Hat das Gestüt Lipica besucht, wo die Lipizzaner gezüchtet werden

Schimmel aus der Scheinwelt

Im Gestüt Lipica werden seit 431 Jahren Pferde gezüchtet, die als etwas ganz Besonderes gelten. Die Lipizzaner sind nicht nur eine Publikumsattraktion, sondern auch ein Thema für die internationale Politik.

Maestoso Batosta XII. scheint der Audienzen überdrüssig zu sein. Er wendet den Besuchern sein Hinterteil zu. Man kann es ihm nicht verdenken, denn acht- bis neunmal täglich strömen sie, nach Sprachkenntnissen getrennt, in Gruppen in seinen Stall. In einem Land, in dem Produkte aus Pferdefleisch als Delikatesse gelten, hätte es ihn jedoch schlimmer treffen können. Sein Domizil ist mit Holz vertäfelt und mit Falschgoldapplikationen versehen, überdies kann er bereits mit etwa 25 Jahren in Rente gehen. Pferde werden allerdings meist nicht viel älter.
Maestoso Batosta XII. ist ein Lipizzaner. Er könnte, wenn er sich dafür interessieren würde, auf einen beachtlichen Stammbaum zurückblicken. In der väterlichen Linie war der 1773 geborene Maestoso sein Urahn, die Urstute war die 1747 geborene Batosta. Man kann davon ausgehen, dass diese Angaben stimmen, denn anders als bei Adligen wird bei Lipizzanern das Fortpflanzungsverhalten streng kontrolliert. Polygamie ist erwünscht, aber Ordnung muss sein.
Seit 1580 gibt es das Gestüt in Lipica, Erzherzog Karl II. kaufte das Dorf und dessen Umgebung vom örtlichen Bischof. Lipizzaner werden mittlerweile auch in Las Vegas und 18 weiteren Orten auf vier Kontinenten gezüchtet, doch Lipica, darauf besteht man in Slowenien, ist das Ursprungsgestüt und soll als so etwas wie der Vatikan des Lipizzanertums gelten. Meist aber werden die weißen, seit Jahrhunderten für das Dressurreiten gezüchteten Pferde mit der Spanischen Hofreitschule in Wien in Verbindung gebracht.

Auch in Lipica gibt es »Vorführungen der klassischen Reitschule«, zuvor wird den Besuchern erläutert, dass die Zucht von Lipizzanern eine Wissenschaft für sich ist. Lipizzaner, urspünglich Karstpferde genannt, haben eine kräftige – ihre Fans sagen barocke – Statur, die sie zu Kunststücken befähigt, bei denen andere Pferde das Gleichgewicht verlieren würden. Ihren Auslauf haben die Jungtiere von Lipica auf hartem Karstboden, um den Gleichgewichtssinn zu schulen.
Entscheidend ist jedoch die Ausbildung, die in drei Stufen erfolgt und zwölf Jahre dauern kann. Die Methoden sind zuweilen streng, aber erzwingen lässt sich nichts, und die Trainer brauchen sehr viel Geduld. Nicht alle Pferde schaffen es in die »Hohe Schule«. Geschlachtet wird grundsätzlich nicht, das betont man in Lipica. Doch wer das Trainingsprogramm nicht bewältigen kann, steht in einem weniger repräsentativen Stall, wird kastriert und muss Touristen auf seinem Rücken tragen. Wenn jemand das den Pferden vorher erklären könnte, wäre ihr Eifer vielleicht größer.

