Die Flucht der »uncontacted tribes«

Sie wollen draußen bleiben

Bilder von sogenannten uncontacted tribes, also vollkommen isoliert lebenden indigenen Gruppen, werden immer wieder in den Medien verbreitet. Dass es jedoch tatsächlich Menschen gibt, die nichts von der sie umgebenden Menschheit wissen, ist unwahrscheinlich. Die Stämme in Amazonien oder auf Papua-Neuguinea vermeiden den Kontakt eher aus triftigen Gründen.

Als die indische Küstenwache nach dem Tsunami im Jahr 2004 mit einem Hubschrauber auf der Insel North Sentinel Island im Golf von Bengalen nach Überlebenden suchte, schoss sie ein Foto, das beinahe etwas Ikonografisches hat. Ein Angehöriger des Stammes der Sentinelesen war damals mit Pfeil und Bogen auf den Hubschrauber zugerannt und hatte den Pfeil auf die Maschine gerichtet. Das Foto hält diesen Moment fest und ist so etwas wie der gültige Ausdruck dessen, was man uncontacted tribes oder uncontacted peoples nennt: also Menschen oder Stämme, die den Kontakt zur globalisierten Gesellschaft der Gegenwart meiden beziehungsweise noch nie Kontakt zu ihr hatten. Wobei letzteres höchstwahrscheinlich eher Teil jener Legenden ist, die sich um die mal »edlen«, mal unheimlichen sogenannten letzten Steinzeitmenschen oder Wilden ranken, seit sich der Zivilisationsprozess die Erde im fortschreitenden Maße Untertan gemacht hat. Dass es überhaupt unentdeckte Stämme auf der Erde gibt, halten viele Ethnologen für baren Unsinn.

Dennoch tauchen immer wieder Fotos auf, die mit der Meldung um die Welt geschickt werden, es handele sich bei den Abgebildeten um Menschen, die der zivilisierten Welt bisher unbekannt waren. Besonders beliebte Gegenden für solche vermeintlichen Entdeckungen sind die Amazonasregion und Neuguinea. Im Internet kann man auf der Seite uncontactedtribes.org viele Beispiele für solche Bilder finden. Um einen besonders ekelhaften Auswuchs des Trends, der um die uncontacted tribes entstanden ist, handelt es sich bei einer Idee der Reiseagentur »Papua Adventures«: Interessierte können unter der Rubrik »First Contact« auch Reisen nach Papua-Neuguinea buchen, für die ihnen ein »erster Kontakt« mit bis dahin »unberührten Wilden« in »freier Natur« versprochen wird. Vom Kitsch in den Anzeigen der Agentur einmal abgesehen, handelt es sich bei einem solchen Versprechen selbstverständlich um reinen Nepp, der sich in keinem anderen Geschichtsrahmen bewegt als in dem des alten Kolonialismus.
Es ist seit einiger Zeit bekannt, dass die Stämme, die sich immer tiefer in die letzten Urwälder Amazoniens oder die Bergregionen Neuguineas zurückziehen und den Kontakt zur zivilisierten Menschheit meiden, sehr wohl wissen, was sie tun und vor allem: wem sie da ausweichen. Es sind in der Regel Stämme auf dem Rückzug und nicht »unentdeckte Wilde«, die wie in einem Zeitloch statisch auf dem Niveau der Steinzeit verharren. Sie haben eine genauso lange und dynamische Geschichte hinter sich wie alle anderen Kulturen der Menschheit. Sie haben nur auf andere Sachen Wert gelegt als auf Schrift, Abenteuerreisen und Börsennotizen. Bekannt ist das alles seit Claude Lévi-Strauss’ Büchern über seine Expeditionen zum Amazonas.
In Brasilien hatte Lévi-Strauss Ende der dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts mehrere Expeditionen in bis dahin nicht erschlossene Gebiete der Amazonas-Indianer unternommen. Dabei machte er eine nur scheinbar paradoxe Entdeckung: Je weiter die Indianer von der Zivilisation entfernt lebten, desto ärmer und dürftiger boten sich ihre Kulturen und ihre Lebensbedingungen dar. Sie waren keine unberührten »Wilden« mehr, sondern waren bereits in den dreißiger Jahren von der westlichen Zivilisation in Mitleidenschaft gezogen worden, ihre Kultur war wesentlich zerstört, und die Indianer waren auf die einfachsten Formen sozialen Lebens zurückgeworfen worden. Die Entdeckung Amerikas durch die Europäer war eine Katastrophe für sie. Das Buch, in dem Lévi-Strauss zum erstenmal diese Diagnose außerhalb ethnologischer Zirkel verbreitete, heißt auch deshalb »Traurige Tropen«.

