Die Koalitionsverhandlungen in Berlin

Wowereit verstehen

Für die Berliner Grünen endet das »Superwahljahr« mit einer Pleite. Selten wurde eine Partei so bloßgestellt wie sie bei den Koalitionsverhandlungen mit der SPD.

Volker Ratzmann hätte gewarnt sein können. Am Ende des Wahlkampfs gab Klaus Wowereit ihm einen deutlichen Hinweis. »Für eine Partei im Sinkflug ist es dumm, Maximalforderungen zu stellen«, sagte der Regierende Bürgermeister anlässlich des Streits um die Verlängerung der Stadtautobahn A 100. Doch der Vorsitzende der Grünen im Berliner Abgeordnetenhaus hörte die Signale nicht. Oder er wollte sie nicht hören, genauso wenig wie der Rest seiner Partei. Selbstverschuldet endet für die Grünen das »Superwahljahr« nun mit einer Pleite. Nicht nur bei jenen, die sich bereits auf einem Senatsposten gesehen hatten, ist die Enttäuschung groß. Die Bereitschaft zu einer gründlichen Fehleranalyse scheint hingegen weit weniger ausgeprägt zu sein.
Selten hat sich eine Partei derartig übertölpeln lassen wie die Berliner Grünen bei ihren Verhandlungen mit der SPD über eine Regierungsbeteiligung. Naiv dachten sie, für Wowereit gebe es keine Alternative. Anders als 2006 hatte sich dieser jedoch diesmal ausdrücklich die Möglichkeit offengehalten, mit den Christdemokraten zu koalieren. »Ich schließe das nicht aus – aber ich kann es mir wirklich nicht vorstellen«, lautete im Wahlkampf Wowereits sibyllinische Antwort auf die Frage nach einer möglichen Koalition mit der CDU.
Im Wissen, dass es nicht mehr zur Weiterführung von Rot-Rot reichen würde, hatte der Machtpolitiker ganz bewusst darauf hingewiesen, um eine Abhängigkeit von den Grünen zu vermeiden. Schließlich zeichnet ihn von jeher eine tiefe Abneigung gegen die Hauptstadtgrünen aus. Das Führungspersonal erscheint ihm zu vorlaut, die Basis zu unberechenbar und die wohlhabende Klientel der Partei hält er für versnobt und borniert. Dass Wowereit sich lieber einen Partner wünscht, der sich nach dem olympischen Motto »Dabeisein ist alles« willig seinen Bedingungen unterwirft, hätte den Berliner Grünen spätestens seit den gescheiterten Verhandlungen 2006 klar sein müssen. So wie er sich damals, trotz knapperer Mehrheit, für die Fortsetzung des Bündnisses mit der PDS entschied, holt sich der »Tempelhofer Sonnenkönig« nun eben die nicht minder handzahme CDU an seinen Hof.

