Wie geht es weiter mit den »Occupy«-Protesten in den USA?

Vom Camp zum Kampf

Nach der Räumung der »Occupy«-Zeltlager in den USA muss sich die Bewegung überlegen, wie es weitergeht. Ein neuer Ansatz ist der Protest gegen Zwangsräumungen von Eigenheimen.

Wenn ein Land ein anderes besetzt, ist der Fall klar: Die Besatzer strukturieren die besetzte Nation nach ihren eigenen Vorstellungen um. Bei den »Besatzern« der »Occupy«-Bewegung ist die Rollenverteilung nicht so eindeutig. Sie wollen den öffentlichen Raum zurückerobern, ihre Protestaktionen wollen sie als Reaktion auf den Autonomieverlust der Bevölkerung verstanden wissen – für sie sind »die Banker« und die »Wall Street« die eigentlichen »Besatzer«.
In den USA sind es in erster Linie wirtschaftliche Faktoren und die Enttäuschung über die politische Lähmung im eigenen Land, die die Menschen auf die Straße treiben. Unterstützung bekommen sie dabei unter anderem von den Gewerkschaften. So teilte Mary Kay Henry, die Prä­sidentin der einflussreichen Angestelltengewerkschaft Service Employees International Union (SEIU), mit: »Die 2,1 Millionen Mitglieder der SEIU stehen Seite an Seite mit Occupy. Wir sind alle der Meinung, dass eine Idee, deren Zeit gekommen ist, nicht gewaltsam zu vertreiben ist.« Während die anderen »Occupy«-Demonstrantinnen und -Demonstranten in ihren Zeltstädten wie ein wahllos zusammengewürfelter Haufen wirkten, waren die Gewerkschafter stets mit einheitlichen T-Shirts bekleidet, alle hatten die gleichen Schilder und Plakate, die in Kartons geliefert und an die Leute verteilt wurden. Es gibt gute Gründe für eine Zusammenarbeit zwischen der »Occupy«-Bewegung und den Gewerkschaften. Den neuesten Statistiken der Regierung zufolge leben 48 Prozent der US-Bevölkerung nahe der Armutsgrenze. Und während der Räumung der »Occupy«-Zeltlager stellten die Behörden fest, dass unter den Besetzerinnen und Besetzern auch sehr viele Obdachlose waren.

Über zwei Monate lang hatten die Aktivistinnen und Aktivisten der »Occupy«-Bewegung den Park vor dem Rathaus von Los Angeles besetzt gehalten. In der Nacht des 29. November sperrte die Polizei schließlich die umliegenden Straßen ab, an die 1 400 Beamte strömten aus dem Rathaus und räumten den Park. Gegen drei Uhr morgens war alles vorbei: 292 Menschen wurden verhaftet, Verletzte gab es keine. Bürgermeister Antonio Villaraigosa und Polizeipräsident Charlie Beck waren zufrieden, die sogenannte Trojaner-Strategie war ein Erfolg. Auch in anderen Städten zeigten sich die anfangs noch versöhnlich eingestellten Behörden allmählich irritiert von den zahllosen Protestierenden, die inmitten der Stadt ihre Zelte aufschlugen. In Oakland wurden Tränengas und Gummigeschosse eingesetzt, im Zuccotti Park in New York, der Keimzelle der »Occupy«-Bewegung, griff die Polizei brachial durch. Nach der Räumung der Zeltlager stellt sich die Frage, was als nächstes kommt.
Am 12. Dezember rief die »Occupy«-Bewegung zur Besetzung aller bedeutenden US-amerikanischen Häfen auf, als eine Art Vergeltungsmaßname dafür, dass die »Occupy«-Zeltlager den »aggressiven Taktiken unserer militarisierten Polizei zum Opfer gefallen« seien, wie es in einer Erklärung heißt. Es gab bei den Hafenbesetzungen auch ein klares Feindbild: Die Reederei SSA Marine, die zu 51 Prozent der allseits verhassten Investmentbank Goldman Sachs gehört. Nach Angaben der »Occupy«-Bewegung halten sich SSA Marine und Goldman Sachs nicht an bestehende Gewerkschaftsverträge, Gewerkschaften bekundeten ihrerseits ihre Unterstützung der Hafenbesetzungen, allerdings nicht alle. Sean Farley, Vorsitzender von Local 34, der Gewerkschaft der Hafenarbeiter in Oakland, sah die Zusammenarbeit eher kritisch, immerhin hatte der »Generalstreik«, zu dem »Occupy Oakland« am 2. November aufgerufen hatte, die Hafenarbeiter viel Zeit und Nerven gekostet – vom Verdienstausfall ganz zu schweigen. Auch während der Hafenblockade im Dezember beschwerten sich Hafenarbeiter über Einkommensverluste und darüber, dass die Aktion nicht mit der Gewerkschaft abgesprochen worden sei.
Die Ziele der Gewerkschaften und der »Occupy«-Bewegung decken sich nicht immer. In Ohio oder Wisconsin müssen die Gewerkschaften um ihr Überleben kämpfen, und zwar ohne die Pub­licity, die »Occupy« bisher genoss. Doch mit der Räumung der Zeltlager verschwindet auch die »Occupy«-Bewegung immer mehr aus den Schlagzeilen. Am Montag schloss sich ein »Occupy«-Zug unter anderem vor 40 Millionen Fernsehzuschauern der traditionellen »Rose Parade« in Pasadena an, unter Beteligung der Antikriegsaktivistin Cindy Sheehan und der Songwriterin Michelle Shocked. Ein Zeichen dafür, dass die »Occupy«-Bewegung ohne Zeltstädte um Relevanz – und Einschaltquoten – ringen muss?

