Zur Geschichte der Behindertenbewegung

Endlich undankbar

Vor 30 Jahren legte das Krüppeltribunal in Dortmund die Grundlagen der Behindertenbewegung.

Es ist laut, die Luft ist warm und stickig. Rund 400 Menschen sitzen im Saal der Schalom-Gemeinde in Dortmund-Scharnhorst. Viele von ihnen in Rollstühlen, an einigen Stühlen lehnen Krücken und Blindenstöcke. Mittendrin Uwe Frevert aus München, 24 Jahre alt, Rollstuhlfahrer. Die Atmosphäre im Saal begeistert ihn. Empörung liegt in der Luft, Aufbruchstimmung. Immer wieder stehen Leute auf, rufen dazwischen. »Ja genau, so ist es! Aber bei uns im Heim ist es noch viel schlimmer!« Auf der Bühne sitzen junge Menschen mit langen Haaren, bunter Kleidung und Bärten, mit Behinderungen und ohne. Hinter ihnen Poster und Transparente. »Endstation Werkstatt« steht auf ihnen, oder »Rehabilitation spart Rente und Sozialhilfe«. Über allem hängt ein großes Plakat: »Krüppeltribunal 1981«.
Es ist der 13. Dezember 1981. Frevert war erst kurz zuvor zu einer Gruppe behinderter Menschen gestoßen, der Münchener Krüppelgruppe. Mit knapp zwei Jahren hatte er Polio bekommen. Seine ersten Lebensjahre verbrachte er durchgängig im Kinderkrankenhaus in München-Schwabing, als er herauskam, war er zwölf. Seine Mutter war arm und alleinerziehend, hatte noch drei weitere Kinder. In ihrer Wohnung hätte sie ihn nicht versorgen können. Alle 14 Tage kam sie zu Besuch. »Ihr verdanke ich, dass ich keinen Dachschaden bekommen habe«, sagt Frevert. »Auf dem Krüppeltribunal bin ich mir zum ersten Mal darüber bewusst geworden, was das bedeutet hat, in diesem Krankenhaus. Was für eine Gewalt man uns Kindern dort angetan hat. Wir wurden dort eingesperrt, manchmal tagelang, wenn wir was angestellt hatten. Damals gab es dafür ja kein Bewusstsein, wie ungerecht das war, das hat einem ja kaum einer geglaubt. Aber das waren ja Menschenrechtsverletzungen!« Heute ist Frevert im Vorstand des Vereins »Interessenvertretung selbstbestimmt Leben in Deutschland«.

Dem Krüppeltribunal waren Monate des Protests und Ungehorsams vorangegangen. Behinderte Menschen traten öffentlich auf, ungewohnt undankbar. Sie waren laut und wütend, gründeten Krüppelgruppen. »Der Begriff Behinderung verschleiert für uns die wahren gesellschaftlichen Zustände«, schrieb die Bremer Krüppelgruppe Anfang der achtziger Jahre. »Durch die Aussonderung in Heime, Sonderschulen oder Rehabilitationszentren werden wir möglichst unmündig und isoliert gehalten. Ehrlicher erscheint uns daher der Begriff Krüppel, hinter dem die Nichtbehinderten sich mit ihrer Scheinintegration nicht so gut verstecken können.«
Die Krüppel riefen zu Aktionen auf, besetzten Straßenbahnschienen und Rathäuser, weil sie in Gebäude, Busse und Bahnen nicht hineinkamen und die Stadtverwaltungen Gelder für Fahrdienste kürzten. Im Februar 1980 steigerte ein Gerichtsurteil des Frankfurter Landgerichts die Wut. Weil sie in ihrem Urlaub »den Anblick einer Gruppe Schwerbehinderter« habe ertragen müssen, bekam eine Urlauberin einen Teil ihrer Reisekosten erstattet. Etwa 5 000 Menschen gingen dagegen in Frankfurt auf die Straße.
Das folgende Jahr hatte die UNO-Vollversammlung zum weltweiten »Jahr der Behinderten« ausgerufen. Das deutsche Motto lautete »Einander verstehen – miteinander leben«. Ein Hohn in den Augen der Krüppelgruppen angesichts des weitverzweigten Systems der Aussonderung. Sie tauften das Jahr um in »Jahr der Behinderer« und sorgten für Irritationen auf den offiziellen Veranstaltungen von Politik und Wohlfahrtsverbänden. Auf der deutschen Eröffnungsveranstaltung des UNO-Jahres in der Dortmunder Westfalenhalle besetzten Krüppelgruppen die Bühne. Ihre Forderung: »Keine Reden! Keine Aussonderung! Keine Menschenrechtsverletzungen!« Der damalige Bundespräsident Karl Carstens (CDU) musste seine Rede in einem Nebenraum halten. Von Selbstbestimmung und gleichen Rechten sprach Carstens nicht, stattdessen von Fürsorge, Nächstenliebe und dem Verantwortungsgefühl »für« Behinderte. Bei seinem nächsten Auftritt zum »UNO-Jahr der Behinderten« schlug ihm der Aktivist Franz Christoph mit seiner Krücke vors Schienbein. Der Vorfall schaffte es in die Bild-Zeitung und die Tagesschau, ernstgenommen fühlte sich Christoph dennoch nicht: Er erhielt lediglich einen Platzverweis für eine Aktion, die Nichtbehinderte ins Gefängnis gebracht hätte.

