Die Macht der Hells Angels in der niedersächsischen Kleinstadt Walsrode

Im Vorhof der Kleinstadthölle

In der kleinen niedersächsischen Stadt Walsrode ist Wolfgang Heer eine geachtete Persönlichkeit. Ihm und seiner Familie gehören unter anderem ein Bordell, ein Kampfsportstudio und eine Sicherheitsfirma. In der Stadt scheinen die wenigsten ein Problem damit zu haben, dass Heer ein führendes Mitglied der Hells Angels ist. Seine Kritiker haben es schwer.

Groß wie Kälber stehen die knallbunten Plastiktukane hinter der Autobahnausfahrt und weisen Reisebussen den Weg. Doch nicht alle Besucher kommen wegen des Vogelparks in das kleine Heidestädtchen Walsrode, ziemlich genau in der Mitte zwischen Bremen, Hamburg und Hannover. Einige hundert Meter hinter den Tukanen steht ein pink-hellblauer Gebäudekomplex. Jeden Tag von mittags um eins bis morgens um vier warten im »Casanova-Club« Prostituierte auf Kundschaft. Das Bordell gehört, so wie Rotlicht-Betriebe im weiteren Umkreis, der Familie von Wolfgang Heer. Ein freundlicher Mann sei er, ein guter Arbeitgeber, ein Wohltäter und Spender, sagen viele in der Stadt.
Ein Stückchen weiter die Straße entlang, im Stadtkern, gehen weitere von Heers Beschäftigten ihrer Arbeit nach. Der Walsroder Stadtmarketing-Verein lädt an einem Abend im August zu seiner Sommer-Open-Air-Reihe auf einen Parkplatz neben der Fußgängerzone. Auf der Bühne spielt eine Band namens »Sounds of Sixties« Songs von Westernhagen nach, nur ein paar Kinder tanzen dazu, die Erwachsenen halten etwas Abstand und widmen sich ihren Biergläsern und Bratwürsten. Nichts deutet darauf hin, dass irgendjemand Ärger machen könnte. Um 22 Uhr ist die Party aus Lärmschutzgründen bereits zu Ende. Und doch wird die trostlose Szene von einer verwegen aussehenden Gruppe aufgepumpter, kahlrasierter Wachmänner der Firma GAB-Security bewacht. Mit verschränkten Armen beobachten sie aus den Ecken das Treiben, zu ihren schwarzen Hosen tragen sie schwarze T-Shirts. Der Aufdruck: »Walsrode – Kleinstadt der Engel«.
So heißt auch ein kürzlich ausgestrahltes Radiofeature des NDR. Es handelt vom Chef der Wachmänner und dem »Klima der Angst«, das dieser in Walsrode verbreite. Denn Wolfgang Heer ist eine bundesweite Größe im Milieu der »Outlaw«-Rockerclubs und der Finanzchef der Hells Angels. Die GAB-Security teilt er sich mit dem Hells-Angels-Boss Frank Hanebuth aus Hannover, ebenfalls Bordellbesitzer und eine Halbweltgröße, die vom Landeskriminalamt Niedersachsen seit langem der Verstrickung in die organisierte Kriminalität verdächtigt wird. Eine ähnliche Stellung wie Hanebuth in Hannover nimmt Heer in Walsrode ein.