»Nein, durchaus nicht«, sagt Joseph Crain, ein 33jähriger Computerprogrammierer und der Pressesprecher von »Occupy Nevada County«. Nevada County ist ein kleiner Landkreis in Nordkalifornien, wo die Protestierenden bereits von Anfang an mit Alternativen zu den medienwirksamen Zeltstädten experimentierten. »Wir hatten keine Zelte. Wir haben uns stattdessen darauf konzentriert, so viele Bürger wie möglich für unsere Anliegen zu aktivieren«, erklärt Crain der Jungle World. Er und seine Kollegen organisierten wöchentliche Demonstrationen, und einige wollen nun sogar selbst in die Politik einsteigen, was innerhalb der Bewegung heftig debattiert wird. »Viele von uns beschäftigten sich schon lange vor Occupy mit den Missständen in unserem Land«, sagt Crain. »Die Zeltlager dienten hauptsächlich dem Zweck, auch andere Leute darauf aufmerksam zu machen.« Allerdings gibt es bis heute keine klaren politischen Forderungen, was es der »Occupy«-Bewegung erschwert, die vielbeschworene »Veränderung« tatsächlich zu erreichen. Die Tea-Party-Bewegung hat es da leichter, denn ihre Mitglieder haben ein klares Ziel vor Augen: Sie wollen keine Steuern zahlen.
Doch »Occupy Nevada County«, deren Mitglieder schon lange vor der Einführung Facebook-tauglicher Slogans praktische Erfahrungen in der Umweltschutzbewegung sammeln konnten, hat ein konkretes Anliegen: die Not der Mitbürgerinnen und Mitbürger zu lindern. So klingelte am Abend des 14. Dezember bei »Occupy Nevada County« das Telefon. Die Familie Merryweather sollte am nächsten Tag um 6 Uhr morgens aus ihrem Haus zwangsgeräumt werden – ausgerechnet kurz vor Weihnachten. Mitglieder von »Occupy Nevada County« und ihre Freundinnen und Freunde besetzten den Vorgarten der Merryweathers. »Der Sheriff und die Bank, der das Haus gehörte, wollten sie rausschmeißen«, sagt Crain. »Wir haben mit der Bank verhandelt, und es ist uns gelungen, die Zwangsvollstreckung einen Monat zu verzögern.« Die Aktion war ein voller Erfolg und womöglich der Anfang einer neuen Phase: »Occupy Our Homes« – besetzt unsere Häuser! Immerhin haben in den USA allein im vorigen Jahr um die 1,3 Millionen Menschen ihr Eigenheim verloren, Zwangsversteigerungen sind zu einer boomenden Branche geworden. »Occupy« will nun dagegenhalten. »Das ist die Richtung, in die wir gehen wollen«, sagt Crain. »Die Occupy-Bewegung sollte der Gemeinschaft als eine Ressource zur Verfügung stehen.« Seitdem demons­trieren Crain und seine Gruppe vor dem örtlichen Gerichtsgebäude, wo täglich zwangsgeräumte Häuser versteigert werden. »Ich habe das Gefühl, dass das System, so wie es jetzt ist, auf lange Sicht nicht funktionieren kann«, so Crain. »Es geht um unser Gemeingut. Es geht darum, ein besseres Leben aufzubauen. Wir müssen uns um eine aktive Rolle in unserem eigenen Leben bemühen.«