Der Anschlag auf »Charlie Hebdo« und auf die Meinungsfreiheit

Gefühle als Vorwand

Der Anschlag auf die französische Zeitschrift Charlie Hebdo war ein Angriff auf die Meinungsfreiheit. Die Debatte darüber zeigt, dass sich das Verständnis für die vermeintlich »verletzten Gefühle der Muslime« in säkularisierten Gesellschaften etabliert hat.

Mit einem zunehmenden Gefühl der Übelkeit habe ich die Ereignisse um die Pariser Satirezeitschrift Charlie Hebdo und um ihre Sonderausgabe mit dem Titel »Charia Hebdo« verfolgt.
Am Morgen des 2. November wurde ein Molotow-Cocktail durch die Fensterscheiben der Redaktionsräume auf dem Boulevard Davout im 20. Pariser Arrondissement geschleudert. Das Büro brannte vollkommen aus, und es war reines Glück, dass dabei niemand verletzt wurde. Die öffentliche Empörung über diesen Angriff war erwartbar, auch wenn in der Debatte auch beunruhigende Stimmen zu vernehmen waren. Die Unterstützung der Tageszeitung Libération, die den Kolleginnen und Kollegen von Charlie Hebdo nach dem Anschlag in ihren Redaktionsräume Asyl gewährte, war ein wichtiges, aber nicht selbstverständliches Zeichen der Solidarität.
Bisher hat sich niemand zur Tat bekannt, doch darüber, dass sie auf die Veröffentlichung von Karikaturen über den Islam und die Sharia zurückzuführen ist, bestehen kaum Zweifel (siehe Seite 4). Diese Gewalttat zeigt, wie stark die religiösen Kräfte, die eine Einschränkung der Meinungsfreiheit anstreben, geworden sind – und das in dem Land, in dem das Recht auf freie Meinungsäußerung in der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 zum ersten Mal als Menschenrecht bezeichnet wurde.

Noch beunruhigender ist der Umstand, dass dieser religiös motivierte Brandanschlag nicht der einzige obskurantistische Versuch ist, die liberale Öffentlichkeit in Frankreich einzuschüchtern. Am Théâtre de la Ville, am anderen Ende von Paris, läuft derzeit ein Stück des italienischen Regisseurs Romeo Castellucci mit dem Titel »Sur le concept du visage du fils de Dieu« (siehe Dschungel-Seiten 6/7). Das Theater wurde in den vergangenen Wochen zum Ziel täglicher Attacken christlicher Fundamentalisten, die sich vor dem Eingang versammelten, das Publikum mit Eiern bewarfen und versuchten, die Aufführung zu verhindern. Diese Aktionen wurden von berüchtigten katholischen Grüppchen wie »Renouveau Français« und »Civitas« angeführt, die eindeutig als rechtsextrem einzuordnen sind. Auch diese Vorfälle haben für Aufsehen gesorgt und eine Debatte ausgelöst.
Dabei fällt auf, dass im Falle dieses von religiösen Fundamentalisten als »blasphemisch« empfundenen Theaterstücks kein linker Kommentator oder Intellektueller es wagte, von der Beleidigung »christlicher Gefühle« oder von »Christenfeindlichkeit« zu sprechen. Dabei stehen hinter den fortgesetzten islamistischen Angriffen auf die Meinungsfreiheit auch rechtsextreme religiöse Bewegungen. Ein Großteil der politischen Linken – in Frankreich wie anderswo – begreift nicht, dass der rechtsextreme Charakter der islamistischen Ideologie in ihrer Feindschaft gegenüber den Standards der Aufklärung in der Politik und im öffentlichen Leben besteht. Vielleicht hängt dieses intellektuelle Versagen damit zusammen, dass christliche und islamistische Fundamentalisten, trotz gewisser Ähnlichkeiten, sich nicht besonders mögen. Warum sollten sie das auch? Der von den verschiedenen rechten bis rechtsextremen Bewegungen gepflegte Partikularismus sorgt dafür, dass sie sich gegenseitig verachten und bekriegen, ähnlich wie es bei den französischen und den deutschen Rechtsnationalisten in den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts der Fall war. Das gilt auch für den schrecklichen Terroranschlag von Anders Breivik in Norwegen im vergangenen Sommer, der stolz eine hausgemachte Mischung aus rechtsextremer Ideologie, Kreuzritter-Phantasien, antiislamischem Ressentiments, europäischem Überlegenheitswahn und Antiliberalismus präsentierte.

