Norwegen nach dem Terroranschlag

Gut gebräunt zum Massenmord

Die Anschläge in Norwegens Hauptstadt Oslo und auf der Insel Utøya durch einen christlich-fundamentalistischen Rassisten richten sich vor allem gegen die Tradition der Sommerlager der sozialdemokratischen Jugendorganisation.

In dem Moment, als Anders Behring Breivik in Oslos Regierungszentrum eine Bombe zündete, war die ehemalige Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland mitsamt ihren Sicherheitsleuten bereits auf dem Rückweg von der Insel Utøya. Die Jugendlichen, die dort mit ihr diskutiert hatten, waren wohl immer noch überwältigt davon, die wichtigste norwegische Politikerin der vergangenen Jahrzehnte persönlich erlebt zu haben. Dass sie eigentlich nicht viel mehr als Gemeinplätze von sich gegeben hatte, spielte in der legendären Utøya-Atmosphäre kaum eine Rolle. Denn diejenigen, die sich zu den Sommerlagern der Arbeidernes Ungdomsfylking (AUF), der Jugendorganisation von Norwegens sozialdemokratischer Arbeiderpartiet (AP), dort versammelten, konnten sich berechtigte Hoffnungen machen, in nur wenigen Jahren selbst zum politischen Establishment des Landes zu gehören.

Praktisch jeder derzeitige Funktionär und Minister hat irgendwann eine Woche seiner Sommerferien auf der Insel verbracht. Und war von den Sicherheitskräften an Ort und Stelle durchsucht worden, weil im Einklang mit den strengen Gesetzen des Landes ein striktes Alkoholverbot herrschte. Als die Handys der Jugendlichen klingelten, weil Eltern und Freunde sie über den Terroranschlag in der Hauptstadt informieren wollten, war in den meisten Fällen auch ihre Sicherheit ein Gesprächsthema. Angesichts der unklaren Lage waren wohl alle Väter und Mütter der jungen Sozialdemokraten froh, ihre Kinder auf der berühmten Insel zu wissen.
Den Polizisten, der am Freitag vergangener Woche außerhalb seiner Dienstzeit für die Sicherheit auf Utøya sorgen sollte, hätte der mutmaßliche Attentäter Breivik vielleicht gemocht. Trond Berntsen, Stiefbruder der norwegischen Kronprinzessin Mette-Marit, war der utlendings-enhet, der »Abteilung Ausländerkriminalität«, zugeordnet und als Begleiter bei Abschiebungen von Asylbewerbern im Einsatz gewesen. Er galt als zuverlässig und unbestechlich. Der Polizist Berntsen habe sich geopfert, um Leben zu retten, so übersetzten deutsche Zeitungen eine Schlagzeile des norwegischen Boulevardblatts Dagbladet. Allerdings falsch, in Wirklichkeit war der 51jährige von Monica Bøsei, der Verwalterin Utøyas, alarmiert worden. Bøsei, die 20 Jahre lang die Sommerlager der AP organisiert hatte, war gemeinsam mit Breivik auf dem offiziellen Zubringerboot auf die Insel übergesetzt. An Bord weckte der Mann, der sich den Fährleuten gegenüber als Polizist mit der Spezialaufgabe, die Jugendlichen auf der Insel zu beschützen, ausgab, ihr Misstrauen. Sie verwickelte ihn in ein Gespräch, das nach Angaben des überlebenden Augenzeugen Håkon Sandbakken »sehr unangenehm« für Breivik verlaufen sein muss. Denn obwohl er eindeutige Körpersignale ausgesendet habe, habe die Frau ihm immer wieder Fragen gestellt. Für Bøsei waren Kontakte zur Polizei die Regel, und dieser Mann, der eine schwere Tasche und mehrere Waffen mit sich führte, wirkte merkwürdig. Nach der Landung auf der Insel eilte die aufmerksame Frau deswegen direkt ins am Steg gelegene Haupthaus der Insel, um Berntsen über den Besucher zu informieren. Falls Breivik andere Pläne gehabt haben sollte, so änderte er diese umgehend. Die Inselverwalterin und der Polizist wurden seine ersten Opfer.

Nachdem keine Autoritätsperson mehr übrig war, die seine Rolle als Ordnungshüter anzweifeln konnte, begann Anders Behring Breivik, der sich in rechtsextremen Internetforen Anders B. nannte, damit, Opfer anzulocken. Nach den ersten Schüssen rannten die Jugendlichen panisch davon. »Alles unter Kontrolle, hier ist die Polizei«, rief der mutmaßliche Mörder bei seinem Rundgang über die Insel und erschoss alle, die sich ihm näherten. Zwei Schüsse habe er auf jeden dieser Menschen abgegeben, berichten Überlebende des Massakers, »um sicherzugehen, dass auch alle wirklich tot sind«. Zu diesem Zeitpunkt wurde die Nachricht über einen bewaffneten Attentäter auf Utøya in den norwegischen Nachrichten noch unter in die Rubrik unbestätigte Kurzmeldungen eingeordnet, zu unwahrscheinlich schien es, dass wirklich jemand versuchen würde, das Sommerlager anzugreifen.
Zunächst galt es als viel wahrscheinlicher, dass eine islamistische Terrorgruppe das Regierungszentrum angriff, als dass ein Bewaffneter sich auf Utøya übersetzen ließ. Um zu verstehen, warum das Sommerlager als unantastbar galt, muss man die norwegischen Besonderheiten kennen. So, wie der evangelische Glaube Staatsreligion ist, gilt die sozialdemokratische AP als Staatspartei, und alles, was mit ihr verbunden ist, wie das Sommerferienlager der AUF, als unabdingbar zur Nation gehörend. Das kleine, bis in die achtziger Jahre des 19. Jahrhunderts bitterarme Land, das nach der Unabhängigkeit seine ersten Könige importieren musste, war zunächst geprägt von Ressourcenmangel. Seine felsigen Böden ließen nur wenig Landwirtschaft zu. Die strikte Alkoholgesetzgebung und das Aufkommen des Pietismus resultierten nicht zuletzt aus der nüchternen Über­legung, dass das wenige wachsende Korn zu Schnaps destilliert nur für Elend und zu Brot verarbeitet für das Überleben sorgte. Als die Nazis Norwegen besetzten, geschah dies auch, weil man die Nachfahren der Wikinger für gleichgesinnte Arier hielt. Dass König Haakon flüchtete, hielten die deutschen Okkupanten für ein Zeichen der Schwäche. In erhaltenen Briefen schwärmten Wehrmachtssoldaten von Landschaft und Bevölkerung, aber in Wirklichkeit bildete sich mit der sogenannten Hjemmefront, der Heimatfront, eine schlagkräftige Widerstandsbewegung, und zwar unter Führung des nach Großbritannien geflohenen Monarchen und der sozialdemokratischen Arbeiderpartiet. Sie erhielt nach dem Krieg von der neugegründeten Gewerkschaftsbewegung Utøya als Geschenk und richtete dort sogleich ein Ferienlager für junge Funktionäre ein. Bis heute gilt die AP als inoffizielle Staatspartei, weswegen auch gespannt verfolgt wird, welche Jugendlichen sich im Sommercamp besonders hervortun.

