Über die Berliner Ausstellung »Alles Kannibalen?«

Sensibel werden für den Schinken

Die Ausstellung »Alles Kannibalen?« im Me Collectors Room in Berlin zeigt Gemälde, Fotos und Radierungen zum Thema Anthropophagie.

Fangen Sie am Besten oben an, beim Kartoffelmann«, empfiehlt die Frau an der Kasse des Me Collectors Room, einer Ausstellungshalle in der Berliner Auguststraße. Das Gebäude ist eines der wenigen modernen im Eldorado der Altbau-Galerien in Berlin-Mitte, die Architektur ist offen und einladend. Im vorderen Bereich gibt es ein Café, dahinter befindet sich der Museumsshop, der nahtlos in die zweistöckigen, offenen Ausstellungsräume übergeht.
Eine Treppe neben der Kasse führt auf die Balustrade, von der aus man den Eingangsbereich überblickt. Der Weg in das obere Stockwerk führt vorbei an einer Videoinstallation von Patty Chang: In »Melons (at a loss)« löffelt eine Frau das Fruchtfleisch aus einer aufgeschnittenen Melone, die in ihrem BH steckt. Auf der Balus­tra­de sitzt der »Kartoffelmann«, eine Plastik von John Isaac mit dem Titel »In Advance of the Situation«. Der »Kartoffelmann« besitzt menschliche Größe, trägt eine Anzughose, ein weißes Hemd, einen Schlips und schwarze Schuhe. Er lässt den Kopf hängen, seinen riesigen Kartoffelkopf. In der Mitte des Raumes, über den Tischen des Cafés und in Höhe der Balustrade sitzen ausgestopfte Vögel auf einer großen, runden Messingfassung. Die Installation der britischen Tierpräparate-Künstlerin Polly Morgan trägt den Titel »Departures«. Der Titel der Ausstellung lautet »Alles Kannibalen?«, und schon die der ersten drei Objekte zeigen, wie weit der Begriff »Kannibale« hier gefasst wird.
Die Ausstellungshalle wurde von dem Kunstsammler Thomas Olbricht geplant und erbaut. Der 63jährige Chemiker und Arzt hat in den vergangenen 25 Jahren eine umfangreiche Privatsammlung zusammengetragen, die er nun der Öffentlichkeit zugänglich machen möchte. Drei Ausstellungen pro Jahr sind geplant. Dabei erhalten Kuratoren die Möglichkeit, auf die Sammlung mit Exponaten aus über fünf Jahrhunderten zurückzugreifen. Bis Ende Mai wurde in den Räumen die Ausstellung »X-Rated« gezeigt. Eine gleichnamige Ausstellung mit Arbeiten von William N. Copley war erstmals im Jahr 1974 im New York Cultural Center gezeigt und wegen der pornographischen Darstellungen vor allem von Feministinnen angegriffen worden.
Nach »Sex sells« nun also das »Tabuthema« Kannibalismus: Die Kuratorin Jeanette Zwingenberg schreibt im Katalog, das Thema liege seit ungefähr zehn Jahren in der Luft, zahlreiche Künstler der Gegenwart beschäftigten sich mit dem Thema Kannibalismus. Interessant sei es, danach zu fragen, »was die Künstler als Seismographen unserer Gesellschaft damit zum Ausdruck bringen wollen«. Ihr geht es um einen »erweiterten Begriff des Kannibalismus: den imaginär-subjektiven, biologischen und sozial-politischen Bezug zu sich selbst wie zum Anderen im Sinne einer Einverleibung«. Durch die »Zeiten und Kontinente übergreifende Gegenüberstellung von insgesamt 100 Werken« soll »sowohl die Entwicklung als auch die Kontinuität der Thematik« verdeutlicht werden.
Tatsächlich geht es quer durch die Epochen und Stile: Vom »Kartoffelmann« führt ein Flur mit Tuschezeichnungen von Ralf Ziervogel in einen kleineren, verdunkelten Raum im oberen Stockwerk, der den Sammlungsräumen der Barockzeit nachempfunden ist. Auf Ziervogels Bilderkarten finden sich Zeichnungen von glatzköpfigen Superhelden, die sich ihre Penisse abschießen. In den gegenüberliegenden Vitrinen liegen Totenköpfe und andere Reliquien wie Schrumpfköpfe. Im sogenannten Mutter-und-Kind-Raum hängen Bilder von Cindy Sherman und Bettina Rheims. Das Thema Kannibalismus wird hier vor allem im Motiv des Stillens aufgegriffen. In den letzten drei Räumen im unteren Stockwerk geht es um die sakralen, kolonialen und profanen Aspekte des Kannibalismus, so steht es jedenfalls im Programmheft. Die Zeichnungen »Die Schrecken des Krieges« von Francisco de Goya hängen hier neben einem der Schrottbilder von Vik Muniz, die er zusammen mit brasilianischen Müllsammlern gestaltet hat. Sozialkitsch hängt neben Historischem, und daneben findet sich moderne Kunst von Oda Jaune, Norbert Bisky oder Jake & Dinos Chapman, von denen selbst Laien wissen, wie hoch sie gehandelt werden.
