Die Proteste auf dem Athener Syntagma-Platz

Das Heulen nach Athen tragen

Der Syntagma-Platz in Athen ist das Zen­trum der Proteste. Die Polizei ist mit Gewalt und großen Mengen Tränengas gegen Demonstranten vorgegangen. Die Verbitterung über die Politik und die Staatsmacht wächst beständig.

Niko M. läuft mit breiten Schritten durch die Hitze in Richtung Syntagma-Platz. In seinem Rucksack hat er eine Gasmaske, um den Hals trägt er einen dünnen Schal. Es ist Donnerstagnachmittag. Am Tag zuvor wurden die jüngsten harten Sparmaßnahmen im griechischen Parlament verabschiedet, es kam zu gewalttätigen Ausschreitungen zwischen Polizei und Demonstranten. Viele Athener, die sich auf dem Syntagma-Platz aufhalten, tragen kleine weiße Masken vor dem Mund. In der Luft schwebt immer noch der Geruch des Tränengases. Auf dem Boden liegen Scherben von Marmorplatten, die einige meist vermummte Demonstranten auf die Polizisten geworfen hatten. Riesige Plakate mit Parolen gegen die Regierung und gegen die politischen Parteien hängen vor dem Parlamentsgebäude.
Niko blickt auf die Menschenmenge, die sich auch heute wieder trotz der angespannten Stimmung auf dem Platz versammelt hat, um gegen die Regierung zu demonstrieren. Er lächelt zufrieden. »Der Syntagma-Platz ist wieder voll«, sagt er. Seit mehr als einem Monat demonstrieren der 40jährige Mann und seine Lebensgefährtin gegen die Sparpolitik und das korrupte politische System, zusammen mit hunderttausend anderen Menschen – sie sind die »empörten Bürger« Griechenlands. Die Bewegung hat sich am 25. Mai nach einem Aufruf bei Facebook gebildet und gewann blitzschnell Anhänger überall im Land. Sie versammeln sich täglich und demonstrieren gegen den radikalen Sparkurs der sozialdemokratischen Regierung.
In ganz Europa verfolgt man mit Sorge die Entwicklung der griechischen Schuldenkrise, in Griechenland sehen sich die Menschen vor allem als Opfer von Politikern und Banken. Die Freude, mit der die europäischen Regierungen die Zustimmung des Parlaments zu den umstrittenen Sparmaßnahmen am 29. Juni begrüßten, teilen die meisten Griechen nicht. Einer Umfrage zufolge waren 48 Prozent der Griechen gegen das Sparprogramm, nur 35 Prozent dafür. Bereits einen Tag vor der Abstimmung begann ein 48stündiger Generalstreik der Gewerkschaften. Am 29. Juni schirmte dann ein großes Polizeiaufgebot das Parlamentsgebäude ab, nachdem die »Empörten« zu dessen Umstellung aufgerufen hatten.

Schon vor der Abstimmung fingen Gruppen von Vermummten auf dem Syntagma-Platz das übliche Katz-und-Maus-Spiel mit der Polizei an. Sie warfen Steine, Metallgitter und Molotow-Cocktails auf die Sicherheitskräfte. Die Polizei setze jede Menge Tränengas sowie Hunderte Blendgranaten ein und schlug mit Stöcken auf die Menschen­ansammlung ein. Die Demonstranten errichteten Barrikaden, um die Polizisten abzuwehren. Über 500 Demonstranten erlitten Verletzungen durch die Polizeigewalt, meist Augen- und Atemwegsbeschwerden durch das viele Tränengas. Während der Ausschreitungen wurde sogar ein Luxushotel im Zentrum Athens evakuiert.
Die MAT-Spezialeinheiten der Polizei gingen außergewöhnlich gewaltsam gegen die Protestierenden vor. »Sie haben auf jeden gezielt, der sich auf dem Syntagma-Platz aufhielt«, berichten verletzte Demonstranten. In den Straßen um den Syntagma-Platz herum versperrten die Spezialeinheiten den Demonstranten den Weg, damit sie sich nicht dem Parlamentsgebäude nähern konnten. An mehreren Stellen forderten Demonstranten die Polizeieinheiten friedlich auf, ihnen den Weg frei zu machen. Doch mehrfach antworteten die Po­lizisten sofort mit einer Ladung Tränengas oder schlugen einfach ohne Zögern zu.

