Über die Biennale in Venedig

Nur die Harten kommen in den Pavillon

Treppauf, treppab über pittoresk stinkende Lagunen, vorbei an Abramowitschs hochhaushoher Yacht vor den Giardini, Ellbogen an Ellbogen mit reichen Sammlern und korrupten Politikern: Die Biennale von Venedig ist immer noch die spektakulärste Kunstschau der Welt.

Oh my god!« Die junge Frau, die sich auf die Bank vor der großen Leinwand sinken lässt, ist sichtlich entsetzt. Auf der Leinwand sind gerade in Großaufnahme die haarigen Waden von Ginger Brooks Takahashi, einem ehemaligen Mitglied der Band MEN, zu sehen, die im Video »No Past« von Pauline Boudry und Renate Lorenz eine Gitarre zertrümmert. Die beiden in Berlin lebenden Künstlerinnen bestreiten auf Einladung der Betreiberin der queeren Zürcher Galerie Les Complices, Andrea Thal, einen Teil des offiziellen Schweiz-Länderbeitrags zur diesjährigen Biennale. Ihr Filmarbeit funktioniert als artifiziell-stylishes Reenactment von Punkgeschichte aus weiblich-queerer Perspektive. Die Widerspenstigkeit dieser Arbeit, die hier an einem ruhigen Ufer abseits der Hauptspielorte mit einer beiläufigen Selbstverständlichkeit inszeniert ist, sticht deutlich heraus innerhalb des »letzten Karnevals« der Kunst, den der französische Künstler Christian Boltanski schlicht »deprimierend« findet.
Die sympathische Kuratorin des diesjährigen Spektakels, die Schweizerin Bice Curiger, hat gar nicht erst den Versuch unternommen, die Leistungsschau unter ein Motto zu fassen. Sie spricht lieber von »Illuminazioni«, also Erleuchtung durch die Kunst. Im Hauptpavillon der Giardini wurden ein paar alte Tintoretto-Schinken zusammengekarrt, um die sich einige der von ihr kuratierten Werke gruppieren, die sich gegenseitig erleuchten – oder auch nicht. Natürlich unterscheidet sich die Mega-Ausstellung, die wie jedes Jahr nur mäßige Kritiken bekommt und als Adabei-Event für »Krethi und Plethi« (O-Ton ORF) gemaßregelt wird, nicht maßgeblich von den vorangegangenen, sondern bildet erneut das ab, was die Kuratorin zum gegebenen Zeitpunkt für gut und relevant erachtet. Dass dabei die schier endlose Aneinanderreihung von Werken und Namen im langgestreckten Werkshallen-Ambiente des wunderschön industriellen Arsenals eher an eine Kunstmesse denken lassen, ist wenig verwunderlich. In diesem Rahmen haben kleinformatige, leisere Arbeiten kaum Chancen, neben den klotzigen Spaß- und Spektakel-Künstlern zu bestehen: Die österreichische Kunst-Boygroup Gelitin schmilzt mit musikalischer Unterstützung von Japanther publikumswirksam Glas, Loris Gréaud hat einen begehbaren Wal gebaut, und der Schweizer Witzbold Urs Fischer lässt drei riesige Kerzen – eine in Form der berühmten Skultptur »Der Raub der Sabinerinnen« von Giovanni Bologna, eine in Form seines Freundes Rudolf Stingel und eine im Bürostuhl-Format – vor den Augen der kichernden Besucherinnen und Besucher langsam herunterbrennen. Die Türkin Ayse Erkmen ist eine der wenigen, die es schaffen, ästhetisch spektakulär und inhaltlich subtil zu sein. Ihre kühl-bunte, weitverzweigte Wasserrohr-Installation macht auf die Flüchtigkeit internationaler Finanzströme wie auch ganz konkret auf die venezianische sowie globale Wasserversorungsproblematik aufmerksam, indem sie Wasser aus der Lagune zieht, es aufbereitet und dann einfach wieder zurückpumpt. Sie liefert damit einen spannenden Gegenpart zum israelischen Beitrag in den Giardini, mit dem Sigalit Landau mit großen Wasserohren und Salzskulpturen auf die drohende Naturkatastrophe am Toten Meer hinweist und eine Völkerverständigung symbolisierende Salzbrücke zwischen Israel und Jordanien projektiert.
Von vier KünstlerInnen hat Curiger Parapavillons anfertigen lassen, die die Länderpavillons mit ihrem überholten Nationalkonzept (exzellent in Frage gestellt vom leider in die Stadt ausgelagerten »Roma-Pavillon«) in den Giardini spiegeln oder karikieren und in ihnen Werke anderer ausstellen lassen. Am überzeugendsten ist hierbei wohl die Kooperation von Monika Sosnowska und dem Südafrikaner David Goldblatt: In spitz verwinkelten, edel anmutenden Tapetenwänden stellen sie Fotografien von straffällig gewordenen Landsleuten aus, die von erschütternden Armuts-Biografien flankiert sind.
