Die Widerstandskämpferin Ruth Andreas-Friedrich

Die Schattenfrau

In Israel zählt sie zu den Gerechten unter den Völkern. In Deutschland ist Ruth Andreas-Friedrich weitgehend unbekannt geblieben. Eine Erinnerung anlässlich des 110. Geburtstags der Journalistin und Widerstandskämpferin.

Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, war sie Anfang dreißig und hatte bislang ein mäßig aufregendes Leben gehabt: Ruth Andreas-Friedrich, geboren am 23. September 1901 in Berlin, hatte Buchhändlerin gelernt, geheiratet, sich wieder scheiden lassen und im Jahr 1925 ihre Tochter Karin bekommen. In den zwanziger Jahren hatte sie als Journalistin gearbeitet und über Musik, Mode, Diäten und Gymnastik geschrieben.
Sie war Mitte vierzig, als die Deutschen sich fragen lassen mussten, wo sie in den vergangenen zwölf Jahren gewesen waren und was sie getan hatten. Ob Ruth Andreas-Friedrich erklärt hatte, dass sie im Widerstand aktiv gewesen war, ist unbekannt. Man weiß nicht, ob sie überhaupt etwas antwortete.
Fest steht jedoch, dass Ruth Andreas-Friedrich, die in Israel zur Gerechten unter den Völkern erklärt wurde, in Deutschland weitgehend unbekannt geblieben ist, wenn man von der Gedenktafel absieht, die an ihrem ehemaligen Wohnhaus im Berliner Stadtteil Steglitz angebracht ist. Der Name Ruth Andreas-Friedrich sagt nur wenigen in Deutschland etwas, obwohl sie gewissermaßen das weibliche Pendant des Literaturwissenschaftlers und Tagebuchschreibers Victor Klemperer ist. Ihre Tagebuchaufzeichnungen aus den Jahren 1938 bis 1945 erschienen 1946 in Großbritannien unter dem Titel »Berlin Underground«. Später, ergänzt um Aufzeichnungen aus den Jahren 1945 bis 1948, sind beide Bände sowohl in Westdeutschland als auch in der DDR herausgekommen.
Heute sind ihre Aufzeichnungen nur noch in Antiquariaten oder in Bibliotheken zu bekommen. Wer sie dennoch entdeckt und liest, erschrickt fast über den Mut, den sie in der Zeit zwischen 1938 und 1945 aufbrachte. Ruth Andreas-Friedrich, die keine Jüdin war und die sich hätte arrangieren können, hat alles riskiert, um anderen zu helfen. In ihren Aufzeichnungen gibt sie Aufschluss über den Alltag im Dritten Reich und über die Aktivitäten der Gruppe, der sie angehörte.
»Tag für Tag schrieb ich auf, was ich hörte, sah, erlebte«, schreibt sie im Vorwort zu ihren Aufzeichnungen. »Verschlüsselt in einer Art von Geheimschrift, mit Decknamen für alle, die ich nannte. Dass es sie und mich den Kopf kosten würde, wenn man dieses Tagebuch fand und es zu lesen verstand, war mir klar. Die fertigen Seiten verbarg ich. In der Bombenzeit nahm ich sie mit in den Keller. Sollten sie mit mir über­leben oder vernichtet werden.«
Sowohl die Aufzeichnungen als auch ihre Verfasserin haben überlebt. Ihr Tagebuch, das nach dem Krieg unter dem Titel »Der Schattenmann« publiziert wurde, beginnt mit der Schilderung eines unspektakulären Lebens im Jahr 1938: Ruth Andreas-Friedrich lebt mit ihrer Tochter in zwei möblierten Zimmern in Berlin-Steglitz. Sie schildert ihren Berufsalltag in einem gleichgeschalteten Verlag, sie schildert Berlin-Touristen aus der deutschen Provinz, die sich tagelang vor der Reichskanzlei herumdrücken, um einen Blick auf »den Führer« zu erhaschen. Wer nicht begeistert ist vom deutschen Erwachen, muss sich einsam fühlen. »Wer den Arm nicht hebt«, schreibt Ruth Andreas-Friedrich über eine Nazi-Kundgebung im Zentrum Berlins, in die sie zufällig hineingeraten ist, »wird festgenommen. Als wir uns umschauen, sehen wir etwa fünfzehn bis zwanzig Leute, die sich ebenfalls aus der Masse herauswinden und hastig in der stillen Seitenstraße untertauchen. ›Guten Abend‹, begrüßen wir sie im Vorübergehen. – ›Guten Abend‹, antworten sie freundlich. Einer zieht sogar mit gerührtem Lächeln den Hut.«
