Exoten in der City

Früher trieben sich Ethnologen in entlegenen Gebieten herum und untersuchten die exotischen Gebräuche dort lebender Stämme. Mittlerweile aber gibt es weitaus mehr Ethnologen als Stämme, und auch Indigene aus den hintersten Winkeln des Amazonasgebiets legen den Federschmuck nur noch an, weil das die Globalisierungskritiker erfreut und es auf dem Facebook-Profilfoto cool aussieht. Die Ethnologen wären eine aussterbende Spezies, wenn sie sich nicht vor einigen Jahrzehnten dazu durchgerungen hätten, ihre Forschungsmethoden auf Gruppen in modernen Gesellschaften anzuwenden. Es stellte sich heraus, dass, je nach Betrachtungsweise, es entweder gar keine richtigen Exoten gibt oder wir alle Exoten sind. Stammtischtrinker aus Bottrop entwickeln am Ballermann jedenfalls ebenso komplexe und bizarre Rituale wie die Stämme in Papua-Neuguinea.
Eine geheimnisumwitterte Gruppe aber blieb von der Forschung ausgespart: der Stamm der Finanzdienstleister. Erst die Krise weckte das Interesse, und nun widmet sich der Ethnologe Joris Luyendijk für die britische Tageszeitung Guardian der Feldforschung in der Londoner City. Er enthüllt eine komplexe Stammeshierarchie, die zum Teil durch subtile, den Außenstehenden unverständliche Kennzeichen und Rituale zum Ausdruck gebracht wird, aber auch ein unterschiedliches Auftreten gegenüber Fremden erfordert. So behält der Anwalt beim Mittagessen sein nicht extravagantes Jackett an, auch wenn nur Stammesangehörige zugegen sind. Der Welt will der Anwalt durch immer korrekte Bekleidung die Botschaft vermitteln: »Ich bin seriös. Und nein, meine Gebühren sind nicht überhöht, das siehst du an meinem nicht allzu teuren Jackett.« Anders der Banker. Er kleidet sich extravagant, darf auch mal die Ärmel hochkrempeln, fährt teure Autos und führt ein trophy girl mit sich. Die Botschaft: »Das kannst du auch alles haben, wenn du mir dein Geld anvertraust.« Die Indigenen haben wenig Kontakt zu Fremden, die schon als Feinde betrachtet wurden, bevor sie im Stammesgebiet zu campen begannen. Man lebt jedoch exogam, zum Zweck der Kopulation begibt sich der Banker in die Außenwelt. Nur dort findet er trophy girls. Vielleicht geht es auch gar nicht so sehr um die Kopulation, denn wie der von den Stammesangehörigen selbst benutzte Begriff andeutet, will man vor allem den Bankern und auch den Fremden vorführen, was man sich leisten kann. Über den Brautpreis wird geschwiegen, doch berichtet ein ehemaliges trophy girl, dass das Paarungsritual mit einer Begutachtung der Accessoires des Bankers beginnt und die Damen bereits anhand der Manschettenknöpfe beurteilen können, ob sich die Liaison auszahlen wird. Woraus wir schließen können, dass es in der wundersamen Welt der Finanzdienstleistungen wenigstens eine Gruppe von Menschen gibt, die über soliden Geschäftssinn verfügt.