Die demokratischen Kräfte in den säkularisierten westlichen Gesellschaften sollten begreifen, dass wir uns in einer neuen Situation befinden, nämlich einer seit dem Zweiten Weltkrieg nie dagewesenen Verdichtung auf der Seite der Rechtsextremen, wobei extremer Nationalismus, Neonazismus, Ethnopluralismus und Rassismus mit dem christlichen und dem islamischen Fundamentalismus konkurrieren. Man darf sich nicht dadurch blenden lassen, dass diese Ideologien und Bewegungen sich gegenseitig anfeinden: Gemeinsam haben sie alle ein tiefes Ressentiment gegen die Aufklärung und den Liberalismus.
Mein Übelkeitsgefühl hat sich verstärkt, nachdem ich einige Beiträge zur Debatte um den Anschlag auf Charlie Hebdo gelesen hatte, welche die Taten der Terroristen relativierten, manchmal erklärten, rechtfertigten oder sogar explizit unterstützten. Bruce Crumley zum Beispiel, der Paris-Korrespondent des renommierten Time Magazine, schrieb einen langen Artikel unter dem Titel »Muslims sensitive to jokes about their faith« und richtete sich mit diesen Worten an die Opfer des Anschlags: »Ich bedauere Ihre Verluste zutiefst, Charlie, und es gibt keine Entschuldigung für eine derart kriminelle Reaktion auf Ihre aktuelle Ausgabe. Aber sind Sie noch der Ansicht, dass es sich gelohnt habe, einen so hohen Preis zu zahlen für die Veröffentlichung einer derart beleidigenden, beschämenden und äußerst humorlosen Parodie, die nur aus einer Weil-wir-es-dürfen-Logik heraus entstand? Wenn ja, viel Glück mit den Kohlezeichnungen, die Sie jetzt publizieren müssen.«
Die banale Tatsache, dass Humor eine subjektive Angelegenheit ist, gilt hier als Rechtfertigung für Brandstiftung. Ich zum Beispiel finde den Kohlen-Witz von Crumley überhaupt nicht witzig. Wäre es also mein gutes Recht, einen Molotow-Cocktail durch die Fenster seines Büros beim Time Magazine zu schleudern? Das würde zumindest aus Crumleys haarsträubendem Schluss folgen: »Also, die Gewalt gegen Charlie Hebdo war abscheulich, unannehmbar, verwerflich und kriminell. Aber all das, abgesehen von kriminell, ist die Ausgabe von Charlie Hebdo selbst.«
Die Veröffentlichung von Karikaturen und der Brandanschlag auf ein Gebäude stehen also auf derselben moralischen Stufe. Das niederträchtige Argument, ein Brandanschlag sei nicht weniger verwerflich als einige, wenn auch etwas geschmacklose Witze, entstammt einer Haltung, die sich unter vielen westlichen Intellektuellen und Kommentatoren in den vergangenen Jahren verbreitet hat, nämlich aus dem Verständnis für die vermeintlich »verletzten Gefühle der Muslime«. Die gesamte Sonderausgabe von Charlie Hebdo wird dabei als eine einzige Provo-Nummer interpretiert, die ausschließlich Witze über Anhängerinnen und Anhänger des muslimischen Glaubens enthalte. Der unmittelbare Anlass für die »Charia Hebdo« war aber nicht die Verachtung religiöser Bürgerinnen und Bürger, in Frankreich oder anderswo, sondern ganz konkret die Debatte um die Einführung der Sharia in Libyen und Tunesien in den vergangenen Wochen. Es geht also um ein außenpolitisches Thema, das Kritik, Hohn und Spott ebenso verdient wie die Politik von Präsident Nicolas Sarkozy oder andere innenpolitische Themen.

