Die Ambivalenz der Proteste und die Chancen der Occupy-Bewegung

Mut zur Dynamik

Die Anti-Banken-Bewegung ist politisch diffus und in mancherlei Hinsicht alles andere als links, aber ohne die Dynamik einer Bewegung kann kein kritisches Bewusstsein entstehen.

Proteste gegen die Krise gab es, seit sie als »Finanzkrise« im Spätsommer 2008 in die Tagesnachrichten geriet. Die Krisegab es zwar schon vorher, sie kam aber nur auf den Wirtschaftsseiten der Zeitungen vor und wurde deshalb auch von der Linken weltweit kaum wahrgenommen. Eine Ausnahme stellten nur jene gesellschaftlichen Gruppen dar, die sich bewusst waren, dass nicht die Krise, sondern der Alltag ihr Problem war.
Auch Attac, eigentlich von den Arbeitsthemen her dazu prädestiniert, früher und genauer als andere auf die Entwicklung der (Finanz-)Wirtschaft zu schauen, hatte zwar schon länger vor den einschlägigen Entwicklungen gewarnt, konzentrierte Aufmerksamkeit und Ressourcen aber erst nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers auf die Krise.
Allerdings gelang es zumindest in Deutschland sehr rasch, zu vermitteln, dass es sich eben nicht nur um eine Finanzkrise handelte, der sicherlich eine Wirtschaftskrise folgen würde, sondern um eine systemische Krise des Kapitalismus. In einer Attac-Erklärung vom Oktober 2008 heißt es: »Die Zeit ist reif für einen Systemwechsel. Wir dürfen die Politik nicht damit davonkommen lassen, die Akteure des Finanzmarktkapitalismus in einen Zustand zu versetzen, das Spiel von Neuem zu beginnen. Technische Reparaturen reichen nicht. Es ist Zeit für eine Wende.« Im Anschluss wurde die Hoffnung formuliert: »Die Menschen sind nicht länger bereit, den Irrsinn eines Systems zu ertragen, in dem steigender gesellschaftlicher Reichtum destruktive Krisen auslöst.«

Genau das aber erwies sich bald als Irrtum. Die »Wir zahlen nicht für eure Krise«-Proteste blieben nicht nur quantitativ schwach, sie erreichten auch organisatorisch nur den engeren Kreis der Linken. Es gab keinen gesellschaftlichen Aufbruch, keine Wut brach sich Bahn. Bei den radikaleren Linken dominierten Zaghaftigkeit und Mutlosigkeit, bei den gewerkschaftlich orientierten die Hoffnung, nach dem Ende der Krise werde bald wieder alles sein wie vorher. Noch so viele Veranstaltungen, Kongresse zur K-Frage, Aktionskonferenzen und ähnliches konnten daran nichts ändern. Und als im Sommer 2010 überall in Deutschland das Ende der Krise verkündet wurde, rieb sich die Linke zwar erstaunt die Augen und stellte fest, dass diese Einschätzung in anderen Ländern nicht geteilt wurde. Aber selbst nachdem die Krise als »Eurokrise« ins Bewusstsein der Öffentlichkeit zurückgekehrt war, geschah in Deutschland nichts.
Deshalb waren die Erwartungen bescheiden, als im Frühjahr dieses Jahres die spanische Bewegung der Indignados zu einem weltweiten Protesttag am 15. Oktober aufrief. Immerhin entschied Attac, eine größere zentrale Veranstaltung auf diesen Tag zu legen. Tatsächlich waren dann in zahlreichen Städten mit 40 000 bis 50 000 Menschen ungefähr so viele auf den Straßen wie im März 2009. Und dennoch hat das alles eine völlig andere Wirkung als damals. Auf den Demonstrationen von 2009 waren die alten Akteure unter sich geblieben. Alle wussten, dass die Proteste nichts verändern würden; dafür hätten sich gesellschaftliche Gruppen beteiligen müssen, die bisher abseits standen.

2011 ist genau das geschehen. Selbstverständlich waren am Samstag vor zwei Wochen auch Leute auf der Straße, die vor zwei Jahren schon dabei waren. Selbstverständlich sind manche von denen auch in Zelten und Versammlungen auf den Plätzen. Aber geprägt wird das Ganze durch neue Ausdrucksweisen und neue Menschen. Offenes oder lebendiges Mikrophon, weitgehend durchgesetztes Verbot von Partei- und Organisationsfahnen, Besprechung jedes Anliegens von wem auch immer in der Vollversammlung – solche Dinge mögen im Einzelnen nicht neu und vielleicht auch nicht dauerhaft durchzuhalten sein, geben aber erst einmal ein völlig anderes Bild ab als herkömmliche linke Veranstaltungen. Die Rolle des Web 2.0 wird betont, aber da beginnt aus meiner Sicht die Geschichte der Parallelen und Gemeinsamkeiten.
Auch von uns von Attac wurde zu Anfang häufig gesagt, dass wir »die Möglichkeiten des Internet« zur Mobilisierung nutzen würden. Auch uns wurde attestiert, eine Jugendbewegung zu sein, obwohl auch reichlich ältere Menschen dabei waren. Auch über uns hieß es, wir seien erst einmal auffällig durch Protestformen und weniger durch Inhalte. Wie viel davon stimmt, ist erst einmal egal, wichtig ist, dass die Medien so funktionieren, weil solche Erscheinungen Neugier und Aufmerksamkeit wecken. So verdankte auch Attac seine öffentliche Präsenz viel weniger seinen zahlreichen Aktiven und Aktionen als vielmehr der Medienberichterstattung. Und diese wiederum stärkte den Zulauf zu Attac.
Mir scheinen diese formalen Ähnlichkeiten nicht zufällig zu sein, sondern auf Fragestellungen und Bedingungen zu verweisen, denen sich heute jede Bewegung stellen muss.
Wenn es denn stimmt, dass das kapitalistische System als ganzes in der Krise ist, dass das gesamte auf der Produktion von langlebigen Massenkonsumgütern beruhende Akkumulationsmodell nach Jahrzehnten seiner Finanzialisierung so langsam an sein Ende kommt, dann kann eine Bewegung heute nur eine von Beginn an globale sein. Nationale oder sektorale Reparaturen können der Krise nicht beikommen. Deshalb ergibt sich die Situation, dass nicht nur oppositionelle, sondern objektiv auch solche Kräfte auf grundlegende Änderungen drängen müssen, die einen anderen Kapitalismus retten wollen. Beide Aspekte sind deutlich sichtbar.

