Über den Wahlkampf in Ägypten

Demokratie in Uniform

Zusammenstöße der Protestierenden mit Polizei und Militär bestimmen die Bilder aus Ägypten. Dabei sollen in den kommenden zwei Monaten ein Parlament und einen Konsultativrat gewählt werden. An Parteien mangelt es nicht, doch fällt es den Wählern schwer, einen Überblick zu gewinnen.

Knapp zehn Monate nach dem Sturz von Präsident Hosni Mubarak sollen am kommenden Montag die Wahlen zum ägyptischen Parlament beginnen. Mehrfach war der Termin verschoben worden, auch die Wahlgesetze wurden immer wieder geändert. Doch ein anderes Thema bestimmt derzeit die Schlagzeilen. Seit Tagen liefern sich Protestierende Straßenschlachten mit Polizei und Militär (siehe Seiten 10/11). Ihr Vorwurf: Die Militärregierung sei nicht besser als das im Februar gestürzte Regime Mubaraks. 12 000 politische Gefangene sitzen in Militärgefängnissen, also etwa 2 000 mehr, als Mubarak dauerhaft eingesperrt hielt. Bis Dienstagmittag gab es während der Proteste über 30 Tote.
Am Montag reichten die Minister des vom Militär eingesetzten zivilen Kabinetts ihren Rücktritt ein. Ob die herrschenden Generäle das Gesuch annehmen werden, ist unklar. Ägypten stünde dann wenige Tage vor dem Beginn der Wahlen ohne Regierung oder mit einem hastig impro­visierten Kabinett da. Weder das Fehlen einer zivilen Vermittlungsinstanz im mutmaßlich mit Protesten und Unruhen einhergehenden Wahlprozess noch eine erneute Verschiebung der Wahlen dürfte im Interesse der Militärherrscher sein.

Das Misstrauen ist auch so schon groß genug, denn unverkennbar wird die Parlamentswahl von der Militärherrschaft überschattet. Sollte das neugewählte Parlament im Januar zusammentreten, wird es die verfassungsgebende Versammlung wählen, die eine Verfassung für ein demokratisches Ägypten ausarbeiten soll. Allerdings liegt die letzte Entscheidung über die Zusammensetzung dieses Gremiums beim Militär, wie auch unter der derzeitigen Notstandsgesetzgebung Gesetze vom Militär für ungültig erklärt und neu erlassen werden können. Das Militär beruft das Parlament ein, es setzt den Premierminister ein und auch wieder ab. Erst für Frühjahr 2012 sind Präsidentschaftswahlen geplant, und erst dann wäre ein Ende der Militärherrschaft in Sicht, sofern der neue Präsident die Notstandsgesetze aufhebt und die Autorität an sich zieht.
Doch nicht allein deshalb erhoffen sich nur wenige Ägypter von der anstehenden Wahl einen Freiheitsgewinn. Dabei lautet die Kritik weniger, dass es keine echte Wahlmöglichkeit gäbe, sondern dass die Wähler bei dem komplexen Verfahren und der Vielzahl der Parteien kaum durchblicken. Es soll in drei Runden gewählt werden: am 28. November in neun Regierungsbezirken, darunter Kairo und Alexandria, am 14. Dezember und 3. Januar in den restlichen Bezirken. Stichwahlen sollen jeweils eine Woche später stattfinden. Die Wahlen zum Oberhaus, dem Shura-Rat, einem weitestgehend konsultativen Gremium, sind für den 22. Januar geplant.
Ein Drittel der Abgeordneten soll direkt, zwei Drittel sollen proportional gewählt werden. Der Wähler darf drei Kreuze machen: zwei für seine beiden favorisierten Direktkandidaten, eines für eine Wahlliste, wobei Kandidaten, die sich direkt wählen lassen, nicht auf den Listen aufgestellt werden dürfen. Die Parteien stehen also vor der Entscheidung, ob sie ihre populärsten Kandidaten als »Unabhängige« aufstellen wollen. Sollten diese Kandidaten kein Direktmandat gewinnen, könnten sie nicht Abgeordnete werden, auch wenn ihre Partei genug Stimmen erhält, um im Parlament vertreten zu sein.
Bisher stehen vier Wahllisten fest. Sie werden von Allianzen aus meist zehn und mehr Parteien aufgestellt. Auch eine einzelne Partei könnte eine Liste aufstellen, aber wegen der dafür notwendigen Anzahl an Kandidaten hat das bisher keine geschafft. Insgesamt haben sich 47 Parteien registrieren lassen.
Klingend sind die Namen der Allianzen: Demokratische Allianz, Ägyptischer Block, Islamistische Allianz und Block der andauernden Revolution. Doch sagen die Namen nur wenig darüber, wer sich dahinter verbirgt. So sollte ein Anhänger der Muslimbruderschaft nicht etwa die Islamistische Allianz wählen, sondern die Demokratische Allianz, in der noch zehn weitere Parteien organisiert sind, unter ihnen als wichtigste wohl die Ghad (Morgen). Diese von dem Unternehmer Ayman Nour vor sieben Jahren gegründete Partei ist marktliberal und säkular orientiert, sie könnte somit inhaltlich den sozial und islamisch orientierten Muslimbrüdern nicht ferner stehen.

