Die Graphic Novel »Im Schatten keiner Türme« von Art Spiegelman

Das Trauma der Bilder

Der 11. September bedeutet für ihn die Kollision privater und historischer ­Katastrophen: In seiner Graphic Novel »Im Schatten keiner Türme« verarbeitet Art Spiegelman den Schock der Anschläge.

Seit Mitte der fünfziger Jahre bis zu seinem Tod 1967 schuf der New Yorker Künstler Ad Reinhardt ausschließlich Gemälde in Schwarz. Die minimalistischen »Black Paintings« mit ihrer Verweigerung von Kontrast, Inhalt, Perspektive und Bedeutung waren eine Provokation des Publikums und dessen Erwartungen an die Bildende Kunst. Die Bilder seien ein »Zeichen, das sich weigert zu bezeichnen«, eine Absage an die Suche nach Bedeutung, hat Reinhardt gesagt. Art Spiegelman, der als langjähriger Illustrator des New Yorker für das Titelbild der Ausgabe nach den Anschlägen vom 11. September zuständig war, hat diessen Impuls fortgeführt und für die Ausgabe vom 24. September gemeinsam mit seiner Frau Françoise Mouly ein Cover entworfen, das die schwarz gefärbten Umrisse der Türme des World Trade Center vor einem schwarzen Hintergrund zeigt. Oder eben nicht zeigt, denn die Umrisse der Türme sind erst auf den zweiten Blick zu erkennen.
In Spiegelmans vor einigen Jahren auch in Deutschland veröffentlichtem Buch »Küsse aus New York«, das seine Arbeiten für den New Yorker versammelt, sind auch die Vorarbeiten zu dem 9/11-Cover enthalten. Der erste Entwurf zeigt die schwarz verhüllten Türme vor einem blauen Himmel schwebend über der Skyline von Manhattan. In den weiteren Entwürfen sind die Farben verblasst. »Die leuchtenden Farben schienen das Schwarz im Zentrum des Bildes auf geradezu obszöne Art zu verhöhnen«, erläutert Spiegelman. Und so bleiben schließlich lediglich die Schatten der Türme bestehen. »Das Schattenbild der Türme hallt nach und behauptet durch die Schwärze seine Gegenwart«, schreibt der Zeichner. Seine ästhetische Annäherung an die Anschläge ist zugleich eine Form der Verweigerung. Spiegelman verweigert sich den Bildern der einstürzenden Türme, wie sie in den Medien gezeigt wurden, ebenso wie er sich weigert, patriotische Bekenntnisse abzulegen. Statt der Symbolkraft der einstürzenden Türme steht bei ihm zunächst seine subjektive Wahrnehmung der Ereignisse im Mittelpunkt: »Ich wollte das erschütternde und erschütterte Bild all dessen finden, was sich an diesem Morgen in Staub aufgelöst hatte.«
Die Schattenbilder der Türme bilden auch das erschütterte Fundament der Graphic Novel »Im Schatten keiner Türme«, seiner Auseinandersetzung mit 9/11 in Form des Comic, die versucht, die subjektive Wahrnehmung mit einer komplexen Reflexion über die Umstände und Folgen der Anschläge zu verbinden. Zunächst in zehn Folgen in der deutschen Wochenzeitung Zeit und dem jüdisch-amerikanischen Magazin Forward abgedruckt, erschien die Graphic Novel 2004 als Buch in den USA. Anlässlich des zehnten Jahrestages der Anschläge ist der Comic in deutscher Übersetzung im Hamburger Atrium-Verlag erschienen. Das Cover des großformatigen Albums zeigt die Schatten der Twin Towers vor einem schwarzen Hintergrund. In der Mitte befindet sich ein Panel, das historische Figuren der Zeitungscomicgeschichte im freien Fall zeigt.
Für ihn sei der 11. September ein Ereignis gewesen, in dem Weltgeschichte und persönliche Geschichte kollidierten, schreibt Spiegelman im Vorwort, und keine dieser beiden Ebenen sei unabhängig von der anderen zu betrachten. Diese Kollision von Geschichte thematisiert der Comic »Im Schatten keiner Türme« nicht nur immer wieder, der Zusammenprall wird auch in eine ästhetische Form übersetzt: Das Material selbst hat den Anschlag nicht unbeschadet überstanden. Das Album baut sich aus komplex montierten Seiten auf, auf denen mehrere Erzählstränge neben-, unter- und übereinander laufen und sich in keine harmonische Einheit bringen lassen wollen. Die Trümmer der Realität selber scheinen in den Comic eingeschlagen zu sein. Form und Inhalt spiegeln die Gewalt der Ereignisse wie auch die Frage, ob der 11. September im Comic dargestellt werden kann.