Doch das explizit Politische spielt in diesem Jahr (wieder) keine große Rolle in Venedig, und aktuelle Bezüge werden meist eher nicht hergestellt. Zwar zeigt Ägypten einen in letzter Minute ausgewählten Videobeitrag des Ende Januar auf dem Tahrir-Platz erschossenen Performance-Künstlers Ahmed Basiony, der die Revolutionstage auf Film festgehalten hatte. Doch Gastgeber Italien hat sich mit Vittorio Sgarbi, der dem »Mafia-System« der Galerien ein offenes Kuratorium von 200 Kunst-Outsidern mit letztlich definitiv nicht satisfaktionsfähigen Selektionen entgegengesetzt hatte, bis auf die Knochen blamiert; die Islamische Republik Iran darf in einem offiziellen Beitrag in Cannaregio Fotos von »Märtyrern aus dem irakisch-iranischen Krieg« zeigen und türkisfarbene Anhänger verschenken; Griechenland schweigt elegant mit einem leeren Pavillon, in dem das Wasser unter dem schönen Motto »Beyond Reform« knöcheltief steht; und der zweite Schweizer Beitrag im Länderhäuschen in den Giardini, das der Messie-Künstler Thomas Hirschhorn bis oben hin mit vergänglichen Wohlstandsartikeln wie Handys, Plastikstühlen, Fernsehern und Zeitschriften zugemüllt hat, ist in seiner Plattheit schon fast ärgerlich: Unter dem Vorwand, den Umgang von Medien mit schockierenden Bilderfluten zu denunzieren, kleben überall grelle Ausdrucke von Erhängungs-Opfern, zerfetzten Leibern und zerfleischten Gesichtern, die keinerlei Kommentar oder Analyse sichtbar werden lassen, sondern nur lüstern das reproduzieren, was sie vermeintlich kritisieren. Da scheinen die in ihrer Zivilisationskritik anklagenden Fotografien von Taryn Simon im benachbarten dänischen Pavillon, die zum Beispiel eine Nachstellung eines irakischen Falls von Vergewaltigung und Mord durch US-Soldaten zeigen, beinahe subtil. Doch das Motto der Dänen, »Freedom of Speech«, das unter anderem mit Comics von Robert Crumb bebildert wird, wirkt trotz interessanter Ansätze allzu schülerhaft bemüht. Spektakulärer ist da der kontrovers diskutierte polnische Pavillon, in dem die israelische Künstlerin Yael Bartana mit drei im Propaganda-Stil gehaltenen Videos israelische Juden dazu aufruft, nach Polen zu migrieren und »40 Million Poles« mit einem »Jewish Renaissance Movement in Poland« glücklich zu machen.
Ein Spektakel hätte es auch im deutschen Pavillon, dem Gewinner des Goldenen Löwen, geben sollen, wenn nicht Christoph Schlingensiefs Tod 2010 dazwischengekommen wäre. Anstelle der typisch Schlingensiefschen egomanen Transgression, die u.a. angeblich die Schwarzfärbung weißer Besucher und Besucherinnen und die Ausstellung von afrikanischen ComputerarbeiterInnen in Käfigen beinhaltet hätte, findet sich nur ein ehrfürchtiges Kirchen-Mausoleum der Kuratorin und der Witwe, die sorgfältig das inventarisiert haben, was von Schlingensiefs deutscher Helden- und Katholizismus-Besessenheit ausstellbar blieb. Dass das ohne die Präsenz des Provokateurs nicht viel ist, dafür können die beiden Frauen freilich nichts, doch die Frage nach der Sinnhaftigkeit dieser schwachen Imitatio drängt sich dennoch auf.
Am beliebtesten scheint, neben den vielen gespenstisch-professionellen Videoproduktionen wie den surrealen Körperbildern des Österreichers Markus Schinwald, der grotesk-lustigen Alltagsoper der Ungarin Hajnal Németh oder dem unterhaltsam-exzentrischen Klamauk des Briten Nathaniel Mellors, sowieso alles zu sein, was irgendwie groß ist, irgendwie kritisch und dabei leicht nachvollziehbar und auf jeden Fall spektakulär. In diese Kategorie fallen auch die Installations-Performances des kubanisch-amerikanischen Duos Allora & Calzadilla, das erstaunlicherweise den USA-Pavillon bespielen darf, obwohl Guillermo Calzadilla keinen amerikanischen Pass besitzt: Athletinnen und Athleten aus den Nationalmannschaften joggen auf einem umgedrehten Panzer oder turnen über Business-Class-Flugzeugschlafsessel. Und, was soll man sagen, bei der Betrachtung des unheimlich eleganten Schauspiels geht es einem wie bei der ganzen Biennale: Man fühlt sich milde unterhalten und findet’s, trotz allem, gar nicht schlecht.