Verfolgung von Wehrdienstverweigerern in der Tükei

Du darfst nicht nicht töten

Eine Verweigerung des Militärdienstes ist in der Türkei nur in Ausnahmefällen zugelassen. Wie Inan Süver müssen viele Wehrdienstverweigerer mit einer Strafverfolgung rechnen.

Remziye Süver arbeitet die ganze Woche als Köchin, um sich und ihre drei Töchter zu versorgen. Nur am Donnerstag nimmt sie sich frei, um ihren Mann Inan im Istanbuler Militärkrankenhaus zu besuchen. Zehn Monate lang war Inan Süver immer wieder in den Hungerstreik getreten, um auf seine unzumutbaren Haftbedingungen aufmerksam zu machen. Der Kriegsdienstverweigerer protestierte gegen Misshandlungen durch das Aufsichtspersonal und durch Mitgefangene, die ihn als »Vaterlandsverräter« ansehen. Nach insgesamt 64 Tagen Hungerstreik wurde der 33jährige Kurde zur »physischen und psychischen Erholung« in das Krankenhaus gebracht. Inan Süver hatte 20 Kilo abgenommen und litt unter Gedächtnislücken und Bewusstseinsstörungen.

Im August vorigen Jahres war Süver in seiner Wohnung in Istanbul festgenommen und in die Haftanstalt Buca (Izmir) überstellt worden. Er hatte von einer Verurteilung aus dem Jahre 2007 noch 35 Monate Haft zu verbüßen. Der aus dem südostanatolischen Van stammende Mann versucht bereits seit zehn Jahren, dem Militärdienst zu entfliehen. »2001 war er nach seiner Einberufung aufgrund des Drucks der Eltern in Erzincan zu seiner Einheit gegangen«, erinnert sich seine Frau. Sie und ihr Mann wohnten damals bei seinen Eltern. Die ältere Generation fand, ein Mann müsse beim Militär gewesen sein, wenn er wie Süver bereits drei Kinder habe. Doch bei der Einheit hielt es Süver nur sechs Wochen aus, er floh wieder nach Hause. Ein Weg in die Illegalität begann, von nun an galt er als Deserteur. Mehrfach wurde er gefasst und zu seiner Einheit zurückgebracht. Weil er immer wieder floh, wurde er drei Mal wegen Fahnenflucht verurteilt und verbüßte Gefängnisstrafen. In Haft wurde er mehrfach von Wärtern gedemütigt und geschlagen.
Im Oktober 2009 schrieb Süver schließlich einen Brief an die zuständige Militärbehörde in Van. »Sehr geehrte Mörder da draußen, ich konnte mich nie an euch gewöhnen«, hieß es darin. »Ich mache von meinem Recht auf Kriegsdienstverweigerung Gebrauch.« Mit diesem Brief wurde Süver einer von insgesamt 137 bekennenden Militärdienstverweigerern in der Türkei. Sie sind eine von der breiten Öffentlichkeit zwar marginalisierte, aber gleichzeitig sehr aktive und gut organisierte Bewegung. Menschenrechtsvereine, die Queer-Bewegung, Feministinnen sowie Teile der Linken und der kurdischen Bewegung unterstützen die Forderung nach einem Recht auf Militärdienstverweigerung in der Türkei.
Bislang existiert weder das Recht auf Verweigerung, noch gibt es einen zivilen Ersatzdienst. Die türkische Regierung will momentan den gesetzlichen Rahmen für die Möglichkeit der Wehrdienstverweigerung prüfen. Statt eines zivilen Ersatzdienstes wurde allerdings nur die Einführung der Freikaufsoption angekündigt. Bereits in der Vergangenheit konnten Rekruten mit der Zahlung von 10 000 bis 15 000 Euro eine Verkürzung des Militärdienstes auf drei Wochen erwirken. »Das ist eine ungerechte Lösung«, empört sich Remziye Süver, denn sie und ihr Mann haben nicht die finanziellen Mittel, um von dieser Regelung Gebrauch zu machen. Inan Süver ist einfacher Arbeiter und verdient den Mindestlohn von umgerechnet 350 Euro im Monat.
Obwohl das Militär in der Türkei eine starke, von der Mehrheit der Bevölkerung verehrte Institution ist, macht sich mittlerweile Unmut breit. Immer wieder sterben Wehrdienstleistende im Kampf gegen die prokurdische PKK, die genaue Zahl der Opfer verschweigt die Armee. Jährlich sind es vermutlich um die 100 junge Männer. Eine am 24. August im Internet publizierte Tonaufnahme sorgte für Aufruhr im Land. Man hört den Ende Juli zurückgetretenen Generalstabschef Isik Kosaner, der meint, dass im »Anti-Terror-Kampf« gegen die PKK schlimme Fehler gemacht würden. Zivilisten seien die unschuldigen Opfer nicht gekennzeichneter Minenfelder in den Bergen. Rekruten der türkischen Armee stürben durch fehlerhaften Schusswaffengebrauch der eigenen Kameraden. Der General brachte auf den Punkt, was offiziell von der Armee geleugnet wird: Die Rekruten sind für diesen Kampf weder ausgebildet noch ausgerüstet. Doch eine Lösung ist nicht in Sicht. Seit 2007 kündigt der Generalstab die Bildung einer Spezial­einheit an, die künftig den »Anti-Terror-Kampf« übernehmen soll. Die türkische Regierung möchte außerdem Spezialeinheiten der Polizei einsetzen. Das entspricht aber keineswegs den Forderungen der Menschenrechtsbewegung. »In den neunziger Jahren gab es viele illegale Exekutionen und andere Menschenrechtsverletzungen durch die Sondereinheiten«, stellt Sürreya Önder, Abgeordnete der prokurdischen »Partei für Frieden und Demokratie«, fest. Gerade wegen dieser virulenten Konflikte potentiellen Rekruten ist es wichtig, rechtlich zu ermöglichen, den Militärdienst zu verweigern.
Interessant ist die Haltung der deutschen Regierung zu diesem Thema. »Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei erfolgen gesondert von der landesspezifischen Regelung der Wehrpflicht. Der Militärdienst fällt in die alleinige Zuständigkeit der Mitgliedsstaaten und wird nicht auf EU-Ebene geregelt«, hieß es in der Antwort der Bundesregierung auf eine kleine Anfrage der Partei »Die Linke« im Mai 2011. Defizite im Umgang mit religiös motivierten Militärdienstverweigerern würden in bilateralen Gesprächen mit der Türkei jedoch regelmäßig thematisiert.
Hätte Süver seine Wehrdienstverweigerung mit der Zugehörigkeit zu den Zeugen Jehovas begründet, könnte er heute vielleicht auf Unterstützung durch die deutsche Regierung hoffen. Ende Oktober 2010 erhielt der Kurde ein ärzt­liches Attest, das ihm Untauglichkeit aus gesundheitlichen Gründen bescheinigte. Seine verbleibende Haftstrafe muss er dennoch absitzen. »Das sind noch fast zwölf Monate«, seufzt Remziye. »Weitere Verfahren laufen«, ergänzt Inans Anwältin Hülya Üçpinar. Eine Entlastung, auch der türkischen Staatsanwaltschaft, die Tausende Ermittlungsverfahren gegen Fahnenflüchtige bearbeiten muss, wird erst das allgemeine Recht auf Wehrdienstverweigerung bringen.