Dass er es zuerst mit den Grünen versuchen musste, war den Erwartungen und Kräfteverhältnissen innerhalb der SPD geschuldet. Wowereit hätte, wenn auch ungern, unter bestimmten Bedingungen sogar durchaus mit ihnen koaliert. Entweder wenn ihm nichts anderes übrig geblieben wäre, was nicht der Fall ist. Oder wenn sie sich ihm vollständig unterworfen hätten. Deshalb hat die gescheiterte grüne Spitzenkandidatin Renate Künast recht mit ihrer Feststellung, Wowereit habe »Kapitulationsverhandlungen« und keine »Koalitionsverhandlungen« geführt. Dabei wählte er den einzigen wirklichen Angriffspunkt, den ihm die Grünen gelassen hatten. Von den anfänglichen Umfragen geblendet, hatten diese sich in Erwartung, die SPD überflägeln und mit Künast die künftige Regierende Bürgermeisterin stellen zu können, für einen Wahlkampf entschieden, in dem konsequent auf die Formulierung eindeutiger Alternativen zum bisherigen rot-roten Regierungskurs verzichtet wurde. Was sich hinter der postulierten »ökologischen und sozialen Modernisierung« verbarg, blieb nebulös.
Damit setzten die Grünen um, was der »Realo«-Vordenker Boris Palmer in einem internen Thesenpapier vorgegeben hatte. »Radikales Oppositionsgehabe und Fokussierung auf klassisch grüne Themen binden die Kernwählerschaft, verschrecken aber Neugrüne«, schrieb der Tübinger Oberbürgermeister im Sommer. Doch statt mit ihren schwammigen Inhalten die Wähler zu erreichen, verprellten die Berliner Grünen Teile des Alternativmilieus – wovon vor allem die Piratenpartei profitierte. Nur in einer Frage gaben sich die Grünen unflexibel: Wegen schlechter Umfragewerte in Panik geraten, erklärte der Fraktionsvorsitzende Ratzmann drei Tage vor der Wahl den Verzicht auf die A 100 zur Voraussetzung für Rot-Grün: »Wir werden keinen Koalitionsvertrag unterzeichnen, der den Weiterbau der Stadtautobahn A 100 zum Inhalt hat.« Damit engte er den Verhandlungsspielraum unnötig ein.
Nach der Wahl hätte es zwei Möglichkeiten für die Berliner Grünen gegeben, mit Ratzmanns Fehler umzugehen. Wie in anderen Bundesländern vielfach erprobt, hätten sie sich einfach dem Willen der SPD unterwerfen und vielleicht noch einen Kompromiss schließen können, um das Gesicht zu wahren. So haben es die Grünen 1995 in der Frage des Braunkohletageabbaus Garzweiler II in Nordrhein-Westfalen gehalten, 2008 in der Auseinandersetzung um das Kohlekraftwerk Moorburg in Hamburg oder 2011 im Streit um den Hochmoselübergang in Rheinland-Pfalz. Das wäre zwar einem Wählerbetrug gleichgekommen, hätte den Grünen aber wenigstens die lang ersehnte Regierungsbeteiligung beschert.
Im Bewusstsein, dass Wowereit nicht an ernsthaften Verhandlungen interessiert war, hätte die Partei sich auch für eine den Bruch einkalkulierende Verhandlungsstrategie entscheiden können. Dann jedoch hätte sie sich in den Sondierungsgesprächen nicht auf eine halbseidene Vereinbarung zur A 100 einlassen dürfen. Denn in der Frage, ob eine Autobahn gebaut oder nicht gebaut wird, muss ein Kompromiss, »der die Kernanliegen beider Partner berücksichtigt«, wie es die Führung der Grünen formulierte, ein fauler sein. Außerdem hätte sich die Partei noch andere strittige Punkte einfallen lassen sollen. Schließlich spricht einiges dafür, dass Berlin größere Probleme hat als das, ob die Stadt nun 3,2 Kilometer Autobahn mehr erhält oder nicht. So jedoch ließen sich die Grünen von Wowereit allzu billig vorführen. »Für ihn sind drei Kilometer Autobahn offenbar wichtiger als die Zukunft Berlins«, sagten Bettina Jarasch und Daniel Wesener, die Vorsitzenden der Berliner Grünen, im beleidigten Ton nach dem Scheitern der Koalitionsverhandlungen. Das könnte man genauso gut auf sie selbst beziehen.
Dass die Ausgebooteten wütend auf den sozialdemokratischen Affront reagieren, ist nicht überraschend. »Kein Grüner wird das der SPD vergessen«, empörte sich Künast. Allerdings trägt Künast, die Wowereit zuletzt nur noch als »Renatchen« verspottete, Mitschuld an dem Desaster – nicht nur durch ihre völlig misslungene Spitzenkandidatur. Offenkundig um vom eigenen Versagen abzulenken, stellte sie unmittelbar nach der Wahl die bündnispolitische Offenheit der Grünen in Frage. »Die Option Schwarz-Grün werden wir bei den nächsten Wahlen zumachen müssen«, sagte sie dem Spiegel. Berlin habe »gezeigt, dass unsere Wählerinnen und Wähler da 150 Prozent Klarheit brauchen«. Für ein Bundesland, in dem sich eine Zweidrittelmehrheit der Wähler links der CDU verortet, trifft das sicherlich zu – und es war ein grober Fehler, dass Künast das erst in der Endphase des Wahlkampfes bemerkte. Doch zum einen ist Berlin nicht überall. Zum anderen würde die Aufgabe ihrer Politik der Eigenständigkeit letztlich bedeuten, sich wie in früheren Zeiten den Sozialdemokraten auszuliefern.

