Ein Besuch auf dem »Dach der Welt«

Von hier aus geht’s bergab

Bei einem Streifzug durch die tibetische Provinz erfährt man, was sich für Yak-Züchter in den vergangenen Jahren änderte, warum Mischehen für chinesische Mütter inakzeptabel sind und was Caspar David Friedrich mit all dem zu tun hat.
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Mein T-Shirt, das ich sofort nach dem Eintreffen im Hotel wechsle, ist durchgeschwitzt. Außerdem atme ich ungefähr dreimal so schnell wie heute morgen, und das Zimmer dreht sich um mich. Nachdem ich mich in den Sessel geworfen habe, fallen mir gleich einige Gründe für meinen Zustand ein: Vor zwei Stunden bin ich in Lhasa gelandet, auf dem Gongkar Airport, in 3 750 Metern Höhe. Davor war ich in Peking, wo der Flughafen auf 63 Metern Höhe liegt.
Wi, meine Reiseführerin, die in den nächsten Tagen mein Schatten sein wird, legte mir zur Begrüßung den Khatag um, das traditionelle Begrüßungsgeschenk Tibets an seine Gäste. »Sie müssen abwarten, ob Ihnen heute Nacht schwindlig wird«, hatte die schmale 32jährige in perfektem Deutsch gesagt. »Wenn es zu schlimm wird, rufen Sie einfach bei der Rezeption an. Dann bringen die eine Sauerstoffflasche. Ein Krankenpfleger ist auch immer im Haus.« Diese ermutigenden Nachrichten galt es umgehend zu verdrängen. Stattdessen setzten wir uns in einen bereitstehenden Van mit Fahrer und durchmaßen das gesamte Autobahnnetz der Autonomen Region Tibet. Zugegebenermaßen besteht das derzeit aus einer einzigen Straße von knapp 38 Kilometern, die vom Flughafen bis zur Innenstadt von Lhasa führt. Immerhin Zeit genug für Wi, mich noch ein bisschen mehr über die Höhenkrankheit aufzuklären: »Ob man höhenkrank wird oder nicht, ist so, als ob man blond ist oder nicht. Wenn die Krankheit heute Nacht nicht beginnt, dann bekommen Sie die nie.« Das klang doch schon wesentlich besser.
Die wechselvolle Geschichte des Staates Tibet geht zurück bis ins 7. Jahrhundert, als das Königreich Tibet entstand. Das Land war in den Folgejahrhunderten besetzt von Mongolen, wurde zum Spielball der Interessen von England und Russland und hatte zeitweise nicht einmal genau festgelegte Landesgrenzen. Im Jahr 1951 wurde es von China besetzt und 1965 als Autonomes Gebiet Tibet zur Verwaltungseinheit der Volksrepublik China erklärt. Bis heute ist dieser Status völkerrechtlich umstritten. Immer wieder kam es in Tibet zu Unruhen, zuletzt zwischen 1987 und 1989 und im März 2008. Das Autonome Gebiet Tibet umfasst etwa die Hälfte des ursprünglichen tibe­tischen Kulturraums und hat rund 2,5 Millionen Einwohner. Insgesamt leben rund fünf Millionen Tibeterinnen und Tibeter über ganz China verteilt. Lhasa ist die größte Stadt der Autonomen Region. Eine Viertelmillion Menschen leben hier. Mit durchschnittlich 4 500 Metern ist Tibet die höchstgelegene Region des Planeten. Gleich neben dem Mount Everest gelegen.

Eigentlich war geplant, am nächsten Morgen so schnell wie möglich von Lhasa aus in Richtung Umland aufzubrechen. Doch mit sanftem Druck, den ich schon von früheren Besuchen in China kenne und der vor allem aus freundlichem Überhören der Wünsche des Gastes besteht, bringt Wi mich dazu, mir zunächst den Jokhang Tempel anzusehen. Der liegt in der Altstadt von Lhasa und wurde vor knapp 1 400 Jahren gegründet. Für den tibetischen Buddhismus hat er in etwa dieselbe Bedeutung wie die Kaaba in Mekka für den Islam. Jeder Gläubige sollte einmal im Leben dort gewesen sein, und zwar zu Fuß. Von den äußersten Randgebieten Tibets kann ein solcher Marsch ein ganzes Jahr lang dauern. Stirbt ein Pilger auf der Reise, brechen ihm seine Weggefährten einige Zähne heraus und bringen die zum Jokhang. Damit gilt die Pilgerreise posthum als vollendet.
