Das Modell der Inklusion an deutschen Schulen

Inklusion zum Spartarif

Das Modell der Inklusion, der gemeinsamen Beschulung von behinderten und nichtbehinderten Schülern, hört sich in der Theorie gut an. In der Realität wird ein Teil der Schulen bei der Inklusion sich selbst überlassen. In Hamburg versucht man derzeit, behinderte Schüler zu inte­grieren und dabei zugleich Geld zu sparen.

Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die 2008 in Kraft trat, fordert die ratifizierenden Staaten auf, alles dafür zu unternehmen, dass behinderte Menschen selbstverständlicher Teil der Gesellschaft sein können. Menschen mit Behinderungen sollen nicht erst mühsam durch Maßnahmen in die Gesellschaft integriert werden, sondern von vornherein dazugehören. Mit der Ratifizierung der Behindertenrechtskonvention verpflichten sich die Staaten, Barrieren abzubauen, keine Diskriminierung zuzulassen und Abstand zu nehmen von der Sonderbeschulung. Traumhafte Forderungen, möchte man meinen. Und so gibt es auch keine Kritik an der Konvention. In Deutschland ist die Behindertenrechtskonvention 2009 in Kraft getreten.
Man kann kaum erwarten, dass eine Gesellschaft, die bisher von einer starken Segregation geprägt war, innerhalb von zwei Jahren sämtliche Barrieren abbaut, und Behinderte und Nichtbehinderte in allen gesellschaftlichen Bereichen nun auf gleicher Augenhöhe kommunizieren. Dafür ist hierzulande die Tradition der Aussonderung zu groß. Angefangen bei einem dreigliedrigen Schulsystem, dass bereits die vermeintlich »Normalen« in Lerntypen einteilt, über die jahrzehntelange kasernenartige Unterbringung von behinderten Menschen bis hin zu einem breitgefächerten Sonderschulsystem – im Ein- und Aussortieren von Menschen war die Bundesrepublik über lange Zeit meisterhaft. Kaum ein anderes Land leistet sich ein derartiges Schubladendenken, vor allem nicht im Bildungsbereich. Und so verwundert es nicht, dass zwei Jahre nach dem Inkraftreten der UN-Konvention wenig Konkretes umgesetzt wurde.

Derzeit erblickt man zwar überall Plakate des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales, auf denen der Slogan »Behindern ist heilbar« steht. Mit ihm wird dafür geworben, die Behindertenrechtskonvention »gemeinsam« umzusetzen. Im Bereich der Bildungspolitik sind sämtliche Bundesländer jedoch noch weit davon entfernt. Lediglich Hamburg hat schnell auf die Vorgaben der Konvention reagiert, um im nationalen Vergleich auf einem der vorderen Plätze der Rankings zu landen. Schon der schwarz-grüne Senat hatte das Schulgesetz geändert, in Paragraph 12 wurde festgelegt, dass Eltern über den Schulort ihrer Kinder entscheiden dürfen. Oberstes Ziel soll die Inklusion sein. Schüler mit einer Lern- oder Sprachbehinderung sollen zunächst in den Klassen eins und fünf keine Sonderschule mehr besuchen, mit dieser Methode soll sukzessive das Modell der Sonderbeschulung aufgelöst werden. Soweit der ambitionierte Anspruch im Gesetzestext. Problematisch ist jedoch, dass Hamburgs Schulen auf diese schnell beschlossenen Änderungen im Schulgesetz nicht vorbereitet wurden.
In der öffentlichen Wahrnehmung verbinden viele mit der schulischen Integration das gemeinsame Lernen von Grundschulkindern mit einem Kind mit geistiger Behinderung, am besten noch ein Kind mit Down-Syndrom, weil diesem das Etikett »lieb« anhaftet. Da können die eigenen – bestens geförderten Kinder – noch etwas für ihr Sozialverhalten lernen. Die Realität sieht, gerade in den Großstädten, anders aus. Ein Großteil der Schüler, über deren Inklusion gesprochen wird, haben Lern- oder Verhaltensprobleme. Sie gehören in der Regel nicht zu denjenigen, zu denen Bildungsbürgereltern ihren Kindern Kontakt wünschen. Viele sind traumatisiert – sei es durch Gewalt in der Familie oder Fluchterfahrungen.