Ein Großteil der Ausgabe widmet sich satirisch der Frage, ob eine »weiche«, also gemäßigte Sharia möglich sei – also ein islamisches Recht, das ohne die Steinigung von Frauen, die Tötung von Homosexuellen und die Missachtung elementarer Menschenrechte auskommt. Die Entwicklungen in den arabischen Ländern in diesem Jahr haben gezeigt, dass diese Frage eines der dringendsten politischen Probleme unserer Zeit darstellt. Die Kritik an der politischen Ideologie des Islam, die auch durch Satire zum Ausdruck kommt, ist Bestandteil dieser Debatte. Darin eine Beleidigung der Gefühle »der Muslime« zu sehen, wäre dasselbe, wie Kritik an der Politik Angela Merkels als Angriff auf »die Deutschen« und ihre Gefühle zu interpretieren, was ziemlich absurd wäre.
Aber hat der Anschlag auf die französische Zeitschrift wirklich mit der Verletzung irgendwelcher religiösen Gefühlen zu tun? Ich bezweifle es stark. Es gibt einen viel näherliegenden Grund dafür, dass islamistische Fundamentalisten versuchen, teilweise gewaltsam gegen satirische Darstellungen ihres Glaubens vorzugehen, die zur Delegitimation ihrer politischen Ziele beitragen könnten.
Satire spielte bekanntlich eine wichtige Rolle im jahrhundertelangen Prozess, in dem sich die europäischen Gesellschaften von der Herrschaft der Religion emanzipierten und der schließlich das Christentum dazu zwang, sich bestimmten Grundprinzipien der Aufklärung zu beugen. Aus diesem Grund fürchten islamistische Bewegungen, die sich für die »Hüterinnen des wahren Glaubens« halten, die Satire und die Ironie. Das ganze Gerede von »Verleumdung« und »Beleidigung« ist dabei nichts anderes als ein Vorwand, um schließlich die Forderung zu stellen, der Islam solle von jeder Art von Kritik verschont bleiben.

Diese Kombination aus Gejammer, Todesdrohungen und Brandstiftung ist aber eine erfolgreiche Strategie. Interessant waren die Folgen der Flammen von Paris zum Beispiel in Dänemark, bei der Zeitung Jyllands-Posten, die im Jahr 2005 mit der Veröffentlichung von harmlosen Witzen über den muslimischen Propheten den sogenannten Karikaturenstreit auslöste. In einem überraschenden Editorial schrieb der Chefredakteur der Zeitung, JØrn Mikkelsen, vergangene Woche, er werde keine einzige Karikatur aus Charlie Hebdo nachdrucken. In seinem sehr widersprüchlichen Text lobt er die »Charia Hebdo« – bis zum letzten Absatz, in dem die überraschende Wende kommt. Mikkelsen versucht zu erklären, warum die Solidarität, die dem Jyllands-Posten 2005 von den französischen Kolleginnen und Kollegen entgegen gebracht wurde, nicht erwidert wird. Aber es wirkt, als wäre der Text eigentlich geschrieben worden, um zu erklären, warum die Karikaturen nachgedruckt werden.
Dieser Eindruck verstärkte sich nach einem Fernsehauftritt am 6. November, bei dem sich Mikkelsen verunsichert und unfähig zeigte, eine deutliche Position zu formulieren. Gewalt produziere nur mehr Gewalt, lautete seine Botschaft, und zugleich versuchte er, seine Entscheidung, die Karikaturen nicht zu drucken, als eine neue Form der Verteidigung der Meinungsfreiheit darzustellen. Der Verdacht liegt nahe, dass die Redaktion des Jyllands-Posten möglicherweise vom Verlag unter Druck gesetzt wurde, aus Angst vor gewaltsamen Vergeltungsaktionen. Jedenfalls zeigt die Entscheidung der dänischen Zeitung, dass die fundamentalistische und obskurantistische Strategie der Einschüchterung auch in einer säkularisierten Gesellschaft Erfolg hat.
In Europa haben viele Zeitungen das Bild der Titelseite von Charlie Hebdo veröffentlicht. In Großbritannien und den USA waren es weniger. Libération erhielt Drohungen, weil die Zeitung sich mit den Kolleginnen und Kollegen solidarisierte. Langsam, aber kontinuierlich verbreitet sich in demokratischen Gesellschaften das Gift der extremen religiösen Rechten, die den Raum der Kritik und der freien Meinungsäußerung einschränken will.

Aus dem Englischen von Federica Matteoni