Die Allianzen bilden keine politischen Blöcke, in denen sich Parteien wegen ihrer inhaltlichen Übereinstimmung zusammengeschlossen haben. In den vergangenen Monaten hat sich ihre Zusammensetzung stetig verändert. Wer mit wem kann, scheint eher von Persönlichkeiten abzuhängen als von Parteiprogrammen.
So hatten die islamistischen Parteien ursprünglich vor, auf einer Wahlliste anzutreten. Nun sind sie auf drei Allianzen verteilt: In der Islamistischen Allianz treten salafistische Parteien an, radikale wie etwa die ehemalige Terrororganisation Islamische Gruppe (Jaamat al-Islamiya), aber auch gemäßigte wie die Partei Nour (Licht), die verlauten lässt, sie wolle die Rechte religiöser Minderheiten respektieren. Die Partei der Jugend der Muslimbrüder, die Strömungspartei, hat sich dem Block der andauernden Revolution angeschlossen. Dieser Block ist politisch wohl der vielfältigste: Er vereint Linke wie die Sozialistische Allianz, Marktliberale wie die Ägyptische Freiheitspartei und Islamisten. Den gemeinsamen Nenner wähnt al-Jazeera darin, dass sie alle es ablehnen, sich in mächtigeren Blöcken unterzuordnen. Die moderateste aller islamistischen Parteien, die Wasat (Zentrum), hat keine Allianz gefunden und stellt somit für den islamistischen Wähler möglicherweise eine vierte Option dar.
Säkulare oder linke Wähler dürften vor einer ähnlich schwierigen Entscheidung stehen. Aufklärung könnte ein »Wahlomat« schaffen, den ägyptische Wissenschaftler gemeinsam mit den niederländischen Erfindern des »Kieskompas« erstellt haben. Er ist über verschiedene ägyptische Medien und al-Jazeera abrufbar. Ein Selbstversuch ergibt einen Kreis im Spektrum der Achsen »liberal« und »ökonomisch links«, der sechs Parteien umfasst: die Sozialdemokraten, im Ägyptischen Block organisiert, die Sozialistische Allianz, zum Block der andauernden Revolution gehörend, zwei nasseristische Parteien, die wirtschaftsliberale Wafd und die islamistische Wasat, alle vier ohne Allianz.
Ein weiteres Problem für den Wähler dürfte die Frage sein, wann und wo man überhaupt wählen darf. So soll etwa im Kairoer Stadtteil Giza erst am 14. Dezember gewählt werden, zwei Wochen nach der Wahl in den anderen Vierteln der Hauptstadt. Die Wahlbezirke für die Direktkandidaten sind anders zugeschnitten als die Wahl­bezirke für die Kandidaten der Wahllisten.
Wenn im Januar die Shura-Versammlung gewählt werden soll, werden die Dinge noch undurchschaubarer. Hier müssen 50 Prozent der Sitze für Arbeiter und Bauern reserviert werden. Das Ergebnis der Direktwahl wird im Nachhinein entsprechend korrigiert. Erhalten ein Rechtsanwalt und ein Lehrer jeweils 40 Prozent erhält ein Arbeiter die restlichen 20, bekommt der Arbeiter den Sitz, die anderen beiden müssen in einer Stichwahl gegeneinander antreten.

Es ist fraglich, ob unter diesen Bedingungen überhaupt eine Prognose zum Wahlausgang getroffen werden kann. Zahlreiche Umfragen sind seit März durchgeführt worden, die in ihren Ergebnissen erstaunlich stark voneinander abweichen. Ein Trend ist allerdings deutlich: Die Islamisten haben stark zugelegt. So fand das Interna­tional Peace Institute im März und Juni heraus, dass zwölf Prozent der Befragten die Muslimbrüder wählen würden. Im August standen die Muslimbrüder in der Nationalen Wähleruntersuchung des al-Ahram-Zentrums für politische und strategische Studien bei 31,5 Prozent, im November bei 35,7. Die salafistische Nour lag im August noch bei sechs Prozent, nun wird ihr Stimmenanteil auf neun Prozent geschätzt. An Zustimmung verloren haben die Freie Ägyptische Partei, die Sozialdemokraten und die Koalition der Jugend, wobei letztere in dieser Form gar nicht mehr antritt.
Nicht berücksichtigt in diesen Umfragen werden Ägypter, die im Ausland leben. Sie erhielten erst Anfang November die Möglichkeit, sich zu registrieren, und das unter umstrittenen Bedingungen: Nur mit dem Personalausweis, nicht mit einem Pass funktionierte die Online-Regis­trierung. Solche Personalausweise besitzen jedoch weit mehr Ägypter, die in den Golfstaaten leben, als solche, die sich in Europa oder Ame­rika aufhalten, da erstere häufiger in ihr Herkunftsland reisen. Eine weitere Kontroverse ist der Ausschluss aller vorbestraften Ägypter von den Wahlen. Darunter fallen auch politische Häftlinge. Da angesichts der derzeitigen Proteste täglich Aktivisten festgenommen werden, nimmt die Militärregierung auch auf das Wahlergebnis Einfluss.