Zwei Internetportale sollen über Lebensmittel aufklären

Nahrungssuche im Produktdschungel

Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner profiliert sich mit zwei Internetportalen, die über Lebensmittel aufklären. Kritiker werfen ihr vor, damit vom mangelhaften Engagement für die Konsumentenrechte abzulenken.

Will man wirklich wissen, was in der »Oma Hilde Mettwurst« drin ist? Die Verbraucher von heute wollen das offenbar. Mit lebensmittelklarheit.de und lebensmittelwarnung.de gibt es zwei neue, staatlich geförderte Internetseiten, die dabei helfen sollen. Ersteres Portal, das vom Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz gefördert und von den Verbraucherzentralen betrieben wird, startete Ende Juli – und brach prompt wegen der großen Nachfrage zusammen. Das Portal umfasst eine Auflistung von Lebensmittelprodukten, bei denen sich Verbraucher durch die Aufmachung oder Kennzeichnung getäuscht fühlen. Bisher haben über 3 800 Verbraucher eine solche Meldung gemacht. 900 Produktmeldungen wurden bislang geprüft, 72 davon bestätigt und auf dem Portal veröffentlicht.
Bemängelt wird etwa ein Limonadenetikett mit großer Zitrone, obwohl im zugehörigen Getränk keinerlei Fruchtanteil enthalten ist. Die »Escoffier Zitronengras Creme-Suppe« bietet eine »Gourmet-Garantie«, aber nur 0,2 Prozent Zitronengras, und das auch noch gefriergetrocknet. Ebenso enthält die Kalbsleberpâté von Lacroix nur drei Prozent Kalbsfleisch und zwei Prozent Kalbsleber, obwohl auf dem Etikett das abgebildete Kalb umfassend präsent ist. Die »Gefro Sauce Hollandaise« wiederum gibt vor, »ohne geschmacksverstärkende Zusatzstoffe« auszukommen, doch genau für diesen Zweck wird tatsächlich Hefeextrakt zugesetzt. Und »Patros in Öl« verspricht mit der Aufmachung einen in Salzlake gereiften griechischen Käse aus Schafs- oder Ziegenmilch in Olivenöl, darüber thront ein Folkloregrieche mit Hirtenstab. Doch das Produkt enthält nur deutschen Kuhmilchkäse in reinem Pflanzenöl.
Dass Lebensmittelverpackungen mit unseriösen Versprechungen bedruckt sind, wird schon lange von Verbraucherschutzorganisationen kritisiert. So deckte Stiftung Warentest zuletzt bei Erdbeerjoghurts oder Balsamico-Produkten Etikettenschwindel auf. Mit der Förderung der Portale knüpft Verbraucherschutzministerin Ilse Aigner (CSU) zwar öffentlichkeitswirksam daran an, doch von verschiedenen Seiten wird dies als unzureichend kritisiert. So vermisst die Verbraucherorganisation Foodwatch bei »Lebensmittelklarheit« »verbindliche Maßnahmen«. Auch die Verbraucherschutzexpertin der Grünen, Bärbel Höhn, mahnt, solche Aufklärung sei kein Ersatz für gesetzliche Maßnahmen gegen irreführende Werbung und für eine transparente Etikettierung. Und Nordrhein-Westfalens Agrarminister Johannes Remmel (Grüne) nennt Aigner eine »Ankündigungsministerin«, die die Probleme thematisiere, aber nichts an den Ursachen ändere. Das habe auch der aktuelle Skandal um Antibiotika in der Hähnchenmast gezeigt: »Hier wird unter dem Deckmantel des Datenschutzes versucht, die Wege der Antibiotika-Ströme zu verschleiern.«