Rund um den Jokhang stehen dicht an dicht Marktbuden, in denen Gebetsteppiche und -mühlen verkauft werden. Noch mehr fällt allerdings die Masse der Sicherheitskräfte und Polizisten auf, die sich hier permanent zeigt. Seit es im Sommer 2008 in diesem Viertel zu 36stündigen Demonstrationen kam, steht ein Zaun um das gesamte Gelände des Tempels. Mein Hotel, in dem viele der Touristen untergebracht sind, steht ebenfalls innerhalb der Umzäunung. Auch Fahrer und Führer der Touristen dürfen sich nur begrenzte Zeit innerhalb der Absperrung aufhalten.
Als Wi merkt, dass ich mich mehr für die Sicherheitskräfte als für den Tempel zu interessieren beginne, führt sie mich zu einem Teehaus in der Nähe. »Es hat sich einiges geändert in der letzten Zeit«, sagt sie beim ersten Schluck, als ob sie sich entschuldigen wollte. Ursprünglich kommt sie aus Xining, einer Stadt auf halbem Weg nach Peking, ungefähr 2 000 Kilometer entfernt. Nach dem Studium ließ sie sich von zwei Freundinnen überreden, für ein Jahr nach Tibet zu gehen. »Die beiden sind längst schon wieder weg«, lächelt sie traurig.
Wi verliebte sich in einen Tibeter. Die beiden wollten heiraten. Doch eine Mischehe zwischen einem Tibeter und einer Chinesin war für beide Familien undenkbar. Unter diesem Druck trennten sich die beiden vor einem halben Jahr.
»Nach Xining kann ich nicht wieder zurück. Meine Eltern haben schon einen Ehemann für mich ausgesucht, den ich nicht einmal kenne. Nun muss ich hier oben bleiben.« Mit einem beherzten Schluck leert sie ihre Tasse. »Einen Tempel müssen Sie noch sehen«, beharrt sie und führt mich zum Wagen. Als ich protestieren will, grinst sie geheimnisvoll: »Wir treffen eine schöne Dame dort.«

Unser neues Ziel ist das Kloster Sera, wenige Kilometer außerhalb der Stadt, das berühmt ist für ein tägliches Ritual. In einem Innenhof treffen sich die Mönche in ihren safrangelben oder roten Gewändern. Die Hälfte von ihnen setzt sich auf den Boden. Vor jedem von ihnen baut sich ein anderer Mönch auf und schreit ihnen Fragen zu, die er mit martialischen Handbewegungen unterstreicht. Nach einer Dreiviertelstunde wechseln die Rollen – die Kauernden dürfen aufstehen und ihrerseits Fragen stellen. Am ehesten erinnert die Szenerie an einen Schulhof voller halbwüchsiger Jungs. Aber da die Mönche auf diese Art seit Jahrhunderten lernen, finden sich jeden Tag Hunderte Touristen ein. Nach der ersten Runde erhebt sich der Mann, der auf der Steinstufe neben mir gesessen hat.
Der Platz bleibt nicht lange leer. Auffällig unauffällig setzt sich einer jener Sicherheitskräfte neben mich, die schon rund um den Jokhang zu sehen waren. Wie jeder seiner Einheit ist auch dieser rund 18 Jahre alt und trägt einen schwarzen Overall. Minutenlang sieht er mir interessiert zu, wie ich Notizen mache. Irgendwann werde ich nervös. Was wäre, wenn der junge Mann mir mein Notizbuch einfach wegnähme? Meine Aufzeichnungen wären verloren. Allmählich wirkt die Paranoia, die von der Staatsmacht in Tibet permanent verbreitet wird, auch bei mir. Schon jetzt.
