Die Geschichte von Soundsystems

Das Boxenmonster muss in den Keller

In Deutschland entstanden die ersten Soundsystems nach jamaikanischem Vorbild Anfang der achtziger Jahre. Mitte der Neunziger setzte ein Boom von Dancehall- und ­Reggaeveranstaltungen ein, und es kam zu massenhaften Gründungen von Soundsystems. Auch Thomas Ewald ist mit einer mobilen Disko durch die Kulturzentren gezogen

Unsere Verstärker gehen eben bis elf. Das ist eins lauter als zehn«, erklärt Kaugummi kauend der Gitarrist von Spinal Tap einem Journalisten. »Aber man könnte doch einfach die Lautstärke zehn nehmen und diese höher auslegen«, meint der Journalist. Der Musiker will das nicht gelten lassen. Diese Szene, die aus einer Dokufiktion über eine abgehalfterte Metal-Band stammt, zeigt das Wahnhafte, das viele Betreiber eines Soundsystems antreibt: Man will unbedingt die dicksten, leistungsstärksten Boxen sein eigen nennen. Es müssen diese schwarzen Ungetüme sein, die mittels mehrerer LKW-Gurte zu einer erdrückenden Wand aus Holz, Plastik, Draht und Membrane zusammengebunden werden. Es darf ruhig knarzen, die Höhen können schon mal im Lärm untergehen, aber der Bass muss unbedingt die Wirkung eines Defibrillators auf den Brustkorb haben.
Als ich selbst noch Teil eines Soundsystems war, wurde das gesamte Geld, das bei den Auftritten eingenommen wurde, in die schwarze Wand gesteckt. Eigentlich war es fast unmöglich, die Monsterboxen hinunter in den verschimmelten Keller eines Kulturzentrums zu schleppen. Obwohl das Zentrum bereits eine Anlage hatte, die für Bands wie Looptroop, Non Phixion und sogar The Roots gut genug war, schindeten wir uns einmal im Monat und schmirgelten unsere Hände beim Hinuntertragen durch ein enges Treppenhaus blutig.
Wir hatten von Soundtechnik zwar ebenso viel Ahnung wie von Jamaika, also sehr wenig, bildeten uns aber ein, dass wir alles wüssten. Die Dissonanzen waren uns und dem Publikum egal. Auch mit den Botschaften nahmen wir es nicht so genau. So lange der Riddim stimmte und der geschmeidige Sprechgesang und das Toasting eingängig waren, machte sich niemand Gedanken über den Text. Patois ist schließlich auch keine leicht verständliche Sprache. Der Keller war bei unseren Auftritten dennoch immer voll. Das Publikum bestand aus HipHop-Heads, Hippies, Punks und Leuten, die Bob Marley theoretisch noch hätten live erleben können. Die Leute rasteten aus, wenn »Chi Chi Man« von den Thugs of Kingston (T.O.K.) gespielt wurde. Dass es in dem Song um »brennende Homosexuelle« ging, bemerkte keiner. Der Tune ist eine Hymne der Homophobie und mittlerweile indiziert. Doch die Debatte über Schwulenfeindlichkeit auf der karibischen Insel war vor mehr als zehn Jahren noch nicht bei uns angekommen. Wir kannten zwar den Unterschied zwischen »Rudeboy« und »Rastafari«, aber dass in Jamaika tatsächlich Übergriffe auf Homosexuelle stattfanden, war uns nicht bekannt. Wir schwammen mit auf einer Welle, die mittlerweile auch Deutschland erreicht hatte. Gentleman war im Sommer des Jahres 2000 allgegenwärtig, und Patrice sorgte dafür, dass auf einmal bei unseren Shows namens »Raggalution« Mädels auftauchten, die eine Woche vorher noch Farin Urlaub als den Mann ihrer Träume genannt hätten. Die drei größten Soundsystems, Pow Pow Movement aus Köln, Supersonic Sound aus Berlin oder Silly Walks aus Hamburg, waren so gefragt wie heute die DJs aus der Electro-Sparte. Silly Walks kamen mit einer LP sogar in die Charts und besitzen wie Pow Pow ihr eigenes Label.