Das Protestjahr 1981 gilt vielen als das Gründungsjahr der Behindertenbewegung, das »Krüppeltribunal« als dessen Höhepunkt. Krüppelgruppen und Initiativen aus allen Regionen hatten sich in Einrichtungen umgehört und Menschenrechtsverletzungen dokumentiert. Sie berichteten aus Heimen, Werkstätten und Rehabilitationszentren, von entwürdigender Pflege und bevormundender Behandlung. Sie präsentierten Zeugnisse der Behördenwillkür und der Profitgier der Pharmaindustrie, erzählten vom Ausschluss aus Bussen und Bahnen. Psychiatriepatienten berichteten von ihren Erlebnissen während der NS-Zeit und davon, wie es für sie nach 1945 in manchen Kliniken noch viel schlimmer wurde.
»Unsere Wut war sehr groß damals. Behinderte Menschen waren hinter Mauern versteckt«, erinnert sich die damals 23jährige Gisela Hermes, heute Professorin für Rehabilitation und Gesundheit an der Fachhochschule Hildesheim. »Wenn ich damals irgendwo auf der Straße mit meinem Rollstuhl langgerollt bin, dann sind Menschen stehengeblieben, haben mir hinterhergeschaut.«
Die Organisatoren des »Krüppeltribunals« orientierten sich am »Russell-Tribunal«, das der Philosoph Bertrand Russel 1966 ins Leben gerufen hatte, um Verbrechen des Vietnam-Kriegs öffentlich zu machen. Darauf folgten viele weitere »Russell-Tribunale« zu unterschiedlichen Themen. Alle prangerten Verstöße gegen die Menschenrechte an. Die Unterdrückten klagten ihre Unterdrücker an – das war das Prinzip. Genau deswegen gab es Streit in der Vorbereitungsgruppe des »Krüppeltribunals«.
»Wir von der Bremer Krüppelgruppe waren der Meinung, wenn es um die Unterdrückung von uns Behinderten geht, dann sollen auch keine Nichtbehinderten das Tribunal mitorganisieren und durchführen«, erinnert sich der querschnittgelähmte Horst Frehe, damals 30 Jahre alt, heute Bremer Staatsrat für Soziales. Dennoch fand das Tribunal statt, zusammen mit Nichtbehinderten. »Wir waren schlicht zu wenig Leute, um es alleine zu machen«, sagt Frehe. »Trotzdem gerate ich immer noch in Harnisch, wenn andere, Nichtbehinderte, über mich und meine Unterdrückung reden.«
Zum ersten Mal wurde die Situation behinderter Frauen thematisiert – auch in der Behindertenbewegung damals noch ein Tabu. »Wir haben auf dem Krüppeltribunal die sexualisierte Gewalt an behinderten Frauen öffentlich gemacht und Prävention gefordert«, erzählt Hermes.
Die damals 20jährige ohne Arme geborene Theresia Degener hielt auf dem »Krüppeltribunal« die Eröffnungsrede. Heute ist Degener Professorin für Recht und Disability Studies an der Evangelischen Fachhochschule in Bochum. Sie war Mitglied der deutschen Delegation zur Ausarbeitung der UN-Behindertenrechtskonvention von 2006, derzeit ist sie Mitglied des UN-Ausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Zwischen dem Krüppeltribunal und der Behindertenrechtskonvention sieht sie deutliche Zusammenhänge. Das Tribunal habe die Aussonderung behinderter Menschen erstmals klar als Menschenrechtsverletzung benannt – etwas, das die etablierten Wohlfahrtsverbände als lächerlich abtaten, so Degener. »Die haben uns in die linksradikale Ecke gestellt, als Spinner. Nur so war es für sie erträglich, dass wir sie, die doch ›nur unser Bestes wollten‹, als Menschenrechtsverletzer anklagen.«
Die Anregung für das »Krüppeltribunal« sei von den 68er- und Post-68er-Bewegungen gekommen – von den Anti-Atom-Protesten, von der Friedensbewegung und vor allem vom Kampf um Frauenrechte, sagt Degener.