Der Internationalismus ist sowohl bei der globalisierungskritischen Bewegung einschließlich Attac wie bei der neuen Occupy-Bewegung notwenige Gründungsbedingung – anders als noch bei der Arbeiter- oder der Friedensbewegung, wo er über die Rolle einer selbstgestellten Aufgabe nie hinauskam. Gleichzeitig sind die Inhalte so vage, dass sie sowohl zur Systemopposition wie als Basis für ein gründlich verändertes neues kapitalistisches Akkumulationsregime geeignet wären. Sollten sich die Eliten weltweit mehrheitlich in Richtung des letzteren bewegen (wovon bisher nichts sichtbar ist), dann fänden sich in den jüngeren Bewegungen genügend Menschen zur Kooperation. Diese klassenmäßige Ambivalenz ergibt sich nicht nur aus der sozialen Herkunft der meisten Aktivistinnen und Aktivisten aus der Mittelschicht, sondern auch aus der objektiven Unhaltbarkeit des aktuellen Akkumulationsregimes.
Dabei geht es nicht nur um rein ökonomische Fragen, sondern auch um gesellschaftspolitische. Demokratie, nach Antonio Gramsci »Herrschaft durch Konsens«, funktioniert nicht mehr. Nachwachsende Generationen und nicht radikal system­oppositionelle Gegeneliten finden keinen Platz mehr im bestehenden Herrschaftsmodell. Also rebellieren sie irgendwann. So ist es nicht verwunderlich, dass am Anfang der beiden jüngsten politischen Bewegungen Aufstände in Weltgegenden standen, in denen diese Probleme besonders zugespitzt sind, so dass die Forderung nach demokratischer Teilhabe und Selbstbestimmung hier in den Vordergrund trat.
Das zapatistische »Eine andere Welt ist möglich« lieferte der globalisierungskritischen Bewegung ihr Stichwort und Motto gegen Margaret Thatchers und Gerhard Schröders »Es gibt keine Alternative«. Und der »arabische Frühling« inspiriert nicht nur die Protestformen der derzeitigen Platzbesetzer. Beides kann man als Teile eines neuen Protestzyklus, als Suchbewegungen nach einem eigenen Ausdruck verstehen. Beide sind keine klassenkämpferischen, sondern demokratische Volksbewegungen mit allen sich daraus ergebenden Schwierigkeiten.

Dazu gehört auch, dass kaum einem und einer Beteiligten klar ist, was die Berufung auf das ideologische Konstrukt »Volk« alles an Unheil anrichten kann. So gibt es derzeit Berichte, dass zumindest vereinzelt rechte und rechtsextreme Personen und Inhalte geduldet wurden (»alle müssen reden dürfen«). Attac hatte in den Anfangsjahren dasselbe Problem. Vor allem die Konzentration auf Banken und Finanzwirtschaft, die bei der Occupy-Bewegung noch stärker zu sein scheint, als sie bei Attac je war, schafft hier Schwierigkeiten. Natürlich sind hier antifaschistische und antinationale Einwände völlig berechtigt, aber Bewusstsein ändert sich im Prozess und nicht schon vorher.
Dieselbe Widersprüchlichkeit zeigt sich auch im Verhältnis zur und im Verhalten der Obrigkeit. Aus Berlin wird über brutale Polizeieinsätze berichtet, aus Frankfurt heißt es: »Die Kooperation mit der Polizei ist Programm, Randalierer sind unerwünscht.« Und wenn sogar Finanzminister Wolfgang Schäuble Verständnis äußert und Barack Obama die Proteste für seinen Wahlkampf nutzen will, dann müssen alle linken Alarmglocken schrillen.
Gleichzeitig ist es diese Offenheit, die Dynamik erzeugt. Beide Male, um die Jahrtausendwende ebenso wie jetzt, ist ein vielgehörtes Statement der sich Bewegenden, dass man mit den herkömmlichen Formen auch und gerade von oppositioneller Politik nichts anfangen könne, sich darin nicht vertreten sehe. Attac sollte es nachdenklich stimmen, dass es so schnell aus der Rolle des alternativen in die des traditionellen Akteurs geraten ist. Auch für uns gilt, wie es in einem Text aus der Interventionistischen Linken (der es ja ähnlich geht) heißt, »dass gerade die Linke erst einmal zuhören muss: dass sie das Zuhören wieder lernen muss«. Bewegungsdynamiken sind riskant und können in die falsche Richtung führen. Aber ohne die Dynamik einer Bewegung geschieht gar nichts.

Der Autor ist Mitglied des Attac-Rates