Rühr meine Tontafel nicht an

»Der Mächtige verübt keinen Raub«, ließ König Ischme-­Dagan im 18. Jahrhundert vor Christus notieren. Diese Behauptung erscheint gewagt, dennoch darf man annehmen, dass viele babylonische Biertrinker ihre Krüge auf das Wohl Ischme-Dagans erhoben. Denn wie es Tradition war, ließ der König anlässlich seiner Inthronisierung die Tontafeln zerbrechen, auf denen die Schulden notiert waren. Davon profitierten nicht nur überschuldete Bauern, sondern auch Zecher, die in der Schenke hatten anschreiben lassen. Wer sich eher dem Abendland verpflichtet fühlt, kann sich an der Seisachtheia, den Reformen Solons in Athen, orientieren, die neben einem Schuldenerlass sogar die Rückgabe wegen Zahlungsunfähigkeit beschlagnahmten Eigentums verfügten. Anhänger der christlich-jüdischen Leitkultur können im 5. Buch Mose über das Erlassjahr lesen: »Wenn einer seinem Nächsten etwas borgte, der soll’s ihm erlassen und soll’s nicht einmahnen.«
Seit es Schulden gibt, gibt es auch Schuldenerlasse. Daher erstaunt die Selbstverständlichkeit, mit der heutzutage davon ausgegangen wird, dass Staatsschulden vollständig bezahlt werden. Zumal offensichtlich ist, dass es zur Lösung der Schuldenkrise nur zwei Möglichkeiten gibt. Man kann mehr oder minder unauffällig die Inflation fördern und so die Schulden entwerten. Das hat den Nachteil, dass dann alles teurer wird, und zwar sehr viel teurer, wenn die Entwertung wirksam sein soll. Die zweite Möglichkeit ist, wenigstens einen Teil der Schulden zu streichen. Das ist auch im Kapitalismus ein übliches Verfahren, es kommt bei jeder Staats- und Unternehmens­pleite zur Anwendung. Manchmal werden Schulden auch aus politischen Gründen erlassen, so verzichteten die westlichen Gläubigerstaaten im Jahr 2004 auf 80 Prozent der Summe, die der Irak ihnen schuldete. Yes, they can. Es gibt immer Nörgler, wahrscheinlich forderten bereits die Großgrundbesitzer zur Zeit Ischme-Dagans: »Rühr meine Tontafel nicht an!« Derzeit nörgeln vor allem jene, die schon immer der Meinung waren, das faule Arbeitslosenpack bekomme zu viel Geld. »Dieser Staat hat kein Mitleid verdient« – das hätte in einer Kommandoerklärung der RAF stehen können, doch schrieb es Andrea Seibel jüngst in der Welt. In der selben Zeitung freut sich Michael Hüther darüber, dass dank der Kapitalmärkte »nun der Finanzpolitik die Verschuldung ausgetrieben« wird. Ohne die Hilfsleistungen »der Finanzpolitk« gäbe es allerdings wohl keine Kapitalmärkte mehr, und die Staatsverschuldung wäre erheblich geringer. Obwohl die Finanzbranche seit 2007 schätzungsweise sechs Billionen Dollar versemmelt hat, wissen die Investoren immer noch nicht, wohin mit dem vielen Geld. Aber freiwillig hergeben wollen sie es auch nicht. Deshalb muss man nicht gleich die Monarchie wieder einführen. Eine Revolution täte es auch.