In gefühlt jeder deutschen Stadt gab es bald ein Soundsystem: Von Altötting über Weiden in der Oberpfalz bis nach Kiel »juggelten« die Selektors ihre Platten. In fast jedem Jugendzentrum grölte es »Rewind Selektor«: Die Platte mit dem gerade angesagtesten Riddim wurde kurz angespielt und dann noch einmal gespielt. Der DJ schrie zwischendurch den Namen des Tune ins Mikro und wurde dabei von vier Standardtönen aus dem Synthesizer begleitet: Hupe, Sirene, Pfeife, Explosion. Er ist in dem Genre so etwas wie der Ansager beim Autoscooter. Das konnte sich hinziehen wie Kaugummi. Bei bis zu zehn Liedern mit dem gleichem Riddim, also Beat, ist das aber auch nötig. Denn sonst wird es eintönig.
Um das Repertoire an Tunes zu erweitern, versucht ein Soundsystem darüber hinaus, sich so viele Dubplates wie möglich zu sichern. Das Geschäft mit den Dubplates trägt immer noch die Züge des jamaikanischen Musikbusiness, das der Film »The harder they come« mit Jimmy Cliff eindrücklich schildert. Auch wenn Sänger wie Capleton, Anthony B, Buju Banton oder Bounty Killer gutes Geld verdienen und nicht mehr von den Produzenten der Riddims mit ein paar Dollars abgespeist werden, zeigt die Sache mit den Liedern, die sich Soundsystems von den Stars exklusiv einsingen lassen, dass sie ein pragmatisches Verhältnis zur Musik haben, nach dem Motto: Gib mir ein paar hundert Dollar, und ich singe dir, was du willst. Soundsystems kommen auf diese Weise leicht an eigene Tunes heran. Doch entscheidend ist, dass der Sänger aus Jamaika auch wirklich einen guten Tag hatte, andernfalls kann es passieren, dass ein Dubplate so lustlos klingt wie die Zeitansage der Telekom. Irgendwas Belangloses wird dann ohne Rhythmus ins ­Mikrofon genuschelt, und ab und zu wird der Name des Soundsystems erwähnt.
Im Jahr 2011 ist das nicht anders, auch wenn der Hype sich gelegt hat. In der Debatte über Schwulenfeindlichkeit durfte jeder mehr oder weniger durchdachte Argumente vorbringen. Gentleman sorgte mit einem Interview in der Taz für ein wenig Aufregung, als er den hiesigen Kritikern eine Doppelmoral vorwarf. Der selbst­ernannte Rastafari-Prediger Sizzla, ein Anhänger der höchst konservativen Bobo Ashantis, wurde kurzzeitig mit einem ­Einreiseverbot nach Deutschland belegt. Geht man durch Städte wie Hamburg oder Berlin, fällt auf, dass sich noch eine Sache nicht geändert hat: die Lustlosigkeit, mit der Soundsystems ihre Flyer und Plakate gestalten. Die drei Farben der äthiopischen Flagge werden irgendwo hingeklatscht, der Schriftzug des Soundsystems dazu gesetzt, fertig. Und immer blicken einen Menschen an, die mit ihren Händen das »One Love«-Zeichen – man kann es auch einfach Herz nennen – bilden.
Wie jede Subkultur, die nach einer kurzen Zeit des Hypes wieder im Untergrund versinkt, lebt auch Dancehall mittlerweile dank eingefleischter Fans. Die Clubs sind kleiner geworden, die Menge ist homogen: Dreadlockspitzen wippen unter gehäkelten rot-grün-gelben Mützen. Aus den HipHop-Heads sind größtenteils Hipster geworden, die sich auf Electroparties rumtreiben. Mein ehemaliges Soundsystem spielt vor solchen Leuten zwar noch, aber nur, wenn sie sich in die Chill-out-Lounge verirrt haben. Die großen Bühnen gehören nun den Dancehall-Geschwistern Drum’n’Bass und Dubstep. Und die Boxenmonster wurden mittlerweile verkauft.