Über den Film »Schlafkrankheit«

Stranger in the Night

Ulrich Köhlers Film »Schlafkrankheit« erzählt von einem Europäer, der in Afrika lebt und sich als Fremder im Fremdsein eingerichtet hat.

Eine Autofahrt in der Unübersichtlichkeit einer tiefschwarzen Nacht. Das aufblitzende Scheinwerferlicht vorbeidonnernder Lastwagen erhellt für Sekundenbruchteile Ausschnitte der Szenerie. Die Fahrzeuge transportieren massige Baumstämme. Ansonsten: Schwarz, Ungewissheit, ein unspezifisches Nirgendwo, und doch liegt etwas merklich Schroffes in dieser Umgebung. Bald darauf taucht eine Straßensperre auf. Die bewaffneten Gendarmen suchen nach einem Anlass, dem in Kamerun tätigen Arzt und Entwicklungshelfer Ebbo Velten (Pierre Bokma), der mit Frau und Tochter unterwegs ist, ein bisschen Geld abzuknöpfen, und es beginnt ein kleines Machtspiel zwischen beiden Seiten, das für den Zuschauer anfangs noch etwas bedrohlich scheint, sich aber schnell als Routine herausstellt.
Die Dunkelheit als sonderbar entgrenzter Raum und die damit verbundene Suche nach Halt und Selbstpositionierung sind in Ulrich Köhlers Film »Schlafkrankheit« wiederkehrende Motive. Dabei evozieren die nur von Scheinwerfern, Taschen- und Stirnlampen durchbrochenen Nachtbilder keine traumähnlich-flirrende Atmosphäre wie in den Filmen des thailändischen Regisseurs Apichatpong Weerasethakul, dem Über-Autor entschleunigter nächtlicher Dschungelbilder schlechthin. Bei Köhler geht es vielmehr um das überaus reale Bedürfnis nach räumlicher Orientierung, vor allem wenn das Geschehen unaufhaltsam in den tiefen Wald drängt. Es ist fast unmöglich, den Topos vom »Herz der Finsternis« bei diesen nach Gewissheit tastenden Bildern nicht mitzudenken, so tief hat er sich eingeschrieben in den Blick von Europa nach Afrika, von Joseph Conrads berühmtem Roman aus der kolonialen Epoche bis ins postkoloniale Zeitalter hinein. Natürlich hat »Schlafkrankheit« mit Conrads exotischen Afrika-Konstruktionen und ihrer Überhöhung ins Mystische rein gar nicht zu tun, aber in der Darstellung des Nächtlichen nähert er sich dem Roman dann doch an. Vor allem aber findet sich in der Figur des Ebbo Velten ein signifikantes Motiv aus »Heart of Darkness« paraphrasiert: ein Europäer, der sich in Afrika verliert, ohne jemals irgendwo anzukommen, ein Fremder, der sich im Fremdsein eingerichtet hat.
Zu Anfang noch steht die Rückkehr nach Europa – ins mittelhessische Wetzlar – bevor. Die 14jährige Tochter ist zu einem letzten Besuch angereist, der Abschied wird vorbereitet. Die Familie geht schwimmen, die Tochter bockt ein bisschen, die Ehefrau ist auf frappierende Art gelassen, Ebbo wird sentimental. Alles scheint seinen geplanten Gang zu nehmen, aber irgendetwas hakt. Ausgesprochen wird es nicht – man kennt diese Form des phlegmatischen Konflikts aus Köhlers Filmen, vor allem aus »Montag kommen die Fenster«. Ebbo macht es sich schwer, er verschleppt den Abschied. Dass er in Afrika geblieben ist, gibt der Film erst viel später preis. Denn zunächst, nach einer Schwarzblende (»drei Jahre später«), wechselt er den Schauplatz und die Perspektive und wendet sich einer zweiten Hauptfigur zu.