Heer ist hier allgegenwärtig. Am Ostrand der Stadt hat er das Colosseum-Bowling-Zentrum errichtet, einen sterilen, Las-Vegas-artigen Bau mit Statuen, die an das alte Rom erinnern sollen. Am Stadion des Fußballclubs TuS Germania prangt Werbung von Firmen, die Heer zugerechnet werden, wie Walsrodes grüner Ratsherr Detlef Gieseke erklärt. Im westlichen Stadtteil Schneeheide, an einer ländlichen Straße, ist der »Outlaw«-Rockerclub MC Red Devils in ein knallrotes Clubhaus auf dem Grundstück eines ehemaligen Bordells von Heer eingezogen. Die mit Heer verbundenen Red Devils verstehen sich als Unterstützer der Hells Angels. Überall im Umkreis stehen Wohnwagen, in denen Heers Prostituierte ihre Dienste anbieten. Am Bahnhof schließlich liegt das »Sportzentrum Walsrode«, ein neues, blaues Gebäude mit Graffiti, die Karatekämpfer zeigen und eine riesige Figur eines schwarzen Boxers. Drinnen werden Tae-Kwon-Do, Kickboxen und Krav Maga unterrichtet. Wem das zu anstrengend ist, der kann hier auch die Dienste der »Bodyguard Security« buchen – ein weiteres Label der GAB-Security. Die GAB bzw. die Bodyguard-Security widmen sich dabei nicht nur Inkassoaufträgen und dem Objektschutz, sondern bewachen auch das Hannoversche Rotlichtviertel.
Diese Verschränkung von Zuhälterwirtschaft, Hells Angels, Red Devils und Security-Firmen bereitet dem niedersächsischen Innenministerium Sorgen. Weil sich die Rocker in Niedersachsen derzeit »flächendeckend« auszubreiten versuchten, hat das Landeskriminalamt eine Spezialabteilung für organisierte Kriminalität eingerichtet. Anfang Juli hat Innenminister Uwe Schünemann sein »Lagebild Organisierte Kriminalität« vorgestellt. Dabei warnte er nicht nur vor den Rockern, sondern mahnte ausdrücklich auch die Stadt Walsrode »dringend, Abstand von solchen Gruppierungen zu nehmen, auch wenn sie als Sicherheitskräfte auftreten«.
»Als ich das gehört habe, bin ich an die Decke gehüpft«, sagt Detlef Gieseke. An einem Morgen kurz nach dem Sound-of-Sixties-Konzert sitzt er in einem Café neben dem Rathaus in Walsrode und erzählt, wie er seit einem Jahr versucht, den Einfluss der Rocker in der Stadt zurückzudrängen. Polizisten, Landtagsabgeordnete, Personen aus der Hamburger Rotlichtszene und ein JVA-Beamter, der Heer im Gefängnis erlebt hat, hätten sich bei Gieseke, der als Realschullehrer arbeitet, gemeldet. »›Bist du bescheuert?‹ haben die gefragt«, erzählt er. Dass es »hart werden« würde, sei ihm klar gewesen, aber nicht, wie es dann wirklich kommen sollte.
Denn weder die Einschätzung der Polizei noch die halbseidene Erwerbsgrundlage haben dazu geführt, dass der Rockerboss Heer in Walsrode tatsächlich zum »Outlaw« geworden wäre. Während manche in der Stadt von »mafiösen Strukturen« sprechen, ist es Heer gelungen, sich mit großzügigen Spenden als geachtete Persönlichkeit in Walsrode zu etablieren – und auf diese Weise auch seine Geschäfte immer weiter auszubauen.
Gern wird in der Stadt betont, dass Heer nicht vorbestraft sei – doch tatsächlich hat er wegen diverser Delikte lange Jahre im Gefängnis verbracht. Seinen Bemühungen um ein sauberes Image tut dies keinen Abbruch.
Neben dem örtlichen Frauennotrufzentrum, das entsetzt seine Teilnahme am Weihnachtsmarkt absagte, als Heer dort Geld investierte, ist Gieseke einer der wenigen Kritiker in der Stadt. »Ich gelte als Nestbeschmutzer«, sagt er. »Ich wollte nur, dass der Rat einen simplen Beschluss fällt: keine Spenden von und keine Geschäfte mit Hells-Angels-Firmen.« Das sollte nicht nur für die Stadtverwaltung gelten, sondern auch für alle Vereine, die von der Stadt gefördert werden, wie den von den örtlichen Kaufleuten betriebene Stadtmarketing-Verein. Doch dieser dachte gar nicht daran, sich die Geschäftsbeziehungen zu Heer ausreden zu lassen. Und auch die anderen Parteien unterstützten Gieseke nicht. »Mit denen war einfach kein Gespräch darüber möglich«, sagt er.
