Gespräch mit Burak Bekdil über die Chancen für einen »türkischen Frühling«

»Ich erwarte keinen türkischen Frühling«

Burak Bekdil lebt als freier Journalist in Ankara und ist der meistgelesene Kolumnist der englischsprachigen Hürriyet Daily News. In seinen Texten polemisiert er gegen die türkische Politik, besonders gegen den antiisraelischen Kurs der AKP-Regierung. Wegen »Beleidigung der Justiz« wurde er zu 20 Monaten Haft verurteilt, die – anders als bei zahlreichen anderen Journalisten – zur Bewährung ausgesetzt wurden. Mit der Jungle World sprach er in Berlin unter anderem über die Eskalation des Konflikts mit den Kurden, die Chancen für einen »türkischen Frühling« und darüber, wie Israel Erdogan in die Falle ging.

Wieso ist der Konflikt mit der PKK wieder ­eskaliert?
Dafür gibt es eine Reihe von Gründen. Die regierende AKP arbeitet am Projekt einer neuen Verfassung, und dabei wollen die Kurden durch Eskalation der Gewalt ihre Verhandlungsposition verbessern. Ein anderer Grund ist, dass die PKK keine monolithische Organisation ist und einige Elemente unabhängig agieren. Des Weiteren hat die vor zwei Jahren versprochene »kurdische Ini­tiative« der AKP zu nichts geführt. Und vor den Wahlen wechselte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zu einer sehr nationalistischen Rhetorik bezüglich der kurdischen Frage. Überdies sind Tausende kurdische Aktivisten inhaftiert worden, und nicht alle gehören zur PKK. Die Eskalation der Gewalt ist auch eine Reaktion auf diese Inhaftierungen und den politischen Richtungswechsel der AKP.
Stellt das Verfassungsprojekt einen Versuch dar, die Türkei zu demokratisieren?
Das ist der übliche Trick. Ja, es wird einige Elemente im Verfassungsentwurf geben, die der Türkei ein liberaleres und demokratisches Aussehen verleihen, aber das ist nicht das wirkliche Ziel der AKP. Sie will einen graduellen Wandel in Richtung eines Präsidialsystems mit Erdogan als nächstem Präsidenten. Und sie will fortfahren, die Türkei durch legislative und staatliche Maßnahmen zu islamisieren.
Was meinen Sie mit »Islamisierung der Türkei«?
Es geht nicht um das Handabhacken für Diebe, sondern um mehr Sichtbarkeit für islamistisches, nicht islamisches, Denken und Handeln. Dafür will die AKP mehr sichtbaren Islam in der öffentlichen Sphäre schaffen, zum Beispiel, indem sie das Kopftuchverbot für Regierungsbeamte aufhebt. Ich war immer für Liberalisierung und für eine Aufhebung des Kopftuchverbots an Universitäten, aber einem Regierungsbeamten mit einem islamistischen Kleidungsstil zu begegnen, ist für viele säkulare Türken eine beunruhigende Vorstellung. Die neue Verfassung würde es ermöglichen, alle islamistischen Manifestationen in der öffentlichen Sphäre zu legalisieren. Und ich erwarte Beschränkungen von allem, was die Islamisten als Sünde betrachten, etwa vom Alkoholkonsum.
Muss man sich von der überkommenen Vorstellung eines bestimmenden Konfliktes zwischen Militär und Islamisten in der Türkei verabschieden?
Ja, die Islamisten haben gewonnen. Das Traurige war, dass die Türken mit zwei schlechten Optionen konfrontiert waren. Die eine war die exzessive und undemokratische politische Intervention oder Herrschaft des Militärs, die andere war der Islamismus. Um eine Krankheit zu heilen, sollte man sich nicht mit einer anderen anstecken müssen, aber das ist das türkische Dilemma. Doch man muss nicht länger über den Einfluss des Militärs auf die Politik diskutieren, es gibt ihn nicht mehr.
Stehen in der Türkei angesichts dieser schlechten Optionen ebenfalls Proteste junger Menschen an, wie in vielen arabischen Staaten?
Ein ganz klares Nein. Erstens sind Türken sehr autoritätshörig, zweitens erwarte ich auch deshalb keinen »türkischen Frühling«, weil viele Türken zufrieden mit ihrer Situation sind. Sie profitieren vom Wirtschaftsboom und durch die große Untergrundökonomie ist die tatsächliche Situ­ation noch besser. Zudem ist Widerspruch derzeit etwas sehr Gefährliches in der Türkei, offener Protest bringt das sehr reale Risiko einer Verhaftung mit sich.
