Der Aufstieg der Nationalisten in Ungarn

Die Unschuld aus der Puszta

Vor fünf Jahren begann der Aufstieg der Nationalisten in Ungarn. Nun wollen sie mit ihren politischen Gegnern abrechnen. Die internationalen Reaktionen auf die Faschisierung des Landes sind verhalten.

Es lässt sich nicht sagen, dass Ungarn an diesem Tag plötzlich nach rechts kippte. Der beispiellose Rechtsruck im Donauland geht zweifellos auf langfristig wirkende Ursachen zurück. Dennoch war es ein Schlüsselereignis der neueren Geschichte Ungarns, als am 17. September 2006 rechtsradikale Horden das staatliche Fernsehgebäude in Budapest stürmten. Es war gewissermaßen das Fanal der »revolutionären Patrioten«, wie sich viele Anhänger der rechten Parteien bezeichnen, deren Siegeszug vor fünf Jahren begann.
An jenem Tag wurde der Mitschnitt einer Rede des damaligen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsány veröffentlicht, die er bereits im Mai bei einer Versammlung der Sozialisten (MSZP) gehalten hatte. Darin ermahnte er seine Partei, die finanzielle Lage des Landes offen darzulegen und sie nicht weiterhin zu beschönigen. Die Veröffentlichung des Mitschnitts sorgte für große Empörung. Insbesondere den nationalistischen Kräften – darunter die heutige Regierungspartei Fidesz und die ultrarechte Partei Jobbik – gelang es, die Äußerungen als Indiz dafür auszulegen, dass sich die »Liberalkommunisten« ihre Wiederwahl nur durch Täuschung und Lügen hätten sichern können. Noch am selben Abend versammelten sich Tausende Menschen vor dem Parlament. Es kam zu Straßenschlachten und Krawallen, die wochenlang andauerten – unter anderem wurde das Gebäude des öffentlich-rechtlichen Fernsehsenders gestürmt und in Brand gesetzt. Die Unruhen erreichten schließlich am Nationalfeiertag, dem 23. Oktober, ihren Höhepunkt, Hunderte Menschen wurden verletzt und verhaftet. Es waren die schwersten Ausschreitungen seit Jahrzehnten in Ungarn, und dabei handelte sich gewiss nicht um einen spontanen Wutausbruch.
Denn seit 2002 arbeitete die gerade in die Opposition geratene Fidesz um Viktor Orbán am »Erwachen des Bewusstseins für das Magyarentum« und propagierte den »nationalen Widerstand« gegen die »magyarenfeindlichen Kräfte«. Ein Jahr vor den Herbstunruhen schürte Orbán dann offen den Aufstand. Die Massen »krempeln kollektiv die Ärmel hoch und hauen rein«, sagte er in einer Festrede und erklärte, dass seine Anhänger nun stark genug seien, gegen die Regierung vorzugehen. Dass es ein Jahr später genau am Nationalfeiertag, dem 50. Jahrestag des Ungarischen Aufstands von 1956, zu besonders schweren Krawallen kommen sollte, entsprach dem Kalkül der Rechten, die bemüht waren, das Bild eines »nationalen Befreiungskampfes« entstehen zu lassen.

Die Rechnung ging auf. Ungarn stürzte in eine tiefe innenpolitische Krise, in der die rechte Opposition für sich beanspruchte, »im Namen des Volkes« zu sprechen – im Gegensatz zur »illegitimen« Regierung. Es kam in den Folgejahren immer wieder zu gewalttätigen Aufmärschen und Straßenblockaden. Insbesondere die Jobbik, die die Devise »der Geist des Kommunismus muss ausgerottet werden« ausgab, konnte sich auf der Straße als Verteidigerin der »ungarischen Sache« profilieren. Einher gingen damit zahlreiche Veröffentlichungen der Rechten, die das damalige Vorgehen der Regierung als »Menschenjagd« darstellten. Bei den Wahlen 2010 verloren die Sozialisten schließlich mehr als die Hälfte ihrer Wähler. Nun, da die rechten Parteien mit überwältigender Mehrheit das Parlament kontrollieren, scheint die Zeit der Abrechnung gekommen zu sein.
Bereits in diesem Frühjahr hatte die von der Fidesz geführte Regierung ein Gesetz zur Rehabilitierung von damals »zu unrecht verurteilten« Demonstranten erlassen. Ende Juli wurden dann neue Ermittlungen zur mutmaßlichen Polizeigewalt eingeleitet. Sowohl die Regierung als auch die Jobbik betonen dabei immer wieder, dass sie die damalige sozialistische Regierung, insbesondere Gyurcsány, zur Rechenschaft ziehen möchten – und das nicht nur wegen der Ereignisse des Herbstes. Am liebsten würde man den ehemaligen Ministerpräsidenten, der mittlerweile als einfacher Abgeordneter im Parlament sitzt, auch für die ungarische Staatsverschuldung verantwortlich machen. Seit Jahren werfen die Rechten den Vorgängerregierungen, die von 2002 bis 2010 an der Macht waren, vor, das Land heruntergewirtschaftet zu haben. Ende Juli hatte Orbán dann angekündigt, dass er die Verantwortlichen für die Staatsverschuldung vor Gericht stellen wolle – notfalls mit Hilfe von Gesetzesänderungen, die das rückwirkend ermöglichen sollen. Auf internationale Kritik hin relativierte die Regierung erst einmal ihre Pläne. Nun scheint sie aber ein anderes Mittel gefunden zu haben.