Gieseke organisierte im November vergangenen Jahres eine öffentliche Veranstaltung in der Stadthalle. Der Titel: »Wie gefährlich sind die Hells Angels?« Eine Antwort auf diese Frage gab es möglicherweise einige Tage vor der Veranstaltung. Unbekannte zerstörten zwei Autos, die Giesekes Kindern gehörten. Beweisen ließ sich nichts, der grüne Ratsherr erwartete nun vor ­allem Solidarität. Doch die erhielt er nicht: »Die Lokalzeitung hat sich geweigert, darüber zu schreiben.« Gieseke kennt den Chefredakteur seit 15 Jahren, Heer ist mit seinen diversen Betrieben jedoch ein großer Anzeigenkunde. Und auch die Kollegen im Rat und die Bürgermeisterin äußerten sich zu dem Vorfall öffentlich nicht. »Ich fühlte mich in diesen Tagen sehr alleingelassen in dieser Stadt«, sagt Gieseke. Als sich der niedersächsische grüne Bundestagsabgeordnete Sven-Christian Kindler deshalb bei Walsrodes Bürgermeisterin Silke Lorenz beschwerte, bekam er schon wenige Stunden später eine Antwort – aber nicht etwa von Lorenz, sondern von Heer. »Das war schon sehr verwunderlich«, meint Kindler. Gegenüber einer Zeitung aus einem Nachbarlandkreis wies Heer jede Verstrickung in den Anschlag zurück. Hätte er mit Gieseke etwas zu klären, »habe ich selber Eier in der Hose, um ihn persönlich zur Rechenschaft zu ziehen und auch für diese Rechenschaft geradezustehen«, sagte Heer. Ansonsten ließ er wissen: »Ich habe natürlich keinen Heiligenschein auf dem Kopf und lebe mein Leben so, wie ich will, ob es dieser Gesellschaft recht ist oder nicht.«
Mit 100 Zuhörern hatte Gieseke gerechnet, fast 600 Menschen kamen zur Veranstaltung in die Stadthalle. Die ersten Reihen waren reserviert – aber nicht für die über 50 aus ganz Niedersachsen angereisten Rocker, die sich gleichwohl »in geschlossener Formation« dort breitmachten. Einige der über 100 regulär von Heer in Wals­rode Beschäftigten ergriffen das Wort und dankten Heer für ihre Jobs. Der »Pressesprecher« der Hells Angels stritt jede Verstrickung der Rocker in kriminelle Aktivitäten ab und zog Vergleiche zwischen der »Verfolgung« der Hells Angels heute und der Verfolgung von Minderheiten im Dritten Reich. Heer selbst erinnerte an seine Spenden an Sportvereine, das Rote Kreuz, das Walsroder Stadtmarketing, die Onkologische Arbeitsgemeinschaft, die AWO. Auch der Weihnachtsmarkt, Kulturveranstaltungen und Feuerwerke wurden von ihm durch Spenden gefördert. Sogar bei der Bürgermeisterwahl unterstützte Heer einen Kandidaten. Die Bürgermeisterin erschien nicht bei der Veranstaltung. »Jeder muss für sich selbst entscheiden, ob er Spenden von Herrn Heer annimmt«, sagte sie Journalisten am nächsten Tag. Wenn Heer kriminell sei, müsse sich die Polizei darum kümmern. Aber offenbar liege ja gar nichts gegen die Heers vor, bekräftigte sie.
Da lag sie jedoch falsch. Tatsächlich war zuvor Heers Sohn Michél, der Geschäftsführer der GAB-Security ist, zu einer Geldstrafe verurteilt worden. Er war mit seinen Leuten bei einer Feier von Walsroder Abiturienten angerückt. Diese hatten eine andere Firma als Sicherheitsdienst engagiert. Heer junior, der die örtliche Waldorfschule besucht hatte, vertrieb die Konkurrenz. Die Abiturienten mussten ihre Party wegen des Tumults abbrechen.