Die Kuratorin greift auf Claude Lévi-Strauss und seine Mythentheorie zurück. Im ersten Band »Mythologica 1: Das Rohe und das Gekochte« schreibt er: »Wir sind alle Kannibalen, das einfachste Mittel, sich mit dem Anderen zu identifizieren, ist noch, ihn zu essen.« Der Bezug auf die irgendwie geartete »Einverleibung des Anderen« erscheint aber ein bisschen dünn. Viele Themen werden lediglich angerissen: Kannibalismus als letztes Mittel zum Überleben, das Stillen der Kinder durch die Mutter, die rassistisch-kolonialistische Bearbeitung des Themas, die das Bild des Kannibalen als menschenfressenden Wilden noch heute evoziert. Die Offenheit der Auswahl ist gleichzeitig das größte Manko der Schau und setzt sich in der Konzeptlosigkeit des ganzen Hauses fort: Als Treffpunkt in der Stadt, als Eventraum und sogar noch als Raum für Kindergeburtstage soll es fungieren.
Die Ausstellungshalle hatte keinen guten Start in Berlin: Die moderne Architektur, die sich nicht harmonisch in die Altbaufassaden der Auguststraße einfügt, wurde kritisiert. Mit dem Tabu­thema »Kannibalismus«, das bereitwillig von sämtlichen Medien aufgegriffen wurde, soll das Publikum mit dem Haus und der Sammlung Olbricht bekannt gemacht werden. Sogar die Online-Ausgabe der Bild-Zeitung hievte das Thema auf ihre Startseite. Der Tabubruch war von den Kuratoren von Anfang an einkalkuliert. Der Kunstsammler, von dem der Satz stammt: »Es ist wunderbar zu sehen, wie ein altes ausgestopftes Tier auf ein Bild von heute schaut«, hatte wohl gehofft, mit seiner eigenwilligen Sammlung zum Shootingstar der Kunstszene der Hauptstadt avancieren zu können.
Es hätte funktionieren können. Die Sammlung zeichnet sich durch viele spannende Einzelstücke aus. Auch das Nebeneinander von Hoch- und Popkultur, Camp und Kitsch hat durchaus seinen Reiz, auch gibt das Thema Kannibalismus viel her: Die radioaktiv-verseuchten White-Trash-Menschenfresser aus »The Hills Have Eyes« von Wes Craven oder der Bösewicht Leatherface aus »Texas Chainsaw Massacre« aus den siebziger Jahren haben bis heute ihre Wirkung nicht verloren. Menschen, die sich an Menschen vergehen und ihre Opfer dann auch noch verspeisen, verkörpern das ultimative Grauen. Der Kannibale ist eine mythologische Figur, der man rein theoretisch auch im Alltag begegnen könnte. Das hat nicht zuletzt die detaillierte Berichterstattung über den »Kannibalen von Rotenburg« gezeigt, der der Anthropophagie ein Gesicht verliehen hat. Berichte über Internet-Suchanzeigen von Kannibalen oder über die Überlebenden des Uruguayan-Air-Force-Flugs, die die Leichname der Toten aßen, um zu überleben, sorgen stets für Schaudern und Gänsehaut.
Die Kuratorin hat Recht mit ihrer Feststellung, dass das Thema Aktualität besitzt: Kürzlich lief in deutschen Kinos der mexikanische Film »Wir sind, was wir sind« an. Der kühl-distanzierte, düstere Film porträtiert eine Familie, die sich von Menschenfleisch ernährt. In einem Alltag, der von Shopping und sozialer Entfremdung geprägt ist, verkörpern die mitleidlosen Kannibalen eine Gesellschaft, der die Empathie abhanden gekommen ist. Die Kannibalen reihen sich unter die mythischen Figuren wie Vampire und Zombies ein, die in ähnlicher Weise filmisch bearbeitet werden.
Doch je länger man sich in der Ausstellung umsieht, desto deutlicher wird, dass Kannibalen hier eher als Figuren aus dem postmodernen Kuriositätenkabinett fungieren. In der Kunstschau geht es zu wie im Museumsshop. DVDs von »Das Schweigen der Lämmer« liegen neben Augen-Flummies. Das Sammelsurium der Ausstellung wird hier ansatzlos weitergeführt. In der Auslage des Cafés liegt ein aufgeschnittener Schinken, für dessen Anblick man nun seltsam sensibilisiert ist. Ein letzter Schauer, und schon steht man wieder auf der sonnigen Auguststraße.

»Alles Kannibalen?«, Me Collectors Room, Berlin.
Bis 31. August