Eine Verteidigung der Studie »Antisemiten als Koalitionspartner?«

Wer schweigt, stimmt zu

Fast unisono hieß es aus der Linkspartei, die Studie »Antisemiten als Koalitionspartner?« sei unwissenschaftlich. Der Sozialwissenschaftler Samuel Salzborn, einer der beiden Autoren, antwortet in der ­Jungle World auf diese Kritik.

Gregor Gysi wusste es sofort: »Blödsinn« seien die Ergebnisse der Untersuchung über Antisemitismus in der Linkspartei von Sebastian Voigt und mir. Mit seinem Urteil bewies Gysi wahrhaft hellseherische Fähigkeiten. Denn erst gut eine halbe Stunde nachdem Gysi uns dies bescheinigt hatte, war die Arbeit überhaupt vollständig öffentlich verfügbar. Ähnlich präzise verfuhr auch Jürgen Reents, Chefredakteur der Zeitung Neues Deutschland, der von der wissenschaftlichen Unbrauchbarkeit der Arbeit von »Sebastian Voigt und Samuel Salzkorn« zu berichten wusste – klar, wenn man so sehr in die Analyse wissenschaftlicher Qualität vertieft ist, kann man sich nicht auch noch die Namen der Autoren merken.
Und einer, der es als ehemaliger Stipendiat der Rosa-Luxemburg-Stiftung ganz genau zu wissen schien, schrieb in der Taz, dass es sich um eine »politische Kampfschrift« handle. Zum Beleg dafür zählte Peter Ullrich mehrere Beispiele auf, die wir in unserer Studie »auf mehr als fahrlässige Weise« verallgemeinern würden. Dumm nur, dass kein einziger der von ihm aufgezählten »Vorfälle« überhaupt bei uns im Text genannt worden war – Ullrich hatte sie allesamt aus dem Zeitungsartikel der Frankfurter Rundschau abgeschrieben, in dem als erstes über unsere Studie berichtet worden war. Da zwischen Manuskriptabschluss unseres Textes im März und dem FR-Bericht im Mai einige Zeit vergangen war, hatte die FR selbst zusätzlich noch aktuellere Belege für den antizionistischen Antisemitismus in der Linkspartei recherchiert. Ullrich wusste trotzdem genau, dass unsere Arbeit »grundlegenden wissenschaftlichen Anforderungen« nicht genüge.

Die drei Beispiele zeigen, welche Substanz die Behauptung hat, unsere Untersuchung sei »unwissenschaftlich«: nämlich keine. Wollte man in Polemik verharren, wäre das Thema damit erledigt, allerdings blamieren sich diejenigen, die uns »Unwissenschaftlichkeit« unterstellen, intellektuell noch in deutlich größerem Maße. Der Grundgedanke, der dem Geplapper über Unwissenschaftlichkeit zugrunde liegt, ist die Behauptung einer unzulässigen Verallgemeinerung in unserer Aussage, dass der antizionistische Antisemitismus in der Partei »Die Linke« immer stärker dominiere und sich anschicke, konsensfähig zu werden. Belegen würden wir die These nur mit Ereignissen, die keine Aussagekraft über die Haltung all derer hätte, die zum Thema schweigen. Lassen wir das einfache Argument, dass die Debatte der vergangenen Wochen auch a posteriori zeigt, wie richtig unsere These ist, beiseite und sezieren den sozialwissenschaftlichen Kern dieser Gegenrede.
In einer repräsentativen Demokratie ist es zwar politisch für eine Partei wichtig zu wissen, was ihre Mitglieder denken, politikwissenschaftlich ist dies aber für eine Antwort auf die Frage, für welche Position eine Partei steht, unbedeutend – wer Gegenteiliges behauptet, folgt entweder einem streng positivistischen Wissenschaftsverständnis oder lehnt, wenn auch vielleicht, ohne sich dessen bewusst zu sein, die Spielregeln der repräsentativen Demokratie ab. Denn um eine qualifizierbare Aussage über die Haltung einer Partei zu einem bestimmten politischen Themenfeld zu ermitteln, bedarf es keiner zusätzlichen Quantifizierung mehr: Diese Quantifizierung leistet das System der repräsentativen Demokratie bereits selbst.
Im Gegensatz zu einem identitären Demokratieverständnis, wie es von links Jean-Jacques Rousseau und von rechts Carl Schmitt vertreten, und das in jeder politischen Frage eine explizite (Rousseau) oder implizite (Schmitt) Identität aller am Prozess Beteiligten einfordert, zeichnet sich die repräsentative Demokratie gerade dadurch aus, dass alle durch ihre Partizipation am repräsentativ-demokratischen Prozess objektiv bereits ihre Zustimmung gegeben haben – im Falle der Mitgliedschaft in einer Partei nicht nur durch ihre Aktivität, sondern gerade auch durch ihre Passivität. Wobei der deutlichste Ausdruck dafür das Parteiprogramm wäre. Da die »Linke« aber auch vier Jahre nach ihrer Gründung über ein solches im eigentlichen Sinne nicht verfügt, bleibt vor allem der Blick auf Verlautbarungen von offiziellen Repräsentanten der Partei. Denn so lange, wie von den demokratisch legitimierten Vertretern einer Partei eine Position ohne massiven Widerspruch (oder gegenteilige Beschlüsse) vertreten werden kann, so lange ist diese objektiv die Position der Partei zu dieser Frage. Alles andere wäre nicht nur unpraktikabel, sondern undemokratisch: Denn mit welcher Legitimation sollte ein einfaches Mitglied beanspruchen, seine Meinung habe das gleiche Gewicht wie die eines Abgeordneten oder eines Partei- oder Fraktionsvorsitzenden?