Auch gegenwärtig beschäftigen sich die Behörden mit der GAB. Am 29. April sorgten die Wachmänner auf ihre Weise für Sicherheit im Wals­roder Sportclub »Germania«, der ebenfalls von Heer gesponsert wird. Was beim Fußballspiel gegen den TuS Celle geschah, beschreibt eine Regionalzeitung so: »Es floss Blut. Zuschauerbänke gingen zu Bruch, Spielfeldbanden wurden zerfetzt, und manch einer verließ den Platz mit einer Schramme, einer Prellung oder einem blauen Auge: Solche Ausschreitungen hatte es bisher in einem Walsroder Stadion noch nicht gegeben.« Die Polizei konnte die Verantwortlichen für die Eskalation benennen: Das Wachpersonal habe »eindeutig überreagiert, dadurch ist die Situation extrem umgeschlagen«, sagte eine Sprecherin. »Gewalt erzeugt Gegengewalt.« Es habe offenkundig an Professionalität gefehlt. Den Einsatz führte Heer senior persönlich an. »Wir haben nur von unserem Hausrecht Gebrauch gemacht«, verteidigte dieser sein Vorgehen. Doch weil ein vorbestrafter Neonazi mit einer Zaunlatte in der Hand und in GAB-Uniform im Germania-Stadion auf einem Pressefoto zu erkennen ist, nahm das Walsroder Ordnungsamt Ermittlungen auf.
Auf Einladung von Lorenz tagte bald nach dem Vorfall ein Runder Tisch, der klären sollte, ob die GAB weiterhin die Stadtmarketing-Events bewachen solle. Bis auf die Walsroder Lokalzeitung war Presse nicht zugelassen. Dafür stellte Lorenz am nächsten Tag bei einer Pressekonferenz die Ergebnisse der Beratung vor. Der Runde Tisch befand demnach, dass es gar kein Hells-Angels-Problem gebe. »Die Beteiligten stellten ausdrücklich fest, dass sie sich in Walsrode sehr sicher fühlen«, sagte Lorenz. Es gebe »keine Rocker, die öffentlich Präsenz zeigen«. Dafür gab es Unmut über die Presse, die ein »verzerrtes Bild« zeichne – Touristen würden geplante Reisen in die Heidestadt stornieren, verunsichert durch Artikel über Umtriebe der Rocker-Clubs in Walsrode. So hatte sich beim Runden Tisch Lorenz’ Stellvertreterin geäußert. Sie selbst mahnte eine »sachgerechte Berichterstattung« an. Den Unterstützern Heers hingegen wollte sie keine Vorschriften machen. »Die Stadt kann Vereinen nicht die moralische Entscheidung, mit wem man Geschäfte macht, abnehmen«, steht in einer Art Protokoll des Runden Tisches. Lorenz bekräftigte diese Position. Es gebe derzeit keine Pläne, Vereinen, die mit Hells Angels Geschäfte machen, Zuschüsse zu streichen.
Die Auseinandersetzung um den Schutz der Open-Air-Veranstaltungen in diesem Sommer sei nur symbolisch, dahinter stehe eine »knallharte Strategie«, sagt der Gewerkschafter Charly Braun aus Walsrode: »In der Mitte der Gesellschaft ­ankommen, als honoriger Mann gelten, das ist für jemanden wie Heer entscheidend.« Mit seinen diversen Rotlichtbetrieben sei er reich geworden, zusammen mit den seriösen Unternehmen entstehe ein Konglomerat, das von außen kaum zu durchblicken sei. »Wenn jemand als ­ehrenwerter Mann gilt – welcher Finanzbeamte, welcher Polizist kommt dann und bringt es fer­tig, so genau hinzuschauen?« Und natürlich »haben die Leute auch Angst, wer traut sich schon in der Stadt, gegen ihn den Mund aufzumachen?« Dass jemand sich mit »Almosen, die von der Herren Tische abfallen, Auszubildende und soziale Vereine gefügig macht«, sei nicht hinnehmbar, findet Braun. »Wenn man sich von so was abhängig macht, dann hat das mit demokratischen Verhältnissen nichts zu tun.«