Für die Sozialdemokraten waren und sind Koalitionen kühle Kosten-Nutzen-Kalkulationen. Es ist nicht das erste Mal, dass sich die SPD für die CDU entscheidet, obwohl sie auch mit den Grünen regieren könnte. Für den Bremer Bürgermeister Henning Scherf, wie Wowereit dem linken Parteiflügel zugerechnet, zahlte sich diese Entscheidung aus: Als er 2005 nach zehnjähriger gemeinsamer Regierungszeit mit der Union die Macht an seinen Nachfolger Jens Böhrnsen weitergab, hatte er den Vorsprung der SPD zur CDU von 0,8 bei der Bürgerschaftswahl 1995 auf 12,5 Prozentpunkte ausgebaut. Auch Wowereits Sprung von Rot-Rot zur Großen Koalition ist nicht so groß, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag. Sein Parteifreund Harald Ringstorff hat damit bereits in Mecklenburg-Vorpommern beste Erfahrungen gemacht. Ringstorff entschied sich, den Koalitionspartner zu wechseln, nachdem die Christdemokraten der SPD bei der Landtagswahl 2006 gefährlich nahe gekommen und aus der zuvor komfortablen eine hauchdünne rot-rote Parlamentsmehrheit geworden war. Der Wechsel lohnte sich: Aus einem knappen Vorsprung von 1,4 Prozentpunkten ist seit der Wahl Anfang September dieses Jahres wieder ein beruhigender Abstand von 12,6 Prozentpunkten geworden. Da verwundert es nicht, dass auch Ringstorffs Nachfolger Erwin Sellering weiter auf das Bündnis mit der Union setzt. Auch vor diesem Hintergrund ergibt Wowereits Entscheidung gegen die Grünen zugunsten der zweitstärksten Partei im Abgeordnetenhaus Sinn: Unter Wowereit sank die jetzige Linkspartei innerhalb von zehn Jahren von 22,6 Prozent auf 11,6 Prozent. Nun ist die CDU dran.
Nach Wowereits Absage an seine Berliner Parteifreunde kritisierte der Grünen-Vorsitzende Cem Özdemir, damit sende die SPD »bundesweit ein Signal, dass es möglicherweise auch die Alternative gibt, eine sogenannte Große Koalition im Bund zu machen«. Eine intellektuell unterkomplexe Feststellung, denn eines solchen Signals hätte es nicht bedurft. Seit Godesberg hat sich die SPD stets äußerst flexibel gezeigt, wenn es um ihre Koalitionspartner ging. Jenseits aller Programmatik war und ist sie nach allen Seiten koalitionskompatibel – wenn der Preis stimmt. Das bedeutet allerdings auch: Solange die Union auf Bundesebene vor der SPD rangiert, wird diese sich selbstverständlich im Falle einer rechnerischen Mehrheit immer für Rot-Grün statt für Schwarz-Rot entscheiden. Für die Grünen ist das nicht unbedingt eine frohe Botschaft.

Ihnen stehen harte Zeiten bevor: Nach den Wahlerfolgen und hohen Umfragewerten nach der Reaktorkatastrophe in Fukushima ist der Traum von der »Volkspartei« vorerst ausgeträumt – und auch die illusionäre Vorstellung, die SPD wäre bereit, ihnen auf Augenhöhe zu begegnen. Mit dem Scheitern von Rot-Grün in Berlin hätte Wowereit »auch seine Chancen als Kanzlerkandidat verspielt«, glaubt die stellvertretende Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion, Bärbel Höhn. Damit könnte sie recht haben. Schwer daneben liegt die frühere nordrhein-westfälische Umweltministerin jedoch mit ihrer Annahme, dass die übrigen potentiellen Kandidaten der SPD andere Umgangsformen pflegten und nicht jene »Unterwerfungsrituale, die Wowereit noch drauf hat«. Aus ­eigener leidvoller Erfahrung sollte sie zumindest Peer Steinbrück eigentlich besser kennen.