Bis heute gilt auch das »Janteloven«, eines der Gesetze, die der Schriftsteller und Widerstandskämpfer Aksel Sandemose 1933 in seinem Flüchtlingsroman »A fugitive crosses his tracks« beschrieben hatte. »Glaube nicht, dass du etwas Besonderes bist«, heißt es im ersten Punkt. In einem Land, in dem man fest daran glaubt, dass etwaige Unterschiede »weggeknuddelt« werden können, dürfte es sehr schwer sein, ein rebellischer Jugendlicher zu sein. Breivik war so einer, jedenfalls in seiner Teenagerzeit. Er galt als politisch links und gehörte der Graffitiszene an, in der er sich einen gewissen Ruf erarbeitete. Dann jedoch reichte es ihm nicht mehr, seinen diffusen Protest nur mit der Sprühdose auszudrücken. Für seine Freunde unmerklich, aber kontinuierlich, driftete der Sohn eines Diplomaten nach rechts. Den Ausschlag für seine Politisierung habe der Krieg der Nato-Länder gegen Jugoslawien gegeben, schrieb Breivik in dem 1 500 Seiten langen »Manifest«, das er kurz vor seinen Attentaten online gestellt hatte. Bei der rechtspopulistischen Fremmskrittspartiet (FrP), der »Fortschrittspartei«, fand er jedoch nicht das, was er suchte. Breivik zog sich von der Partei und seinen Freunden zurück, um neun Jahre lang an seiner Vision eines christlich-fundamentalistischen Europa zu arbeiten, die er schließlich mit einer Bombe in Oslo und einem Massenmord in Utøya öffentlich zu verbreiten gedachte.
Sein »Manifest«, in dem er ein Europa mit den Werten der fünfziger Jahre beschwört, inklusive der dazugehörigen traditionellen Geschlechterrollen, und eventuellen Nachahmern Tipps für erfolgreiche Attentate auf »Volksverräter« vermittelt, liest sich wie der Entwurf einer Staatsform in einem Internetspiel. Verräter, also »Kulturmarxisten«, wie Breivik alle nennt, die kein Problem mit einer multikulturellen Gesellschaft haben, werden hingerichtet, es regiert ein 20köpfiger Nationalistenrat, der alle Menschen muslimischen Glaubens wahlweise deportiert oder hinrichtet. Der selbsternannte Kreuzritter, der in seinem Manifest davon träumt, dass ihm im Europa des Jahres 2083 (die Jahreszahl spielt auf die erfolglose Belagerung Wiens durch die Türken im Jahr 1683 an) wegen seines Hasses auf Muslime Denkmäler errichtet werden, sieht sein Pamphlet selber als eine »Mischung aus Heinrich Himmler und dem Bestseller-Autoren Dan Brown«. In Wirklichkeit handelt es sich jedoch bloß um die wirren Gedankengänge eines Losers, der sich in Internetforen zwar gern als erfolgreicher Geschäftsmann vorstellte, der seine erste Million bereits mit Mitte 20 gemacht habe, aber in Wirklichkeit noch bei seiner Mutter wohnte und schon chronisch klamm war, bevor er sich zu seinem »Kreuzzug« aufmachte. Leer und müde wirke er, sagte sein Anwalt vor dem ersten Haftprüfungstermin, auf den sich sein Mandant im Wissen, dass er den Amoklauf wohl überleben würde, mit Besuchen im Sonnenstudio und Fitnessübungen penibel vorbereitet hatte. Wirklich leer und müde dürfte Breivik allerdings erst dann sein, wenn er feststellen muss, dass man sein krudes Manifest als das wahrnimmt, was es ist: ein mit obskuren eigenen Gedanken versehenes Textpuzzle, das den Narzissmus seines Urhebers ebenso offenbart wie dessen Unfähigkeit, nachzudenken und die eigenen Schlussfolgerungen kritisch zu hinterfragen. Es ist weder eine Diskussionsgrundlage noch eine Blaupause für Vorwürfe an den jeweiligen politischen Gegner, sondern bloß das Manifest eines Mannes, der, wenn er die von ihm angeführten Bücher gelesen haben sollte, sie zumindest nicht verstanden hat.