Was halten Sie von der Einschätzung, der türkische Boom basiere auf einer Kreditblase, die jederzeit platzen kann? Der antiisraelische Kurs der AKP-Regierung sei demnach ein populis­tisches Ablenkungsmanöver angesichts einer drohenden Wirtschaftskrise.
Als Ökonom, der ich bin, würde ich sagen, dass der Boom zwar teils auf einer Blase basiert, aber dennoch real ist. Die türkische Ökonomie ist sehr dynamisch. Ihr Hauptproblem ist das Leistungsbilanzdefizit, gegen das die Regierung derzeit angeht. Aber wie erwähnt liegt die Stärke der türkischen Ökonomie auch in der sehr erfolgreichen Untergrundökonomie, die wie ein zweiter Motor funktioniert, aber in keiner offiziellen Statistik auftaucht. Die AKP hat eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik betrieben, viele Leute haben sie gewählt, weil ihr Lebensstandard und ihre Gesundheitsvorsorge sich deutlich verbessert haben.
Was sind dann die Gründe für die drastische Verschlechterung der türkisch-israelischen Beziehungen in den vergangenen Jahren? Und hätten die Israelis etwas tun können, um dies zu verhindern?
Sie hätten schlau genug sein können, nicht in die von der AKP aufgestellte Falle zu laufen. Anstatt einen Preis dafür bezahlen zu müssen, die Beziehungen zu Israel zu ruinieren, hat Erdogan an Popularität und Stimmen gewonnen. Also machte er weiter, während die Israelis sich zwei nachvollziehbaren Illusionen hingegeben haben. Sie dachten, dass sie mit einem islamistischen Ministerpräsidenten leben müssen und auch können, weil er nicht in terroristische Aktivitäten verwickelt ist. Die Israelis haben das Potential für Spannungen bis hin zur militärischen Konfrontation unterschätzt. Sie haben sich fast kindisch öffentlichen Konfrontationen mit der AKP hingegeben, ohne zu sehen, dass sie Erdogan dadurch nur mehr Popularität verschaffen. Ihr größter Fehler war der Mavi-Marmara-Vorfall, bei dem sie neun angebliche Aktivisten, die in Wahrheit propalästinensische Radikale waren, getötet haben. Militärisch betrachtet hätten die Israelis das Schiff auf hundert anderen Wegen stoppen können, ohne Menschen zu töten.
Wie beurteilen Sie die türkische Rolle im Fall Gilad Shalit und die Aufnahme einiger der übelsten freigepressten Terroristen durch die Türkei?
Das ist ein weiteres Zeichen dafür, dass die Türkei diese Terroristen nicht als Terroristen betrachtet. Die Türkei wollte eine Rolle bei dem Deal spielen, aber sie wurde von den Ägyptern und auch den Deutschen zur Seite gedrängt. Dabei ging es der türkischen Regierung nicht um die Befreiung ­eines israelischen Soldaten, sondern um die Befreiung von Gefangenen aus israelischer Haft. Das Ziel war es nicht zuletzt, der Welt zu zeigen, wie human Islamisten sein können.
Wie erklären Sie sich die Syrien-Politik der türkischen Regierung, die mittlerweile auf den Sturz des ehemaligen Verbündeten Assad zielt?
Erst einmal war das der Kollaps der bisherigen türkischen Strategie, denn es gab Pläne für einen türkisch geführten Block mit Syrien, Libanon und Jordanien, dem sich dann Irak, Iran und weitere islamische Länder anschließen sollten, einige Golfstaaten und idealerweise auch Ägypten. Der arabische Frühling hat alle diese Pläne zunichte gemacht, und Erdogan musste sich in Syrien auf die Seite der Bevölkerung stellen. Ein weiterer Grund ist Erdogans religiöser Blick auf das Weltgeschehen. Nach außen pflegte Erdogan sehr freundschaftliche Beziehungen mit Assad, aber er sah ihn immer als den unzuverlässigen Anhänger eines schiitisch-alevitischen Glaubens. Wenn es gegen Juden oder Christen geht, hält er zu den Muslimen, aber bei sunnitisch-schiitischen Spannungen zu den Sunniten.