Alex Nzila (Jean-Christophe Folly) ist ein in Paris geborener Mediziner mit kongolesischem Hintergrund, der im Auftrag der WHO das von Ebbo geleitete Entwicklungshilfeprojekt zur Schlafkrankheit überprüfen soll. Bei seiner Ankunft in Kamerun verhält er sich zunächst wie ein ängstlich mit Vorurteilen beladener Tourist, auch wenn seine schwarze Hautfarbe ihn dort nicht als Fremden ausweist. Er traut weder dem Taxifahrer noch dem Zigarettenverkäufer über den Weg. Er wird zu seinem Quartier geführt und dort in der stockfinsteren Nacht einfach stehen gelassen. Ein Gefühl der Ohnmacht stellt sich ein, und irgendwann überfällt sie ihn dann buchstäblich.
Ebbo Velten ist für den angereisten Alex zunächst nicht erreichbar. Velten sei ein viel beschäftigter Mann, heißt es. Der Film schiebt die Begegnung zwischen den beiden Männern jetzt ebenso auf wie zuvor die Rückkehr Veltens nach Deutschland. Ihn nun als Phantom zu inszenieren, ist auch insofern eine schöne Idee, als im Film zuvor schon vom »Geisterglauben« die Rede war, von Menschen, die sich verwandeln, etwa in Tiere. Tatsächlich liegt in Ebbo Veltens verhuschter Form der Aggression auch etwas spürbar Monströses verborgen. Als Alex ihn schließlich zu Gesicht bekommt, zeigt sich das Ausmaß seiner Verlorenheit. Das Projekt zur Schlafkrankheit wird kaum mehr betrieben, stattdessen ist Ebbo in ein Touristenprojekt eines schmierigen französischen Geschäftspartners eingestiegen. Von einer kamerunischen Frau hat er gerade ein Kind bekommen, doch er wirkt seltsam unbeteiligt. Als die Familie der Geliebten zu Besuch kommt, wird deutlich, dass er die Rolle des privilegierten Weißen nicht ablegen kann. Die Verwandten stellen finanzielle Forderungen, die anmaßend und dreist sind, doch Ebbos barsche Zurückweisung stellt eine Machtordnung her, die eben nur scheinbar der Vergangenheit angehört. Ohne Aussicht, irgendwann dazuzugehören, hängt er verloren zwischen zwei Welten und ist sich selbst dabei fremd geworden.
Aber auch Alex’ Position hat etwas Instabiles. In Kamerun wird er über seine afrikanischen Wurzeln definiert, seine europäische Herkunft wird dagegen fast ungläubig registriert. Zu Hause in Paris wiederum wird er – wenn auch ironisch gebrochen – mit rassistischen Klischees konfrontiert: »Stimmt es, dass schwarze Männer große Schwänze haben?« ist einmal das Gesprächsthema in der Krankenhaus-Cafeteria.
Köhler erzählt aus einer Perspektive, die sich explizit als europäische zu erkennen gibt, und mit der Gewissheit, dass es für einen Europäer in Afrika nichts anderes als die Position des Außenseiters und Fremden geben kann. Doch während »Schlafkrankheit« davon handelt, sich zu verlieren, behält der Regisseur konsequent die Übersicht. So gibt es im Film auch keine Momente des haptischen Zugriffs und des physischen Eintauchens in die Umgebung wie etwa bei Claire Denis, die ihren letzten Film »White Material« ebenfalls in Kamerun gedreht hat – auch sie hat von der Trennung zwischen dem Bereich der Schwarzen und dem der Weißen erzählt. Bei Köhler ist die Kamera den Figuren immer äußerlich, sie registriert alles aufmerksam und präzise, aber mit großer Distanz. »Schlafkrankheit« überzeugt daher vor allem als klug gebauter Film mit seinen zwei Teilen, seinen beiden »gespiegelten« Hauptfiguren und seinen postkolonialen Verstrickungen und Komplikationen, die jedoch immer offen und ambivalent bleiben und nie aufs Thesenhafte heruntergebrochen werden. Umso gelöster wirkt es, wenn die Erzählung am Ende hineintreibt in die Ungewissheit einer tiefschwarzen Nacht.

»Schlafkrankheit« (D 2010). Regie: Ulrich Köhler.
Start: 16. Juni