Ruth Andreas-Friedrich wollte in Deutschland bleiben und alles, was sie sah, hörte und erlebte, protokollieren. Sie war entschlossen, den Nationalsozialismus zu bekämpfen, und war bereit, jedes Risiko einzugehen. An ihrer Seite kämpften ihr Lebensgefährte, der Musiker und Dirigent Leo Borchard, und ihre halbwüchsige Tochter Karin, die sie in den Tagebüchern als Heike Burghoff auftreten lässt. Es gab einen ausgedehnten Freundeskreis, den sie immer wieder als »die Clique« oder auch den »Ringverein« bezeichnet. Die Gruppe organisiert Verstecke für Menschen, die auf der Flucht sind. »Der Ringverein«, heißt es im Tagebuch, »schiebt sich die Einquartierungen gegenseitig zu. Ihr eine Nacht – wir eine Nacht! Dauergäste sind verdächtig.«
Dass der »Ringverein« sich »Onkel Emil« nannte, wirkt aus der historischen Distanz möglicherweise etwas albern. Damals aber konnten sich die Freunde in der Öffentlichkeit treffen und sich nach dem Befinden eines Onkel Emil erkundigen, ohne die Aufmerksamkeit der Gestapo auf sich zu ziehen.
Ruth Andreas-Friedrich hat in »Der Schattenmann« ausführlich über »Onkel Emil« und die Aktivitäten der Gruppe berichtet. Diese bestanden aus Propaganda-Aktionen, Flugblätter wurden verfasst und in Briefkästen gesteckt, Nazi-Fahnen wurden abgeschnitten und Parolen übermalt. Vor allem aber sollten die jüdischen Freunde und Bekannten gerettet werden, die das Glück hatten, Mitglieder von »Onkel Emil« zu kennen.
Am 23. August 1941 schrieb sie in ihr Tagebuch: »Wir siegen, siegen, siegen. Und jeder Sieg macht Hitlers Hochmut größer.« Und: »Es ist soweit. Die Juden sind vogelfrei.« Der Versuch, ihrem jüdischen Zahnarzt und seiner Familie das Leben zu retten, misslang. Die drei wurden trotz allem aufgespürt, deportiert und ermordet. Andere haben in den Wohnungen des »Ringvereins« überlebt, unter zermürbenden Bedingungen. Denn niemand durfte die Nerven verlieren oder krank werden, weder die Helfer noch die Verfolgten.
Ein Helfer nahm eine junge Frau in seiner Wohnung auf, die an Scharlach erkrankte. Wie sie ernähren? Woher einen Arzt nehmen, Me­dikamente? Und: »Was tut man«, fragt Ruth Andreas-Friedrich im Tagebuch, »wenn ein Mensch, den man in seiner Wohnung verbirgt, eines Tages unvermutet an Herzschlag stirbt?« Sie zitiert Bekannte, die eine Antwort auf diese Frage hatten finden müssen: »›Wir haben sie (die Leiche; d.Red.) in unseren Waschkorb gelegt, mit Leintüchern bedeckt und nachts aus dem Hause getragen‹, vertrauten uns Bekannte an, die in solche Verlegenheit gerieten. ›Im Tiergarten haben wir sie rausgeholt und auf eine Bank gesetzt.‹ Sie lächeln verstört. Sie sind nicht froh über diese Lösung. Sie haben keine Übung darin, zwischen drei und vier Uhr morgens Leichen aus dem Hause zu schmuggeln und Tote auf einsame Parkbänke zu setzen. 40 Jahre lang sind sie solide Bürger gewesen.«
Der evangelische Gefängnispfarrer Harald ­Poelchau war ein ein enger Freund von Andreas-Friedrich und Borchard, er schmuggelte Lebensmittel in die Zellen hinein und Kassiber hinaus. Und berichtete von der Schwester des Opposi­tionellen Alfons Maria Wachsmann, über die Ruth Andreas-Friedrich dann – wenige Tage nach der Hinrichtung des Bruders – notiert: »Nach wenigen Tagen trägt ihr der Postbote einen Einschreibebrief ins Haus. Rechnung für das Strafverfahren Alfons Maria Wachsmann. Spezifizierung:

Verpflegungskosten täglich RM 1,50
Überführung ins Zuchthaus
Brandenburg RM 12,90
Vollstreckung des Urteils RM 158,18
Gebühr für Todesstrafe RM 300,00
Postgebühren RM 1,84
Porto für Übersendung
der Kostenrechnung  RM 0,42

158,18 Reichsmark kostet eine deutsche Hinrichtung. Reell bleibt reell. Nicht um den Bruchteil ­eines Pfennigs wird der Verstorbene betrogen.«
Jeder Tag, den man überlebte, war ein kleiner Sieg, brachte das ersehnte Ende des Krieges ein Stückchen näher. Ruth Andreas-Friedrich beschrieb den Kampf um Berlin, die Verheerungen, die der deutsche Volkssturm und die sogenannten Werwölfe noch immer anzurichten in der Lage waren. Doch am 29. April 1945 kroch, wer konnte, aus den Kellern. Die Tagebuchschreiberin konstatierte ironisch-verbittert am 15. Mai: »Wie Pilze schießen die ›antifaschistischen‹ Gruppen aus der Erde.«
Ruth Andreas-Friedrich war keine Linke. Unmittelbar nach dem Krieg wurde sie Sozialdemokratin, denn auch gegenüber den russischen Befreiern der Stadt blieb sie skeptisch. Von den deutschen Kommunisten hielt sie erst recht nichts, nachdem sie an der von ihnen initiierten Gründungsversammlung des »Kulturbundes zur demokratischen Erneuerung Deutschlands« teilgenommen hatte: »Der Saal«, schrieb sie danach, »ist gefüllt bis in die letzte Ecke. Man will sich demokratisch erneuern. Man hat den ehrlichen Willen zu Aufbau und verantwortlicher Leistung. Wenn man nur nicht immer so viel reden würde. Frank, der neben mir sitzt, schielt schon zum dritten Mal verzweifelt auf die Uhr. Seit zweieinhalb Stunden folgt eine Festansprache der anderen. ›Wir Männer der Kunst‹, tönt es mir in den Ohren, ›wir Männer der Wissenschaft … wir Männer des neuen Deutschland.‹ Empört zupfe ich Frank am Ärmel: ›Ob die vergessen haben, dass es bei uns auch Frauen gibt?‹ Sie haben es offenbar vergessen. Ebenso wie die Tatsache, dass man eine demokratische Erneuerung nicht gut mit nazistischen Superla­tiven beginnt. Fast keiner der acht Prominenten, die hier mit der Vergangenheit abrechnen und sich um die Bereinigung unseres Kulturlebens bemühen, scheint zu bemerken, wie wenig ihm bisher die Bereinigung des eigenen Sprachstils gelungen ist. Noch immer geht es ihnen um Höchstes und Letztes, um Gewaltigstes und Erhabenstes. Von Schulung, Einsatz, Zielsetzung und Marschrichtung sprechen sie mit schöner Unbefangenheit.«
Anfang Juli, als der Kulturbund tagte, erreichten die amerikanischen Einheiten Berlin. Bald waren die Spannungen unter den Alliierten zu spüren, die Ruth Andreas-Friedrich im zweiten Band ihrer Tagebuchaufzeichnungen beschreibt. Am 8. August 1945 nahm sie fassungslos den Atombombenabwurf auf Hiroshima zur Kenntnis. Und rund zwei Wochen später war sie mit Borchard bei einem britischen Offizier zu Gast. Auf dem Nachhauseweg wurde ihr Lebensgefährte, der erste Dirigent der Berliner Philharmoniker nach dem Krieg, versehentlich von einem amerikanischen Soldaten erschossen.
Die Kugel, die ihn tötete, hatte sich bei einem Scharmützel zwischen Russen und Amerikanern verirrt, der Kalte Krieg hatte begonnen, und noch einmal setzte Ruth Andreas-Friedrich sich an einen Schreibtisch, um den Verlauf der Geschichte zu protokollieren. 1948 aber verließen sie die Kräfte, sie hatte genug von dem schwie­rigen Leben in Berlin und siedelte nach München über, wo sie den Arzt Walter Seitz, ehemals Mitglied der Gruppe »Onkel Emil«, heiratete. Ihre Tochter Karin wurde Journalistin bei der Süddeutschen Zeitung und lebt noch immer in München. Ruth Andreas-Friedrich hat dort ihrem Leben aus eigenem Entschluss 1977 ein Ende gesetzt.