Die ehemaligen Tribunalteilnehmer haben sehr viel erreicht. Viele von ihnen gründeten Zentren für selbstbestimmtes Leben, in denen behinderte Menschen andere Betroffene beraten. Vorbild waren die »Centers for Independent Living«, die einige durch Begegnungen mit dem US-amerikanischen »Independent Living Movement« kennengelernt hatten. Behinderte Frauen kritisierten normierte Körperideale, Sexismus innerhalb der Behindertenbewegung und sexualisierte Gewalt. Einige Aktivisten setzten sich für Inklusion in den Schulen ein. Viele liefen Sturm gegen die Thesen des australischen Bioethikers Peter Singer über den vermeintlich geringeren Wert behinderten Lebens. Behinderte Juristen erarbeiteten Vorlagen für Antidiskriminierungsregelungen und neue Sozialgesetze. Grundsätze wie »ambulant vor stationär«, »Teilhabe statt Fürsorge« oder »nichts über uns ohne uns« wären ohne die Behindertenbewegung wohl kaum zum Allgemeingut geworden. Den Exotenstatus in der Öffentlichkeit scheinen behinderte Menschen weitgehend überwunden zu haben. Sie sind vom Betreuungsobjekt zum bürgerlichen Subjekt mit allen Rechten und Pflichten geworden – nichts anderes meint jene Selbstbestimmung, die die Aktivisten von einst vehement gefordert hatten.
Frevert wurde durch die Behindertenbewegung klar: Nie wieder wollte er im Heim leben oder einer fremdbestimmten Pflege unterworfen sein. Zusammen mit anderen gründete er den Münchener Assistenzdienst »Vereinigung Integrations-Förderung« (VIF), heute berät er Menschen, die wie er Hilfen im Alltag brauchen, aber in ihrer eigenen Wohnung leben und selbst entscheiden möchten, wann und von wem sie unterstützt werden. »Wir nannten es noch nicht so, aber über persönliche Assistenz und das ›persönliche Budget‹ haben wir im Grunde schon auf dem Krüppeltribunal gesprochen«, erinnert sich der Sozialarbeiter Gerlef Gleiss, der in der Hamburger Beratungsstelle »Autonom Leben« Menschen mit Behinderungen berät. Selbst hoch querschnittgelähmt, nutzt er diese Form des Sozialgelds, das er und andere 2008 erkämpft haben. Es ermöglicht ihm, seine Assistenten selbst anzustellen und zu bezahlen. Als Arbeitgeber ist er so nicht mehr von einem Pflegedienst abhängig.
Körperbehinderte Menschen seien heutzutage seltener in Heimen untergebracht, sagt Gleiss, doch noch zu wenige bekämen persönliche Assistenz oder das persönliche Budget, und die große Mehrheit der Menschen mit Lernschwierigkeiten und der Mehrfachbehinderten lebe noch immer nicht außerhalb von Institutionen: »Das ist dann ein bisschen dezentraler strukturiert, mit ambulant betreuten WGs, aber mit selbstbestimmtem Leben hat das nach wie vor wenig zu tun.«
Die Behindertenbewegung habe bewirkt, dass die Barrieren in Gebäuden und Verkehrsmitteln deutlich weniger geworden seien, sagt Gleiss. Zugleich würden bioethische Debatten heute stärker als früher Druck auf behinderte Menschen ausüben, sich für ihr Leben rechtfertigen zu müssen. Immer mehr behinderte Menschen seien arbeitslos oder würden in Werkstätten abgeschoben. »Das Tempo in den Jobs ist viel höher geworden. Die Idee der Selbstbestimmung gibt auf solche Probleme erstmal nur eine individualisierte Antwort, wo doch auch gemeinsame Kämpfe nötig wären«, sagt Gleiss. »Und was sich auch nicht geändert hat, ist die Kopfstreichelmentalität der Nichtbehinderten. Die sehen nur unsere Behinderung und nehmen uns nicht ernst. Das ist immer noch ziemlich verbreitet.«