Wie im Falle von Pantelis V., einem 43jährigen Lehrer: »Wir haben die Polizisten nicht provoziert. Ich habe versucht, mit ihnen zu verhandeln, in diesem Moment haben sie mir mit einem Gummiknüppel auf den Kopf geschlagen. Ich wollte mich in einem Obstladen verstecken, in der Nähe des Syntagma-Platzes. Doch die Polizisten sind dort eingedrungen. Einer von ihnen hat mich mit dem Griff des Knüppels geschlagen. Blut ist über mein Gesicht geflossen. Ich bin auf die Knie gefallen, die Hände voll mit Blut. Ich habe sie angefleht, aufzuhören«, sagt er, immer noch sichtlich schockiert.
Es wird berichtet, dass Polizisten der mobilen Spezialeinheit DIAS Menschen sogar in Cafés oder Restaurants, selbst noch in der Gegend des Flohmarktviertels Monastiraki – ein paar Wohnblöcke entfernt vom Syntagma-Platz – grundlos angegriffen hätten. Sie seien mit Motorrädern in Seitenstraßen und Fußgängerzonen gefahren und hätten auf überraschte Demonstranten eingeprügelt. Manche Polizisten haben bei den Ausschreitungen auch Steine auf die protestierende Menge geworfen.
Der Vizepräsident des Athener Ärzteverbandes, Giorgos Patoulis, kritisierte, dass das Tränengas, das gegen die Demonstranten eingesetzt wurde, aus dem Jahr 1979 stamme, und forderte, dass sein Einsatz bei Demonstrationen verboten werde. Dem Internetportal TVXS zufolge hat die griechische Regierung am 30. Juni, einen Tag nach den gewaltigen Ausschreitungen, für 900 000 Euro 10 000 neue Tränengasgranaten bestellt. Tränengas wurde sogar in einer unterirdischen Metrostation eingesetzt, in der Demonstranten Schutz gesucht hatten und eine improvisierte Erste-Hilfe-Station errichtet worden war. Ärzte klagen, dass Polizisten Krankenwagen daran gehindert hätten, sich dem Syntagma-Platz zu nähern und Verletzte abzuholen. Aus diesem Grund hätten Verletzte mit der Metro oder mit anderen Verkehrsmitteln in Krankenhäuser eingeliefert werden müssen.
Der Vorsitzende der Panhellenischen Föderation der Polizeioffiziere (POASY), Christos Fotopoulos, entschuldigte sich im Namen seiner Kollegen. »Die Regierung muss verstehen, dass die großen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Probleme, die sie bewältigen muss, nicht mit Polizeieinsätzen sowie mit Hunderten unserer Mitbürger und Kollegen in Krankenhäusern gelöst werden können«, hieß es in einer Erklärung der POASY.
Viele der Demonstranten hatten versucht, die Vermummten von gewalttätigen Aktionen abzuhalten. Vergebens. Mehr als 20 Tonnen Stein und Marmor wurden bei den Straßenschlachten zwischen Polizei und Demonstranten aus Fassaden öffentlicher und privater Gebäude, von Springbrunnen und aus dem Straßenpflaster gebrochen. Man rechnet damit, dass der gesamte Schaden über 500 000 Euro beträgt.

In einer Videoaufnahme, die seit einigen Tagen im Internet kursiert, sind gewalttätige Demonstranten zu sehen, die von Sicherheitskräften vor anderen Polizisten beschützt werden. Der Film hat eine Diskussion über eine mögliche Einschleusung von Provokateuren durch die Polizei ausgelöst. Die Vorkommnisse müssten sorgfältig untersucht werden, hieß es in einer Erklärung des Bürgerschutzministeriums, das für die Sicherheitskräfte zuständig ist.
Der bekannte griechische Blogger Pitsirikos schrieb, je mehr Gewalt eine Regierung gegen ihre Bürger einsetze, desto schwächer sei sie: »Was in den letzten zwei Tagen auf und um den Syntagma-Platz herum passiert ist, sagt viel aus über die Situation, in der sich die Regierung, aber auch die ganze politische Klasse derzeit befindet.« Die staatliche Gewalt, die alle Demonstranten hautnah erlebt hätten, beweise, dass die Regierung verloren habe. »Die wirklich Starken haben es nicht nötig, Gewalt auszuüben. Sie bevorzugen es, die anderen mit ihren Argumenten zu überzeugen. Das Ende der Regierung ist gekommen. Ihr Sieg bei der Abstimmung über das Sparpaket war zugleich ihre Niederlage.«
Der Vorsitzende des Linksbündnisses Syriza, Alexis Tsipras, hat eine Klage gegen die griechische Polizei eingereicht und unter anderem verlangt, dass die Materiallager der Polizei durchsucht werden, um herauszufinden, ob es gefährliche Chemikalien gibt, die gegen Demonstranten eingesetzt werden.

