Über das Ende des deutschen Aufschwungs

Wo bitte geht’s zum Wachstumspfad?

Bislang schien Deutschland mit seinem vermeintlichen Wirtschaftswunder der Krise zu trotzen. Nun kommt das Wachstum erstmals seit über zwei Jahren ins Stocken. Angesichts der Staatsverschuldung und der schlechten Konjunktur in Europa und den USA stößt die deutsche Exportwirtschaft allmählich an ihre Grenzen.

Wie tief eine Krise einzelne Nationalökonomien trifft, lässt sich unter anderem daran erkennen, wie schnell die Wirtschaftsleistung wieder das Niveau erreicht, das sie vor der Krise hatte. Während fast alle alten Industrieländer noch weit von der Rückkehr zu ihrer vorherigen Stärke entfernt sind, hatte die Bundesregierung nach den überragenden Konjunkturdaten des vergangenen Jahres und des ersten Quartals 2011 verkündet, zwischen April und Juni werde der Ausgangswert vom Frühjahr 2008 wieder erreicht.

Daraus ist zumindest bisher noch nichts geworden. Nach den in der vergangenen Woche vom Statistischen Bundesamt veröffentlichten Angaben, in denen das Wirtschaftswachstum des zweiten Quartals auf magere 0,1 Prozent taxiert wird, ist Deutschland – wenn auch um denkbar knappe 0,05 Prozent – an der Zielvorgabe nun vorerst gescheitert. Und dies unter anderem, weil außerdem die Zahlen für das erste Quartal von einem Plus von 1,5 Prozent auf 1,3 nach unten korrigiert werden mussten. »Die Dynamik der deutschen Wirtschaft hat sich nach dem schwungvollen Jahresauftakt deutlich abgekühlt«, hieß es dazu in der Presseerklärung der Behörde.
Jetzt ist zumindest für eine kurze Zeit der Katzenjammer auch in die Bundesrepublik zurückgekehrt. Den »Abschied vom neuen Wirtschaftswunder« sah die Welt gar angesichts der Konjunkturdaten heraufziehen. An der Frankfurter Börse brach der Dax regelrecht ein. Noch am Tag der Veröffentlichung der Wirtschaftsdaten rutschte er unter die Marke von 6 000 Punkten und verlor innerhalb einer Woche 8,6 Prozent. Insgesamt hat der Aktienindex seit Anfang August bereits gut 23 Prozent eingebüßt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass der Monat August damit zum schlechtesten Monat in der Geschichte des 1988 eingeführten Leitindex wird. Auch einige Analysten ziehen in Betracht, dass ein abruptes Ende des deutschen Aufschwungs bevorstehen könnte. »Die schwachen Märkte schwächen die Konjunktur – was wiederum die Märkte belastet. Das ist ein Teufelskreis, aus dem es keinen einfachen Ausweg gibt«, kommentierte etwa Joachim Fels, Chefökonom der US-Bank Morgan Stanley, gegenüber der Welt am Sonntag. Das Risiko, dass Deutschland innerhalb der kommenden zwölf Monate in eine Rezession rutsche, liege inzwischen bei 25 Prozent, für die Euro-Zone insgesamt eher bei 50 Prozent, so Fels weiter.
Die Bundesregierung gab hingegen erwartungsgemäß Entwarnung. Im Monatsbericht des Wirtschaftministeriums hieß es in der vergangenen Woche, wegen der schlechten außenwirtschaftlichen Bedingungen dürfte die deutsche Wirtschaft »nach dem rasanten Aufholprozess nunmehr auf einen flacheren Wachstumspfad einschwenken«. »Insgesamt werden die Auftriebskräfte aber die Oberhand behalten. Sie haben sich wie erwartet stärker auf die Binnenwirtschaft verlagert«, wurde in dem Bericht prognostiziert. Vor allem Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und Wirtschaftsminister Philipp Rösler (FDP) warnten in der vergangenen Woche wiederholt vor einer Panik: Deutschland müsse keine Rezession fürchten, sagte Merkel etwa im ZDF-Sommerinterview. Unterstützung erhalten sie von den meisten Fachleuten, die sich in den Medien äußern. So wie etwa beim Münchener Ifo-Institut will man auch beim Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) nicht von Rezession reden. Dessen Chefanalyst Marcus Kappler sieht in der Stagnation gar eine Tendenz zur Normalisierung. »Eine neue Rezession sehe ich nicht heraufziehen. Die deutsche Wirtschaft kehrt – nachdem sie die Einbußen der Finanzkrise durch außergewöhnlich starkes Wachstum fast wettgemacht hat – wieder auf ihren normalen Wachstumskurs zurück«, sagte er der Welt.