Das ungarische Parlament hat bereits Mitte September Gyurcsánys Immunität als Abgeordneter aufgehoben. Nun wird gegen ihn wegen des Verdachts auf Amtsmissbrauch ermittelt. Dem ehemaligen Regierungsvorsitzenden wird dabei vorgeworfen, auf einen Grundstückstausch zwischen einem Privatinvestor und dem ungarischen Staat Einfluss genommen zu haben, wodurch der Staat finanziellen Schaden erlitten haben soll. Anfang Oktober musste Gyurcsány erstmals zur Befragung vor der Staatsanwaltschaft erscheinen. Zuvor hatte er bereits geäußert, dass er sich als Opfer politischer Justiz sehe und ihm ein »Schauprozess« gemacht werde. Auch bei der Befragung selbst brachte er diese Meinung vor den Staatsanwälten deutlich zum Ausdruck.
Da bisher noch keine Anklage gegen den Sozialisten erhoben wurde, ist nicht abzusehen, wie sich die Angelegenheit weiter entwickeln wird. Nun soll jedoch auch gegen Gyurcsánys Nachfolger Gordon Bajnaj wegen eines Konkursdelikts ermittelt werden. Die Regierung betont zwar, dass es sich um keine Abrechnung mit Oppositionellen handele, doch bisher hat sie keinen Zweifel daran gelassen, dass sie im Land »aufräumen« möchte. So wurden bereits mit Hilfe des umstrittenen Mediengesetzes, mit dem die Pressefreiheit in Ungarn erheblich eingeschränkt wurde, mehrere Hundert Journalisten bei den staatlich kontrollierten Medien entlassen, deren Dachorganisation nun vom Jobbik-Mitbegründer Daniel Papp geleitet wird. Daneben wurden in vielen Machtbereichen Fidesz-Anhänger mit langfristigen Mandaten platziert, so im Präsidialamt, bei der Oberstaatsanwaltschaft und beim Rechnungshof. Auch in den Spitzenpositionen des Kulturbetriebs wird das Personal ausgetauscht. Vergangene Woche wurde bekannt, dass das »Neue Theater« in Budapest nun von zwei landesweit bekannten Neonazis und Antisemiten geleitet wird. Sie wollen ausdrücklich mit der »krankhaften liberalen Ideologie aufräumen« und nur noch »nationales Theater« inszenieren.

Erst Ende September hat der Budapester Stadtrat – mit den Stimmen von Jobbik und Fidesz – dem Schriftsteller und Filmemacher Ákos Kertész die Ehrenbürgerschaft aberkannt. Zuvor hatte dieser in einem Interview den Untertanengeist kritisiert: »Dem Ungarn« sei es eigen, »dass er alles auf andere schiebt, immer auf andere zeigt, dass er sich zufrieden in der Pfütze der Diktatur suhlt«. Tatsächlich geben sich die Regierung und ihre Anhänger unschuldig und missverstanden. »Wir sind demokratische Kerle wie alle anderen«, beteuerte jüngst János Lázár, der Fraktionsvorsitzende der Fidesz, gegenüber der Welt.
Bisher gelingt es der Fidesz, die unter anderem mit der CDU/CSU eine Fraktion im EU-Parlament bildet, allenfalls als »defizitäre Demokraten« wahrgenommen zu werden. Ebenso wie die Jobbik wird sie dem Rechtspopulismus zugeordnet. Dabei weisen die autoritären Maßnahmen der Regierung Orbán, ebenso wie das Erstarken der Jobbik und ihrer Milizen auf dem Lande, auf eine ganz andere Qualität rechtsextremer Bewegungen hin. Der Umgang mit politisch Missliebigen und die Tendenz zur Gleichschaltung in Justiz, Medien und Kultur sind dabei nur zwei Elemente einer umfassenden Faschisierung.