»Im Schatten keiner Türme« ist Spiegelmans erste größere Arbeit nach der Vollendung seines Comic »Maus«, in dem die Reflexion über die Frage, wie und ob man sich der Shoah in einem Bildmedium annähern kann, eine wesentliche Rolle spielt. Das Desaster scheine seine Muse zu sein, beschreibt Spiegelman im Vorwort seinen Impuls, mit einem Comic über den 11. September Ordnung in seine persönliche Erschüt­terung zu bringen und erstmals seit »Maus« wieder im Medium Comic zu arbeiten.
Wie schon in »Maus« geht Spiegelman von seiner familiären Geschichte aus, um sich weitreichenden Fragen anzunähern. 2001 besuchte Spiegelmans damals 14jährige Tochter Nadja eine High School am Fuße der Zwillings­türme. Nach dem Anschlag eilen Spiegelman und seine Frau Françoise Mouly dorthin, um sie abzuholen: »Es dauerte über eine Stunde, bis wir unsere Tochter im Chaos von 3 000 konfusen Schülern in dem zehnstöckigen Gebäude gefunden hatten. Die Eltern einiger ihrer Klassenkameraden arbeiteten in den Türmen; einige hatten gesehen, wie vor ihren Fenstern Menschen in die Tiefe stürzten.« Diese biographische Episode, eine unter vielen, wird von Spiegelman nicht linear erzählt, vielmehr muss der Leser die Anschlüsse auf den mit Fragmenten von Panelfolgen, Zitaten der Comicgeschichte und Trümmern der Türme übersäten Seiten suchen. Spiegelmans fragmentarische Gedanken werden von einem Bild leitmotivisch zusammengehalten. Es zeigt das rot glühende Stahlgerüst eines der beiden Türme kurz vor dem Einsturz. Dieses Bild bezeichnet er im Vorwort als sein »trauma­tisches 9/11-Bild«, das sich in seinen Kopf eingebrannt habe – und es ist auf jeder Seite des Comics wiederzufinden und brennt sich auch dem Leser ins Gedächtnis. Ebenso sind die titel­gebenden Schatten der Türme immer wieder präsent, sie schieben sich hinter die Panels – die sich in einer Episode gleichzeitig zu drehen beginnen und sich zu den Schatten werfenden Türmen materialisieren – und zeigen, dass es kein »objektives Dahinter« geben kann, keinen neutralen Ort, auf dem sich die Bilder der Anschläge befinden. Die Leerstellen des Comic, die Räume zwischen den Panels, werden von Spiegelman bewusst von diesen Schatten besetzt, sind es doch gerade die vermeintlichen »Leerstellen« der Anschläge, die eine Tür öffnen für Verschwörungstheorien jeglicher Couleur, die hinter den Bildern des 11. September nach den »wahren Bildern« suchen und diese in ihrem Wahn auch finden.
Dieser Wahn ist ein weiteres Motiv, das sich durch den Comic zieht. Beispielhaft arbeitet Spiegelman ihn an der Figur einer Obdachlosen heraus, der er jeden Morgen auf dem Weg von der Wohnung zu seinem Atelier begegnet und die ihm regelmäßig in einer für ihn unverständlichen Sprache hinterher schimpft. Nach dem 11. September werden aus den Worten plötzlich Drohungen gegen Spiegelman als Juden. Schuld an den Anschlägen seien die Juden. Aus der individuellen Bedrohung seiner Familie durch die ­Anschläge wird für Spiegelman das Gefühl einer antisemitischen Bedrohung. An anderer Stelle fasst Spiegelman die für ihn offensichtlichen antisemitischen Implikationen der Anschläge des 11. September mit den Worten zusammen: »Ich meine ja nicht, dass ich das Aussehen meiner Nase liebe – Ich möchte trotzdem nicht, dass da jemand ein verdammtes Flugzeug reinrammt!« Das World Trade Center als »Nase New Yorks«, wie Ole Frahm in diesem Zusammenhang über Spiegelmans Album geschrieben hat, ist Teil der antisemitischen Paranoia der Täter. Gegen pathische Projektionen gibt es keine Gegenmittel, keine »wahren Bilder«. Hinter den Bildern gibt es nur die Schatten gezeichneter Türme.