Wie es mit den Protesten weitergehen wird, kann niemand voraussagen. Experten schätzen, dass insgesamt schon rund drei von über elf Millionen Griechen an der Bewegung der Empörten teilgenommen und auf der Straße demonstriert haben. Einer Studie des Instituts Public Issue zufolge bezeichnen 85 Prozent der Befragten diese Bewegung als »sehr wichtig«. Gleichzeitig geben 41 Prozent der Befragten an, dass sie sich keiner Partei mehr zugehörig fühlen.
»Die Bürger gehen auf den Syntagma-Platz, weil sie fühlen, dass ihr Lebensstandard bedroht ist. Der Platz füllt sich wieder, und alles deutet darauf hin, dass er ab September wieder entscheidend die politischen Entwicklungen beeinflussen wird«, kommentierte die konservative Zeitung Kathimerini. Der Unmut über korrupte Politiker ist groß. Immer öfter werden diese auf der Straße von wütenden Bürgern verbal oder physisch angegriffen. Zwar sind seit Ende der Militärdiktatur mehr als 35 Jahre vergangen, trotzdem skandieren Demonstranten wieder und wieder: »Schluss mit der Junta!«
Auch Stavros, ein 35jähriger Anwalt, beteiligt sich an der Bewegung der »empörten Bürger«. In einer Arbeitsgruppe setzt er sich zusammen mit anderen mit juristischen Themen auseinander, beispielsweise mit der Frage der Immunität von Politikern. Er erläutert die Motive, welche die Menschen seiner Meinung nach bewegt haben, auf die Straße zu gehen: »Viele protestieren gegen die Straflosigkeit der Politiker, aber auch gegen die Tatsache, dass Entscheidungen getroffen werden, ohne dass das Parlament befragt wird.« Viele Forderungen der Griechen ähnelten denen, die schon Spanier und Portugiesen auf die Straße gebracht hätten. Der in London lehrende griechische Jura­professor Costas Douzinas schrieb vor kurzem in einem Artikel: »Syntagma ist jetzt näher an Kairos Tahrir-Platz als an der Puerta del Sol in Madrid.« Die Erfahrung, täglich vor dem Parlament zu stehen und die Politik mit diesem Protest zu konfrontieren, habe bereits positive Veränderungen bewirkt und bereite den Eliten zum ersten Mal ernsthaft Sorgen.

Ministerpräsident Giorgos Andrea Papandreou hatte vor der Abstimmung über das »Sparpaket« für den Herbst ein Referendum über Verfassungsänderungen angekündigt, um die Stimmung in der Bevölkerung zu verbessern. Doch die meisten Griechen lässt diese Ankündigung kalt. Vasia, eine 28jährige Lehrerin, sagt: »Unsere Politiker haben uns alleingelassen. Mit dieser Sparpolitik töten sie unsere Träume, unser Leben.« Dieser Aussage stimmt auch Achileas zu, ein 40jähriger Musiker: »Sie versuchen, uns dazu zu bringen, unsere Rechte nicht zu verteidigen. Wir sollen uns einfach mit einem Arbeitsplatz zufriedengeben – egal mit welcher Entlohnung und zu welchen Bedingungen.«
In der Studie von Public Issue gehen 81 Prozent der Befragten davon aus, dass die Proteste weitergehen, und 52 Prozent glauben, dass sie am Ende auch etwas erreichen können. Diese Einschätzung teilt auch Alexandra, eine 48jährige Privatangestellte, die nicht zum ersten Mal auf dem Syntagma-Platz ist. Vom Protestieren erschöpft, strahlen ihre Augen trotzdem: »Dies hier ist ein Hauch Leben für mich.« Es sei unglaublich, dass sich so viele Leute mit so unterschiedlichen politischen Ansichten zusammengeschlossen hätten, um eine bessere Zukunft für Griechenland zu fordern, sagt sie. Efi, eine junge Arbeitslose, sitzt im Schneidersitz auf dem Platz, ihr Blick ist auf das Parlamentsgebäude gerichtet. Seit mehr als einem Jahr ist die 28jährige arbeitslos. »Die Politiker haben uns unser Leben geraubt«, sagt sie wütend. »Wir haben keinen Zugang mehr zum Arbeitsmarkt, keinen Zugang zum Geld, und bald wegen den Privatisierungspläne auch keinen Zugang mehr zu öffentlichen Gütern.« So sitzt sie nun auf dem Syntagma-Platz, und eines ist klar: Sie wird auch morgen wieder hierher kommen.