Ich verlasse den Ort in Richtung Ausgang. An einem der kleinen Wohnhäuser des Klosters lehnt ein Mönch und scheint sich in geradezu buddhistischer Ruhe zu langweilen. Erst nach mehrfachem Nachfragen verrät er mir, dass er Gyatso heißt. Gyatso arbeitet als Koch. Das hat ihm über die Jahre einige Privilegien eingebracht. Zum Beispiel das Recht, in einer Einzelzelle zu leben und einen Fernseher zu besitzen. Das Kloster Sera verlässt er so gut wie nie. Nur manchmal kommen seine Eltern ihn besuchen. Er ist 37 Jahre alt und wohnt hier seit 1996. Das ist ungewöhnlich, denn normalerweise beginnt die Ausbildung zum Mönch bereits im Alter von sieben Jahren. Warum er erst zu spät hierher gekommen sei, will ich wissen. »Warst du vorher in einem anderen Kloster?« Gyatsos Gesicht wird zu einer freundlichen Maske, von einem Moment auf den anderen versteht er kein Englisch mehr.
Wi wartet schon am Ausgang auf mich. Die schöne Dame, die ich treffen soll, entpuppt sich als eine Freundin, die sich heute freigenommen hat, um mit uns auf die Reise ins Umland zu kommen. Sie heißt Yin, ist Anfang dreißig und trägt ein graues Businesskostüm. Nachdem sie sich auf die Rückbank des Vans neben mich gesetzt hat, beginnt sie sofort zu reden.
Yin arbeitet in einer Bank im Zentrum von Lhasa. Sie gehört zur ersten Generation selbstbewusster Frauen, die in ganz China im Management aufzutauchen beginnen. »Bis vor zehn Jahren waren Frauen in China wenig wert, und in Tibet noch weniger«, sagt sie. »Aber das ändert sich gerade«. Wie fast alle hat Yin ein Kind, und wie alle trägt sie dessen Bild auf dem Bildschirm ihres Handys immer mit sich spazieren. Maemae heißt ihr kleines Mädchen, das tagsüber von ihren Eltern betreut wird. Ob sie noch ein zweites Kind möchte? Unmerklich zuckt Yin zusammen. Falsche Frage. Noch immer gilt in China die Doktrin der Ein-Kind-Familie. Sie ist vor einigen Jahren aus dem südchinesischen Kunming hergezogen. »Mein Mann arbeitet bei der Partei. Wir sind Han-Chinesen. Die Tibeterinnen und Tibeter können so viele Kinder haben wie sie wollen. Wir nicht. Bei noch einem Kind wird mein Mann unehrenhaft entlassen und findet keine Stelle mehr.« Dann wechselt sie das Thema. Freundlich, aber zügig.

Wenige Kilometer später erreichen wir den Zusammenfluss von Lhasa-Fluss und Brahmaputra. Diese Stelle gilt als spirituell besonderer Platz für Seebestattungen. Die Brücke und die Bäume sind mit Fahnen in den Landesfarben Tibets behängt, auf denen Wünsche und Gebete für die Toten stehen. Und überall an den Felsen sind mit Kreide kleine Leitern auf die Felsen gezeichnet. »Die haben Pilger gemalt. An ihnen können sie leichter ins nächste Leben steigen«, weiß Wi. Dass dazwischen ein paar Händler auf Wolldecken nicht nur die obligatorischen Gebetsmühlen und -ketten anbieten, sondern auch in die Jahre gekommene Mao-Porträts, stört nicht wirklich. Links und rechts an den Hängen grasen Yak-Herden, und solange es die Höhenlage erlaubt, wird auf ebeneren Flächen Getreide angebaut.