Spiegelman tritt im Comic mal als Karikaturist, mal als Maus und mal als Figur mit Maus-Maske auf. Damit verdeutlicht er sowohl die unterschiedlichen Blickwinkel, aus denen er auf den Anschlag schaut, als auch die Blicke, mit denen auf ihn geschaut wird. Wahrgenommen wird er mal als New Yorker Künstler und Intellektueller, mal als New Yorker Jude und Nachkomme von Auschwitz-Überlebenden und mal als derjenige, der gewissermaßen zum Juden gemacht wird. Der in »Maus« dargestellte antisemitische Wahn ist in »Im Schatten keiner Türme« immer gegenwärtig.
Im Vorwort beschreibt Spiegelman selbstkritisch, wie er nach den Anschlägen instinktiv, wenn auch nur für einen kurzen Augenblick, der Meinung war, dahinter müsse die amerikanische Regierung stecken. Erst als er im Radio hörte, dass arabischstämmige Amerikaner behaupteten, »die Juden« seien für die Anschläge verantwortlich, wurde ihm der Charakter solch einfacher Erklärungsmuster klar. Um ihnen vorzubeugen, hat Spiegelman sich in seinem Album auf bekannte Figuren des Zeitungscomic vom Beginn des 20. Jahrhunderts bezogen, mit denen er eine weitere Reflexionsebene eröffnet.
Das Sterben ist im traditionellen Zeitungscomic kein Thema, Figuren wie der von Spiegelman zitierte Happy Hooligan und seine Kollegen haben den Tod nicht zu fürchten, vielmehr wird ihre Unsterblichkeit im Comic abgebildet. Mit jeder Episode beginnen die Protagonisten ihre Abenteuer von Neuem, so als sei nichts gesehehen, gleichgültig, welche Katastrophen ihnen zuvor widerfahren sind. Spiegelman spielt mit dem Motiv der Wiederholung und der Unsterblichkeit, lässt aber den Tod Einzug halten in den Zeitungscomic, so wie er mit 9/11 in sein Leben getreten ist. Der Tod und das Sterben werden zu zentralen Themen in seiner Neu­interpretation der traditionellen Zeitungscomics. Spiegelman hat dem Comic eine Reihe von Tafeln mit Auszügen aus historischen Zeitungscomics von Anfang des vergangenen Jahrhunderts beigefügt, um dem Leser die zahlreichen Zitate verständlicher zu machen: Die Beispiele reichen von Lionel Feiningers »The Kin-der-Kids« über Winsor McCays »Little Nemo« bis zu George Herrimans »Crazy Cat«. Inhaltlich behandeln die abgebildeten Comics Themen wie Patriotismus, die arabische Welt oder Stadtarchitektur. Die Zeitungscomics des frühen 20. Jahrhunderts bilden für ihn einen Fluchtpunkt vor der erschütterten Realität. Gleichzeitig ist für ihn jedoch klar, dass es diese unbefangene Darstellung in der Gegenwart nicht mehr geben kann. Den Einsturz der Türme kann bei ihm niemand stoppen – wie dies noch in George McManus’ »Bringing up Father« möglich war. Zwar schöpft Spiegelmans persönliche Auseinandersetzung mit dem 11. September, sein Versuch, sich dem Anschlag im Comic reflexiv anzunähern, aus diesem Bilderfundus und kann daher nicht ohne diesen Hintergrund gelesen werden, aber gleichzeitig fordert er damit auch beim Betrachter eine Reflexion über die »Wahrheit« von Bildern und über die Bedeutung von Bild und Projektion. Mit diesem Anspruch hat Spiegelman eine komplexe Auseinandersetzung mit den Anschlägen des 11. September geschaffen, von der zu hoffen bleibt, dass sie in Deutschland als solche wahrgenommen wird.

Art Spiegelman: Im Schatten keiner Türme. ­Atrium-Verlag, Hamburg 2011, 42 Seiten, 34,90 Euro