die erste populäre arabische Bewegung handeln, die auch unter der Trikolore und den Stars and Stripes gegen die autoritäre Herrschaft kämpft und dies keineswegs als Widerspruch empfindet. Zu gut erinnert man sich hier an den 19. März, als Gaddafis Panzer in die Vororte Bengasis einrollten und die libysche Revolution vor dem Scheitern stand. Was ohne den Einsatz der französischen Luftwaffe geschehen wäre? »Schlimmer als das, was Assad in Syrien gerade macht. Ein Massaker«, ist Ibrahim Tabashi sich ­sicher. »Wir zeigen unsere Dankbarkeit, auch wenn wir wissen, dass alle westlichen Länder mit Gaddafi kooperiert haben«, fügt er hinzu.
In den Zelten und an den Wänden der Gebäude auf dem Platz hängen Hunderte von verblichenen Fotos, von den Opfern des Gefängnismassakers von 1996 ebenso wie von »Verschwundenen«. Unbekannt ist bislang, wie viele Menschen dem Regime Gaddafis in den vergangenen 42 Jahren zum Opfer gefallen sind. Allein seit dem Beginn der Aufstände sollen über 10 000 Menschen getötet worden sein. Und deshalb haben fast alle, die man trifft, Geschichten zu erzählen über Verhaftungen, Folter und den alltäglichen Geheimdienstterror. Frei wolle man nun sein, das hört man immer wieder, in einer Demokratie leben. Wie diese aussehen soll? Die Antworten bleiben vage. Erst müsse Gaddafi gestürzt werden, dann könne man sich weitere Gedanken machen. Der TNC erklärt immerhin in seinem Gründungsmanifest, man strebe eine säkulare und demokratische Republik an.
Und angeblich hat er sogar eine Note an Benjamin Netanjahu senden lassen: Man wolle im Falle eines Sieges Israel diplomatisch anerkennen. Nicht selten sieht man aber auch die Grafitti »Gaddafi: Zionist« oder Konterfeis des Diktators mit dem Davidstern auf der Stirn. Eine Frau, die die Müllabfuhr der Stadt reorganisieren möchte, schwärmt derweil von einer islamischen Demokratie und äußert als ihren sehnlichsten Wunsch, bald in Jerusalem beten zu können. Die drei Jugendlichen, die ihr Auto anhalten, um ein herzliches »Welcome« loszuwerden, haben andere Prioritäten: »Wir wollen Freiheit, Frieden, Bildung.«

Aber wie in allen anderen arabischen Ländern auch wird die große Frage sein, ob dieser Wunsch in Erfüllung geht. Denn die Jugendlichen sind weitestgehend unorganisiert, das politische Establishment der Opposition besteht zum größten Teil aus ehemaligen Mitgliedern der Gaddafi-Regierung oder Libyern, die nach Ausbruch des Aufstandes aus dem Exil zurückgekehrt sind. Noch aber ahnt man diese Widersprüche mehr, als dass sie ausgesprochen werden, noch eint ein Wunsch die Menschen auf dem Tahrir Square: dass Gaddafi möglichst bald gestürzt werden möge. »We have a dream«, steht groß auf einem Plakat geschrieben, das früher wohl ein Konterfei des Oberst geschmückt hat, »that is to be free«.