Nach fast zwei Stunden erreichen wir den Gambala-Pass, der auf 4 900 Metern Höhe liegt. Oben auf der Passhöhe lauern einige traditionell gekleidete Tibeter auf Touristen. Sie haben einen Yak und etliche Hunde mit roten Halskrausen geschmückt und bieten sie als Fotomodelle an. Ich habe keinen Blick dafür, denn 500 Höhenmeter unter uns erstreckt sich der Yamdrok-See. Wörtlich übersetzt bedeutet sein Name »grüner Jadesee der oberen Alm«. Keine Silbe davon ist übertrieben. Etwas schöneres als diesen See, der sich mit 638 Quadratkilometern Größe und bis zu 40 Metern Tiefe um die Berge schlängelt, habe ich selten gesehen. Sogar einen kleinen Hafen, in dem einige Schiffe ankern, gibt es hier oben. Ich lasse mich direkt ans Ufer fahren, vorbei an einem kleinen, asphaltierten Parkplatz, auf dem ein geschlossener Kiosk steht. Daneben stehen ungefähr 100 chinesische Touristen neben ihren Reisebussen und fotografieren. Nachdem unser Fahrer einen Imbiss aus seinem Kofferraum gezaubert hat, räuspert sich Yin: »Warum willst du hier eigentlich allein sitzen? Und nicht bei den anderen auf dem Parkplatz?«
»Allein kann man doch die Aussicht viel besser genießen«, sage ich perplex. Die Frauen kichern synchron. »Das sagen die Europäer immer«, erwidert Wi und verbirgt ihr Lachen hinter vorgehaltener Hand. »Dabei ist es doch viel schöner, so was mit vielen Menschen zu teilen.« Ein erstaunlicher Gedanke, der mir zwei Erkenntnisse bringt. Erstens bekomme ich eine Ahnung, dass asiatische Touristen nicht nur deshalb stets im Rudel auftauchen, weil sie sich nicht verlieren wollen. Denn zweitens scheinen sie kulturell deutlich weniger von 200 Jahre alten, romantischen Idealen und Bildern wie Caspar David Friedrichs »Mondaufgang am Meer« oder »Der einsame Baum« beeinflusst als ich, der bei jeder Sternschnuppe zu feuchten Augen neigt.
Rund einen Kilometer tiefer halten wir noch einmal an. In einem kleinen Ort an der Straße liegt das Haus des tibetischen Bauern Tadjenima. Der 56jährige Bauer zeigt uns nicht ohne Stolz sein neues Haus, in dem er mit seiner zehnköpfigen Familie seit 2006 lebt. Die chinesische Regierung hat es ihm gebaut, wie vielen anderen in der Nähe. Das Interview mit ihm wird eine echte Herausforderung. Tadjenima spricht nur Tibetisch. Unser Fahrer kann Tibetisch und Chinesisch, aber kein Englisch. Das übernimmt Wi. Unter diesen Umständen habe ich keine Ahnung, was aus meinen Fragen wird, bis sie nach drei Übersetzungen in jede Richtung wieder bei mir ankommen. Es lässt sich jedenfalls festhalten, dass Tadjenima sein neues Haus mag, weil er direkt neben den Wiesen mit seinen Tieren lebt. Die Frage, ob ihn die Regierung auf diese Weise nicht auch viel besser kontrollieren kann, beantwortet er mit einem Lächeln. Vielleicht ist sie ihm auch nicht übersetzt worden. Als die Sonne sinkt und die Berggipfel des Himalaja beleuchtet, als hätte Caspar David Friedrich sie gemalt, erreichen wir wieder Lhasa. Yin will nach Hause, aber mich lädt Wi in ein Restaurant nahe des Bahnhofs ein. Auf einem der Gleise ist bereits ein Zug der Tibetbahn bereitgestellt, die seit 2006 täglich Lhasa mit Xining und Peking verbindet.
Die Spezialität des Hauses auf meinem Teller heißt Yakcurry. Um der Wahrheit die Ehre zu geben: Ich picke genau so lange an meiner Portion herum, bis ich sie wegschieben kann, ohne allzu unfreundlich zu wirken. Auch den Buttertee lehne ich freundlich ab. In meinem Infomaterial stand nämlich, dass Yakbutter auch als Brennstoff für tibetische Lampen verwendet wird.
Mein Nachtisch besteht aus Kaffee und Käsekuchen. Der schmeckt auch in 3 700 Metern Höhe.