Was Lévi-Strauss aber in der Folge in seinen Analysen der Strukturen der indigenen Gesellschaften, die er untersucht hatte, unmissverständlich klarstellte, war, dass diese genauso wie alle anderen Gesellschaftsformen auch auf rational nachvollziehbaren Verkehrsformen basierten, die sich geschichtlich entwickelt hatten. Mit der historischen Steinzeit hatten sie wahrscheinlich weniger zu schaffen als die westliche Zivilisation, einfach weil sie andere Dinge zu tun hatten, als sich »edle« oder »böse Wilde« auszudenken.
Diese Erkenntnisse hinterließen zumindest unter sensibleren Geistern der zivilisierten Welt und bis hinein in die Gremien der Uno ihre Spuren. Es ist nicht übertrieben festzustellen, dass die eingangs erwähnten Sentinelesen nur deshalb noch so leben, wie sie es tun, weil es Lévi-Strauss und andere Ethnologen seiner Schule gab. Seit Ende der neunziger Jahre achtet die indische Regierung darauf, dass der Stamm auf seiner kleinen Insel, die zur Gruppe der Andamanen gehört, in Ruhe gelassen wird. Eine Kontaktaufnahme mit den Sentinelesen ist streng untersagt.
Zum Thema in der Presse werden sie über die Grenzen Indiens hinaus meist dann, wenn in dem Land wie in diesem Jahr eine Volkszählung ansteht. Da sie als wenig gastfreundlich gelten, niemand ihre Sprache spricht und keiner die Insel betreten darf, weiß auch niemand, wie viele Sentinelesen es gibt. Die letzte gesicherte Zahl von 39 Menschen stammt aus der Volkszählung von 2001. Damals hatte man Kokosnüsse an den Strand der ansonsten dicht bewaldeten Insel geworfen und dann die Fotos von den Menschen ausgewertet, die die Früchte einsammelten.
Dass die Behörden in diesem Jahr wieder genauso verfahren wollen, hat der Regierung die Kritik des Ethnologen Vishvajit Pandya eingebracht. Pandya, der zu den wenigen Wissenschaftlern zählt, die die Insel der Sentinelesen schon einmal betreten haben, hält es für unerlässlich, dass man genauere Daten über die Lebensweise des Stammes erhebt. Nur so könne man verhindern, dass die Sentinelesen zur Projektionsfläche und zu passiven Opfern der modernen Welt würden, sagte der Wissenschaftler im vergangenen Jahr in einem Interview in der FAZ. Die Macher christlicher Websites sähen in den Sentinelesen schon jetzt die letzten Kinder Gottes, das Netz sei voll mit Hinweisen auf die »Steinzeitmenschen«, die besonders fremdenfeindlich seien und keine Ahnung von der Welt hätten, die sie umgibt. Das könne jedoch einfach nicht wahr sein, weil der Golf von Bengalen seit Jahrhunderten ein genutzter Handelsweg sei, merkte Pandya an. Seine Denkart ist der von Lévi-Strauss sehr ähnlich. Das Kontaktverbot entzieht den Stamm aber auch dem Universalitätsanspruch der Wissenschaften, für die es schon per Definition keine terra incognita geben kann. »Als Anthropologe wäre ich natürlich glücklicher, wenn ich mich mit den Sentinelesen aus einer geringeren Distanz beschäftigen dürfte«, sagte Pandya der FAZ offensichtlich mit Bedauern.
Dabei sind Pandya die Probleme seiner Forderung nach einem rationalen Zugriff auf das Leben der Sentinelesen sehr wohl bewußt. Es gibt auf der Hauptinsel der Andamanen einen Stamm, die Jarava, der bis 1997 ebenfalls jeden Kontakt zur indischen Zivilisation tunlichst vermied. In dem Jahr stimmten die Jarava aber dem Bau einer Bundesstraße durch ihr Territorium zu. Seitdem sieht man immer häufiger vor allem Kinder der Jarava, die den Wald verlassen, um an der Straße zu betteln. Dies ist nicht nur für Pandya ein Indiz dafür, dass die Sentinelesen nicht aus Fremdenfeindlichkeit oder steinzeitlicher Seelenbeschaffenheit jeden Kontakt zu anderen Menschen meiden, sondern weil sie sich selbst und ihre Lebensweise schützen wollen.

Dass die meisten indigenen Stämme, die sich in die Wälder zurückziehen, eine sehr klare Vorstellung von ihrer Unterlegenheit gegenüber dem sogenannten Zivilisationsprozess haben, war schon Lévi-Strauss nicht entgangen. Pandya hält denn auch das Kontaktverbot der indischen Regierung zuerst für einen Fortschritt. Vorher nämlich wollte man die Sentinelesen langsam an die Zivilisation heranführen, den Wald auf der Insel zu einer Kokosnussplantage machen und die Sentinelesen zu Plantagenarbeitern umerziehen. Dass das ihr Ende gewesen wäre, haben diese klugerweise schnell bemerkt, und so haben sie auf die freundlichen Annäherungsversuche der Inder weniger freundlich reagiert.
Damit haben sie eine kleine Insel aber nicht nur dem Zugriff der rationalen Wissenschaft entzogen, sondern auch dem Wirtschaftssystem, das als konkurrenzlos gilt und zurzeit in Amazonien und Neuguinea fortschreitend aus Wäldern Toilettenpapier macht. Doch wie lange wird Indien es sich noch leisten können, sich dem internationalen Markt für Toilettenpapier zu entziehen? Die Antwort auf diese Frage betrifft dann allerdings nicht nur die inneren Angelegenheiten der Sentinelesen.