Auf den ersten Blick scheint Kappler Recht zu haben. Denn im Verhältnis zum Ergebnis des gleichen Vorjahresquartals ergibt sich immerhin noch ein starker Zugewinn des Bruttoinlandsproduktes von 2,8 Prozent. Selbst durch die Korrektur der Konjunkturprognosen für das laufende Jahr nach unten durch einige Institute – die Commerzbank etwa korrigierte ihre Erwartungen für die Zunahme des Bruttoinlandsprodukts von 3,4 auf drei Prozent – wird das Gesamtbild eines stabilen Wachstums in Deutschland nur gering­fügig verschlechtert. Und im Vergleich mit den USA, mit Japan, das zuletzt Rückgänge der Konjunktur zu beklagen hatte, oder auch mit Frankreich steht Deutschland damit noch relativ gut da. Das französische Wirtschaftsministerium vermeldete jüngst eine Stagnation. So bleibt Deutschland trotz des schlechten Quartals das Musterland unter den Industrienationen und der Liebling der Rating-Agenturen. Standard & Poor’s kürte die Bundesrepublik erst kürzlich neben Kanada zum kreditwürdigsten Staat der Welt.
Dennoch sind die Probleme auch hierzulande unverkennbar. Das »Wirtschaftswunder« der vergangenen Jahre beruhte auf – gemessen an der Produktivität vor allem des verarbeitenden Gewerbes – relativ geringen Löhnen, der German diet, und einer unterbewerteten Währung, was aus deutschen Produkten Exportschlager machte. So betrugen die Überschüsse in der Außenhandelsbilanz zunächst 138,7 Milliarden Euro im Jahre 2009 und schließlich 154,3 Milliarden Euro im vergangenen Jahr. Das Niederkonkurrieren der Nationalökonomien insbesondere im Süden Europas hat für Deutschland nun aber genauso seinen Preis: Wie die Krise der USA, die über lange Jahre hinweg die weltweite Konjunktur angetrieben haben, führt die Lage in Südeuropa zu den vom Statistischen Bundesamt bereits angesprochenen Einbrüchen im Exportsektor. Dass im Zuge der Verluste an den Börsen und angesichts verringerter Verkäufe in Europa und auch in den USA die Aktien der nach wie vor zentralen industriellen Branche, der Automobilproduktion, zuletzt auf ein Zweijahrestief fielen, hat dies verdeutlicht.
Vor allem vor dem Hintergrund der dramatischen Staatsverschuldung innerhalb des Euro-Raums zeichnet sich ein Dilemma für die deutsche Wirtschaftspolitik ab: entweder eine Sparpolitik für die Haushalte der Euro-Länder durchsetzen, womit aber eine Reduzierung gerade auch deutscher Exporte einherginge, oder aber die betreffenden Staaten direkt stützen. Ein Steuerausfall oder die Zahlung von Steuermitteln in den europäischen Rettungsfonds sind die Alternativen. Wenn Arbeitgeberpräsident Dieter Hundt darauf beharrt, »dass wichtige Wirtschaftszweige – die Automobil- und Zulieferindustrie, der Maschinenbau und die chemische Industrie – stark bleiben«, so ist dies eben nur ein Teil des Problems. An wen deutsche Produkte in gleichem Maße wie in den vergangenen Jahren, in denen »Konjunkturpakete« verabschiedet und Verluste sozialisiert wurden, verkauft werden könnten und wie der von relativ unterbezahlten Beschäftigten geschaffene Mehrwert realisiert werden soll, wird immer rätselhafter zumal auch in den Schwellenländern und selbst in China das Wachstum stockt.

Eine Verstärkung des Konsums in Deutschland selbst, etwa durch steigende Löhne, ist nicht zu erwarten. Laut OECD entwickelt sich die soziale Ungleichheit in Deutschland derzeit dramatischer als in allen anderen Industrieländern. Wahrscheinlicher ist es, dass der kleine Konjunktur­einbruch dazu genutzt wird, die German diet für die Beschäftigten noch karger zu gestalten und die Exportorientierung weiter auszubauen. Rösler hat dies zuletzt auf die Formel gebracht, man müsse die Enttäuschung nutzen, um »po­litische Signale zur Verstetigung des Wachstums« durch weitere »Reformen« zu setzen.