In der »Hohen Schule« werden nur Hengste zugelassen, doch auf dem Pferderücken herrscht in Lipica fast Gleichberechtigung. Auch Reiterinnen führen die Pferde vor. Moderner ist in Lipica inzwischen auch die Musikauswahl, neben dem Walzer »An der schönen blauen Donau« gibt es Beethoven im Techno-Rhythmus zu hören. Das kann man nicht unbedingt als Fortschritt bezeichnen. Doch eine gewisse Anpassung an den mutmaßlichen Publikumsgeschmack ist unerlässlich. Dem Gestüt ist nicht nur ein Hotel angeschlossen, es gibt auch einen Golfplatz und ein Casino. Caribbean Poker und Thai-Massagen ergänzen das Angebot für Pferdefreunde, denn der Staatsbetrieb soll, ebenso wie die Wiener Hofreitschule, die seit 2001 eine Gesellschaft öffentlichen Rechts ist, Geld einbringen oder zumindest möglichst geringe Verluste machen.
Das ist gar nicht so einfach, denn die Ausbildung der Lipizzaner und der Reiter kann schwerlich modernen betriebswirtschaftlichen Erfordernissen gerecht werden. Levade, Pesade, Kapriole und Courbette müssen »just in time« erfolgen, doch Persönlicheiten wie Maestos Batosta XII. lassen sich nicht zum Zeitmanagement überreden. Weiße Pferde aber gibt es auch anderswo, Lipica und die Hofreitschule leben von einem barocken Mythos, den wenige wirklich kennen, aber viele einmal bewundern wollen. Überdies gelten die Lipizzaner sowohl in Slowenien als auch in Österreich als nationales Kulturgut.
Man müsste eigentlich von einem habsburgischen Kulturgut sprechen. Vermutlich konnten nur die Habsburger so etwas wie die Spanische Hof­reitschule erfinden. »Sie haben aus einer selbstgeschaffenen Scheinwelt heraus, die sie nie verließen, jahrhundertelang die wirkliche Welt beherrscht: ein sehr sonderbarer Vorgang«, urteilt Egon Friedell in seiner »Kulturgeschichte der Neuzeit« über diese Dynastie. Das an ihrer Hofreitschule gepflegte Pferdeballett ist zweifellos barock, ein animalisch-musikalisches Pendant zur zurechtgestutzten Natur im Garten von Versailles. Seit mehr als vier Jahrhunderten unter großen Anstrengungen Pferde allein für den Zweck zu züchten, das Ballett einer barocken Scheinwelt aufzuführen, die gleichermaßen faszinierend und befremdlich ist, ist eine Bemühung, die ungeachtet – oder auch gerade wegen – ihrer Skurrilität eine gewisse Bewunderung verdient.

Doch wie die Habsburger wurden auch die Lipizzaner immer wieder vom wirklichen Leben eingeholt. 1918 entgingen die Pferde des gestürzten Kaisers nur knapp der Schlachtung. Auch in den folgenden Jahrzehnten waren sie eine Angelegenheit von nationaler Bedeutung und hin und wieder sogar ein Thema für die internationale Politik. So ließ der US-General George Patton die Pferde 1945 evakuieren, um sie dem Zugriff Stalins zu entziehen. Auch in jüngerer Vergangenheit dienten Lipizzaner noch als Staatsgeschenk. Sollte in der Wüste Libyens ein sich nervös umschauender Mann auf einem weißen Pferd gesichtet werden, könnte es sich um Muammar al-Gaddafi handeln, dem die bosnische Regierung 2008 einen Lipizzaner schenkte.
Im Jahr 1999 mussten sich die Welthandelsorganisation und die EU mit den Lipizzanern befassen. »Der Ursprung der Lipizzaner war und ist Lipica in Slowenien, diese Tatsache müssen alle Länder, in denen diese Pferde gezüchtet werden, anerkennen, also auch Österreich«, forderte das slowenische Landwirtschaftsministerium. »Es muss allen klar sein, dass eine Rasse wie die Lipizzaner durch ihre Gene gekennzeichnet wird und nicht durch ihren Herkunftsort«, konterte der damalige österreichische Landwirtschaftsminister Wilhelm Molterer. Obwohl es nur um die Vermarktungsrechte ging, wurde der Streit in beiden Ländern leidenschaftlich geführt. Österreichische Medien wähnten ein nationales Erbe in Gefahr, slowenische Nationalisten demonstrierten vor der österreichischen Botschaft in Ljubljana. »Lipizzaner« wurde kein eingetragenes slowenisches Warenzeichen, so dass für Auftritte der österreichischen Hengste keine Lizenzgebühren fällig werden, Österreich erkannte Lipica als Ursprungsort der Lipizzaner an.
Der Streit flammt immer wieder auf. Als im März in Lipica vier Pferde einer mysteriösen Vergiftung zum Opfer fielen, sprachen manche von einem österreichischen »Terroranschlag«. Aufgeklärt wurde der Vorfall bislang nicht, doch allein wegen der relativ geringen Zahl der Lipizzaner, die mit einer geschätzten Zahl von 3 000 Exemplaren als gefährdete Haustierrasse gelten, sind die Züchter auf eine Zusammenarbeit angewiesen. Man darf annehmen, dass Maestoso Batosta XII. sich über vierbeinigen Besuch aus anderen Gestüten mehr freuen würde.