Selbst in Finnland, das bei den Pisa-Studien regelmäßig vorne liegt und als Vorreiter der Inklusion gilt, gibt es solche Kinder und Jugendliche. »Es wird unterschlagen, dass Finnland sechs unseren Schulen für Erziehungshilfe entsprechende Sonderschulen für etwa 60 Schüler vorhält«, schreibt Birgit Herz, Pädagogin am Institut für Sonderpädagogik der Leibniz-Universität Hannover, in einem Aufsatz zum Thema schulische Inklusion. Herz erläutert, dass es in Finnland neben sechs weiteren Kleinstschulen im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie für etwa 30 Schüler auch drei geschlossene Unterbringungen für etwa 30 bis 40 Heranwachsende gebe. Darüber hinaus verweist sie darauf, dass in Finnland wegen der geringen Einwohnerzahl in 60 Prozent aller Schulen nur etwa 30 Schüler unterrichtet werden. Herz geht es nicht darum, durch den Vergleich deutsche Verhältnisse zu konservieren. Sie macht lediglich darauf aufmerksam, dass durch eine schulische Inklusion die Behinderungen nicht von alleine verschwinden. Es bedarf einer umfangreichen Ausstattung mit qualifiziertem Personal, um auch die sogenannten Verhaltens-auffälligen erfolgreich zu integrieren. In der Inklusionsdebatte kommen sie jedoch höchstens als ordnungspolitisches Problem vor. Herz warnt vor den langfristigen Folgen: »Bei nochmaliger Absenkung der Förderressourcen in der ›Inklusiven Schule‹ werden Kinder und Jugend­liche aus schwierigen Lagen gänzlich aus dem Bildungs- und Erziehungssystem gedrängt – was folgt, ist die beschämende Kriminalisierung.«
In Hamburg scheint man sich jedoch nicht ernsthaft mit den Anforderungen der schulischen Inklusion auseinandersetzen zu wollen. Ende November hatte der Schulsenator Ties Rabe (SPD) in einer Presseerklärung verkündet, die Inklusion endlich »handwerklich ordentlich« umzusetzen und dafür mehr Mitteln bereitzustellen. Jeder behinderte Schüler soll zukünftig in den Genuss von 3,5 zusätzlichen wöchentlichen Förderstunden kommen – im Ländervergleich läge Hamburg mit dieser Zahl an Förderstunden in der Spitzengruppe. Bei genauerer Betrachtung handelt es sich jedoch um ein Sparvorhaben. Denn für jedes behinderte Kind werden nur 1,4 Stunden pro Woche für die Förderung durch ausgebildete Sonderpädagogen zur Verfügung gestellt. Mit 1,5 Stunden hatte sogar der vorherige schwarz-grüne Senat mehr Zeit für die Arbeit von Sonderpädagogen vorgesehen. Die restlichen Stunden sollen durch kostengünstigere Erzieher oder Sozialpädagogen abgedeckt werden. Sie werden in der Hansestadt aus dem Bildungs- und Teilhabepaket (BuT) der Bundesregierung finanziert – also aus Bundesmitteln statt aus dem eigenen Bildungsetat. Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) kritisierte in einer Erklärung: »Der Senator verschweigt diskret, dass es sich bei den Werten für die anderen Bundesländer um Lehrerwochenstunden handelt.«
Im Bundesdurchschnitt liegt Hamburg seit Jahren auf dem letzten Platz bei den Bildungsausgaben – obwohl der Stadtstaat als wohlhabend gilt. Im Hinblick auf die gesamte Bundesrepublik sehen die Zahlen nicht wirklich besser aus. Deutschland bewegt sich nach wie vor im Bereich der Bildungsausgaben deutlich unter dem OECD-Durchschnitt. Gepaart mit einer neoliberal geprägten Umstrukturierung des Schulsystems verheißt die gleichzeitige Verminderung der Ressourcen nichts Gutes. Sakrosant bleibt lediglich das Gymnasium, das auch von den Herausforderungen, die die Inklusion mit sich bringt, weitestgehend verschont bleibt. Diese Aufgabe müssen die Grund- und Gesamtschulen – in Hamburg die Stadtteilschulen – übernehmen. In Hamburg gibt es bereits erste Hilferufe aus den Stadtteilschulen, die sich mit der Inklusion schwieriger Schüler überfordert fühlen. An einer Stadtteilschule in Lurup mussten Fachlehrer für die Inklusionsklassen mehr oder weniger zum Unterricht genötigt werden, da sich keine Freiwilligen fanden. In Eimsbüttel protestierten Eltern an ­einer Grundschule so lange, bis ein verhaltens­auffälliges Kind die Schule verlassen musste. In der Klasse war kein geordneter Unterricht mehr möglich. Der Schüler besucht nun eine Sprachheilschule. In einem anderen Fall landete ein verhaltensauffälliges Kind an der Schule für Körperbehinderte.
Herz spricht in diesem Zusammenhang von »interessanten Formen des Schultourismus«, die sich zwangsläufig entwickelten. Die Folgen der Inklusion zum Nulltarif werden voraussichtlich erst in einigen Jahren sichtbar werden, wenn die Kosten für die Kinder- und Jugendhilfe weiter steigen. Angesichts der Überforderung der Regelschulen durch die Anforderungen der Inklusion warnen Experten davor, dass es mittelfristig über Umwege doch wieder zur Sonderbeschulung kommen könnte. Die ersten Stadtteilschulen bilden bereits wieder temporäre Sonderklassen. In den fünfziger Jahren wurde diese Form des Unterrichts für Behinderte »Nebenklasse« genannt.