Bildungsproteste in Lateinamerika

Bildung für den ganzen Kontinent

In über einem Dutzend Länder Lateinamerikas demonstrieren Studierende für ein »Recht auf Bildung«.

Abgesehen von der internationalen »Occupy«-Koordination gab es das bisher wohl kaum: Studierende fast aller Länder Lateinamerikas gingen gleichzeitig auf die Straße. In Chile, Kolumbien, Peru, Argentinien, Ecuador, Brasilien, Mexico, Costa Rica, El Salvador, Honduras, Paraguay, Uruguay, Bolivien, Guatemala und Venezuela demonstrierten sie am Donnerstag vergangener Woche im Rahmen des »Lateinamerikanischen Marsches für die Bildung« gegen die Privatisierung der Bildungsinstitutionen und für ein »Recht auf Bildung«.

Aufgerufen zum lateinamerikanischen Marsch hatten studentische Organisationen in Kolumbien und Chile. Die bereits seit Wochen protestierenden kolumbianischen Studierenden konnten am 16. November einen ersten Teilerfolg verbuchen, als die konservative Regierung sich dazu entschloss, ein Gesetzesvorhaben zur Hochschulreform, das »Gesetz Nummer 30« (Jungle World 43/11), vorerst auszusetzen. Offenbar hatte Präsident Juan Manuel Santos Angst, dass es zu einer Situation wie in Chile kommen könnte, wo Demonstrationen und Streiks von Schülerinnen und Schülern, Studierenden, Lehrenden und Gewerkschaften die Regierung seit über einem halben Jahr unter Druck setzen (Jungle World 32/11). Auch wenn sich die Bildungssysteme in den einzelnen lateinamerikanischen Ländern unterscheiden, gibt es überall genug Anlass für Protest. Als gemeinsamer Feind gilt die »neoliberale« Wirtschaftspolitik. »Die Privatisierung der Bildung auf kontinentaler Ebene wird heute von der Weltbank und der OECD vorangetrieben. Wir glauben, dass das kapitalistische System in einer Krise steckt, deshalb müssen wir das Öffentliche in unseren Universitäten und unseren Leben zurückgewinnen«, sagte Paul Flor, internationaler Sekretär der chilenischen Studierendenförde­ration Confech, gegenüber der Zeitung El Ciudadano.
In Costa Rica forderten die Studierenden vor allem, dass der Inhalt der Abkommen zwischen den Universitätsdirektoren und der Weltbank offengelegt wird. In Brasilien versammelten sich Studierende auf dem Platz Cinelândia in Rio de Janeiro unter dem gängigen Motto »Bildung ist keine Ware«. In São Paulo blockierten mehr als 1 000 Studierende der öffentlichen Universität USP die Hauptverkehrsstraße. Die USP gilt als die beste Universität Lateinamerikas. Von sozialer Gerechtigkeit im Bildungsbereich ist Brasilien trotz des großen Angebots an kostenlosen und guten öffentlichen Universitäten noch weit entfernt. Die Ausbildung an staatlichen Schulen ist oft mangelhaft, die soziale Selektion beginnt bereits im Kindesalter. Die meisten Studienanwärter bereiten sich in Kursen privater Anbieter auf die schwierigen Aufnahmeprüfungen an öffentlichen Universitäten vor. Selbst die vergleichsweise privilegierten brasilianischen Studierenden hatten also allen Grund zum Protest.
Auch das einstige »neoliberale Labor« Chile zeigt, dass das Problem nicht erst bei der Finanzierung des Studiums beginnt. Die noch unter der Diktatur getroffene Entscheidung, die Finanzierung von Schulen den Kommunen zu übertragen, führte dazu, dass deren Qualität stark variiert. In Chile gibt es nur ein Minimalprogramm für öffentliche Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen. Um bessere Leistungen in Anspruch zu nehmen, müssen die Menschen Kredite aufnehmen. Im Durchschnitt sei ein Chilene mit dem 22,4fachen seines Monatslohns verschuldet, sagt der chilenische Gewerkschafter Iván Saldías der Jungle World. Die Radikalität und Beharrlichkeit der Proteste, die 80 Prozent der Bevölkerung unterstützen, sei auch darauf zurückzuführen, dass es nicht nur um das Recht auf ein kostenloses Studium geht, sondern gegen die prekären Arbeits- und Lebensbedingungen insgesamt. Chile gilt als Beispiel dafür, wo die Privatisierung staat­licher Dienstleistungen hinführt. Die horizontale Organisation der Protestbewegung und ihre Kompromisslosigkeit animieren aber auch andere Gruppen. Aus den Schülerinnen und Schülern, die 2006, wegen ihrer Uniformen als »Pinguine« bezeichnet, revoltierten, sind politisch selbstbewusste Erwachsene geworden.