Gerade erst Ende Oktober hatte Aigner das zweite Verbraucherportal gestartet. Mit »Lebensmittelwarnung« stellen die Bundesländer derzeit 27 Verzehrwarnungen ins Netz. Die grobe Mettwurst der Naturfleisch GmbH aus Rennsteig etwa ent­hielt Listeria monocytogenes, ein Bakterium, das Lebensmittelvergiftungen auslösen kann. Salmonellen in der »BioSnacky Gourmet-Mischung«, Glasstückchen in der Wurstkonserve »Oma Hilde Mettwurst gekocht«, ein Breitbandantibiotikum im »Lachsfilet Premium« oder ein Schimmelpilztoxin bei Alnaturas »Spirelli Nudeln« lassen erahnen, was bei der Nahrungsmittelproduktion alles im Argen liegt.
Die Reaktionen der Lebensmittelindustrie auf die Verbraucherportale sind unterschiedlich. »Alnatura nimmt solche Ergebnisse sehr ernst und handelt rasch und umfassend«, gab die Biokette nach der Spirelli-Episode bekannt. Der Hauptgeschäftsführer des Handelsverbands Deutschland, Stefan Genth, kritisierte dagegen »Lebensmittelklarheit« als »Internet-Pranger«. Dennoch betont das Verbraucherschutzministerium, solche Portale seien im Interesse aller. Mit »Lebensmittelwarnung« etwa wolle man »Verbraucher und Unternehmer in einen gemeinsamen Dialog bringen«. Dass es in diesem Verhältnis einen Interessenkonflikt geben könnte, scheint Aigner nicht in den Sinn zu kommen.
Die Frage der Arbeitsbedingungen in der Lebensmittelbranche wird dabei nicht thematisiert. Bei dieser handelt es sich weitgehend um einen Niedriglohnsektor. Beispielsweise arbeiten auf Schlachthöfen in Deutschland Fachkräfte im Akkord für Stundenlöhne von unter zehn Euro. Gewerkschaftsangaben zufolge ist die deutsche Schlachtindustrie durch den Einsatz osteuropäischer Werkvertragsarbeitnehmer geprägt, die zu Dumpinglöhnen zwischen fünf und neun Euro arbeiten. Doch die Forderung nach einem Mindestlohn wird auf Verbraucherforen kaum geäußert. Weil die an den Inhaltsstoffen interessierten Konsumbürger an den Arbeitsbedingungen kein vergleichbares Interesse haben, geht der Vorsitzende der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), Franz-Josef Möllenberg, argumentativ einen Umweg. So betonte er auf der Ernährungsmesse »Anuga«, dass schlechte Arbeitsbedingungen, niedrige Bezahlung und Leistungsverdichtung auf Dauer zu einer Senkung der Lebensmittelqualität führen würden.

Die beiden Internetportale verweisen auf die Konsumentenmacht, der eine wachsende Bedeutung in gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen zugemessen wird. Dies geschehe vor dem Hintergrund, dass sich der Charakter des Konsums – durch eine Vervierfachung des gesellschaftlichen Reichtums in den vergangenen 50 Jahren bei einem sinkenden Anteil der grundlegenden Konsumausgaben – sehr gewandelt habe, so der Kulturwissenschaftler Nico Stehr in seiner Studie »Die Moralisierung der Märkte«. Ideelle Gesichtspunkte könnten so eine größere Rolle beim Konsum spielen. Außerdem kann sich heute fast jeder problemlos Essen kaufen, die Frage ist vielmehr: Zu welcher Qualität? Indessen ist die Qua­lität der Lebensmittel in Deutschland insgesamt relativ gut. So gibt es strenge, von der Lebensmittelüberwachung kontrollierte Hygienerichtlinien. Dennoch ist es ratsam, die Angebote der Lebensmittelunternehmen zu hinterfragen, auf deren Packungen Bilder prangen, die das liebevoll angerichtete Essen aus der heimischen Küche stets optisch übertreffen.
Erstaunlicherweise kritisiert Foodwatch, dass bei den beiden Online-Portalen »die Verbraucher zu Lebensmitteldetektiven degradiert« würden. Tatsächlich dürfte eine Zunahme der »Produkt­recherchen« regressive Verhaltensweisen in der Gesellschaft befördern. Ohnehin gibt es vor den Werbeaufdrucken kein Entkommen. Nun sieht man aber immer häufiger Menschen, die, über eine Packung gekrümmt, versuchen, den klein gedruckten Text auf der Rückseite zu lesen. Da erfahren sie etwa: »Heringsfilets (Clupea harengus, Fang­gebiet: Siehe Codierung**, Fangmethode: pelagische Fischerei) (60 %), Senf (Wasser, Senfsaaten, Branntweinessig, Zucker, Speisesalz, Gewürze, natürliches Aroma), Wasser …«. Wie aufschlussreich solche Informationen sind, ist zweifelhaft.
In den Märkten von dm sind an den Einkaufswägen bereits Vergrößerungsgläser angebracht, damit man die Aufschriften besser lesen kann. Das mag für Allergiker sinnvoll sein. Es offenbart jedoch auch die fragwürdige Seite des bewussten Konsumierens: Der Konsument in der Wissensgesellschaft wird wieder auf die Nahrungssuche zurückgeworfen.