Um politikwissenschaftlich etwas über die Haltung einer Partei zu erfahren, bedarf es also in einer repräsentativen Demokratie überhaupt keiner quantitativen Untersuchungen – diese nutzen lediglich den Parteistrategen zur (Neu-)Ausrichtung ihrer Ziele. Insofern folgt unser Vorgehen den üblichen Methoden der Politikwissenschaft und setzt sich mit der Haltung einer Partei bei einem konkreten außenpolitischen Thema auseinander, dessen zeitlicher Kontext analysiert wird. Ausgangspunkt ist ein klar benanntes Ereignis: Die Beteiligung von drei für die Linkspartei in dieser außenpolitischen Frage in Schlüsselstellungen tätigen Parlamentariern an einer Aktion, die die völkerrechtliche Souveränität eines anderen Staats in Frage gestellt hat – nämlich der Gaza-Flottille im Jahr 2010. Solange kein öffentlich wahrnehmbarer Widerspruch auf systematisch gleichrangiger Ebene gegen die Positionierungen zu vernehmen war – und die wenigen Äußerungen, die es gegeben hat, haben wir thematisiert (Petra Pau, früher auch Gysi) –, muss diese Haltung notwendigerweise als dominant angesehen werden, und aufgrund des nur marginalen Widerspruchs auch als konsensfähig.
Denn Konsens drückt sich primär durch Schweigen aus – hier gilt wissenschaftlich, was auch eine Binsenweisheit sozialer Bewegungen ist: Wer schweigt, stimmt zu. Der Eindruck eines immer mehr dominierenden antizionistischen Antisemitismus in der Linkspartei auf Bundesebene wurde sogar noch dadurch verstärkt, dass es nicht nur fast keinen Widerspruch von Personen auf gleicher Ebene gegeben hat (also von anderen Bundestagsabgeordneten oder aus dem Parteivorstand), sondern die Parteiführung in Person der Parteivorsitzenden Gesine Lötzsch die Aktion offen unterstützt hat.

Solange angebliche Kritiker des antizionistischen Antisemitismus keine aktive Haltung gegen diesen an den Tag legen (z.B. durch die Abwahl eines Politikers vom Posten des außen- oder menschenrechtspolitischen Sprechers, Parteiausschlussverfahren, öffentliche Erklärungen von mehreren MdB, in denen der antizionistische Antisemitismus explizit benannt wird etc.), sind sie im Sinne der repräsentativen Demokratie, die immer eine öffentliche Demokratie ist, nicht präsent. Ob man, wofür es ja Gründe geben mag, als Wissenschaftler glaubt, es könne in der Linkspartei Gegenpositionen geben, muss schon aus wissenschaftsethischen Gründen unberücksichtigt bleiben. Die Emanzipation der Sozialwissenschaften vom Glauben, die mit Machiavelli und Hobbes begonnen hat, ist ihr genuines Konstitutionskriterium.
Bleibt noch zu erwähnen, dass auch der Begriff »Studie« für unsere Arbeit nur schwerlich in Frage gestellt werden kann, wer dies dennoch tut, sitzt – explizit oder implizit – einem positivistischen Wissenschaftsverständnis auf. Diesem folgt eine Konditionierung, nach der »Studien« nur etwas sein sollen, was auf statistisch-quantifizierenden Untersuchungen der Umfrage- und Meinungsforschung basiert, die in bestimmten, sehr kleinen Bereichen der sozialwissenschaftlichen Forschung (etwa der Wahlforschung) ohne Frage sinnvoll sind. Die meisten politikwissenschaftlichen Studien (vom Aufsatz bis zur Monographie) sind aber keine statistisch-quantifizierenden Arbeiten, sondern hermeneutische, ideologiekritische, rekonstruierende oder vergleichende Untersuchungen, die Politik nicht auf der Basis von Zahlen, sondern von Worten interpretieren: Denn Politik und Gesellschaft lassen sich nicht berechnen, da ihre Akteure Menschen sind. Und ginge es bei der Kritik am antizionistischen Antisemitismus nicht um ihre Partei, würden Gysi und Co. vermutlich auch weit weniger Skepsis gegenüber einer hermeneutischen oder ideologiekritischen Methode formulieren.