Daniela Truffer und Markus Bauer im Gespräch über Intersexualität

»Die Grundrechte werden mit Füßen getreten«

Jedes Jahr kommen in Deutschland Hunderte intersexuelle Kinder auf die Welt. Die Vorstellung, man könne deren Geschlecht operativ festlegen, führt in einer Vielzahl von Fällen zu »genitalangleichenden Eingriffen« nach der Geburt. Eine Auseinandersetzung mit dieser medizinischen Vorgehensweise blieb bis in die neunziger Jahre hinein fast vollständig aus. Derzeit befasst sich der Deutsche Ethikrat im Auftrag der Bundesregierung mit der Situation von intersexuellen Menschen in Deutschland. Für die in Kürze erwartete Stellungnahme wurde auch die Menschenrechtsgruppe »Zwischengeschlecht« befragt. Sie betreibt die Seite zwischengeschlecht.org und setzt sich für die Beendigung der bisherigen Praxis in Kinderkliniken ein. Die Jungle World sprach mit der Vorsitzenden Daniela Truffer und Markus Bauer, der für Kampagnen verantwortlich ist.

Wie lange gibt es Ihre Organisation bereits und wie kam es zur Gründung?
Truffer: Auslöser war der »Zwitter-Prozess« am Kölner Landgericht im Jahr 2007, als die Betroffene Christiane Völling gegen ihren früheren Chirurgen klagte. Wir organisierten damals Demonstrationen, anfänglich aus Selbsthilfegruppen heraus, und machten Öffentlichkeitsarbeit mit Pressemitteilungen und einem Weblog. Um diese Arbeit weiterführen zu können, etwa mit Protesten gegen involvierte Kliniken und Standesorganisationen, gründeten wir 2010 die Gruppe »Zwischengeschlecht«.
Sie betonen oft, dass Ihre Arbeit eng mit persönlichen Erfahrungen verbunden ist.
Truffer: Ich selbst wurde mit »atypischen« körperlichen Geschlechtsmerkmalen geboren. Als Baby wurde ich kastriert, mit sieben wurde mein Genital verstümmelt, ab zwölf musste ich weibliche Hormone nehmen. Ich wurde zum Mädchen gemacht und in der Folge immer angelogen. Ich leide bis heute an den psychischen und physischen Folgen dieser menschenrechtswidrigen »Behandlung«. Seit elf Jahren engagiere ich mich in der Selbsthilfe. 2002 ging ich mit meiner Geschichte an die Öffentlichkeit, zunächst anonym.
Bauer: Als Nicht-Zwitter ging es mir wie den meisten anderen: Ich hatte keine Ahnung, was in den Kinderkliniken vor sich geht. Als ich davon erfuhr, war ich schockiert. Ich wollte nicht weiter tatenlos zusehen und solidarisierte mich.
Sie sprechen von »westlicher Genitalverstümmelung«. Wie ist das zu verstehen?
Bauer: Seit den neunziger Jahren bezeichnen Betroffene die kosmetischen Genitaloperationen an Zwittern als »Genitalverstümmelung« und kritisieren die vorherrschende Doppelmoral: Kulturell begründete Genitalverstümmelungen in Afrika etwa werden als barbarisch verurteilt, während vor der eigenen Haustür medizinisch unnötige Genitaloperationen an Kindern nicht nur ausgeblendet, sondern auch geleugnet werden. Erst seit wenigen Jahren konstatieren zunehmend auch Frauen- und Menschenrechtsorganisationen, dass die Folgen gleich verheerend sind, und ziehen Parallelen.
Wie schätzen Sie die Situation von Intersexuellen in Deutschland derzeit ein?
Truffer: Den Medizinern zufolge kommt jedes tausendste Kind mit »atypischen« Genitalien auf die Welt. Bis heute werden 90 Prozent davon kosmetisch genitaloperiert, meist mehrfach und von klein auf. Ihr Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung wird mit Füßen getreten. Seit 20 Jahren klagen Betroffene den Ärzten und der Öffentlichkeit ihr Leid. Bis heute reagieren die Verantwortlichen auf die stets gleiche Weise, mit Ablenkungsmanövern, Ausreden, Spott und Hohn – im Wissen, dass sie wegen der Verjährungsfristen und der Traumatisierung der Opfer juristisch kaum belangt werden können. Immerhin dringt das Thema nun vermehrt in die Öffentlichkeit, wodurch der Druck auf Ärzte und Politiker steigt.
Viele Betroffene scheiterten mit ihren Klagen an der Verjährungsfrist. Wie sind die juristischen Gegebenheiten, und gibt es Hoffnung auf eine Novellierung?
Bauer: Einfache Körperverletzung verjährt nach fünf, gefährliche nach zehn Jahren. Zivilrechtlich liegt die absolute Verjährung bei 30 Jahren. Nach wie vor ist Christiane Völling die Einzige, die ihren letzten behandelnden Arzt wenigstens noch zivilrechtlich verklagen konnte. Ihr gelang dies im letzten Monat vor Eintritt der absoluten Verjährung, und das auch nur, weil sie zum Zeitpunkt der betreffenden Operation bereits 18 Jahre alt war. Eine positive Entwicklung bei der Rechtsprechung sehen wir derzeit einzig im Bezug auf weibliche Genitalverstümmelungen und sexualisierte Gewalt an Kindern. In Bezug auf verstümmelte Zwitterkinder steht die Diskussion hingegen noch am Anfang.
Immerhin wurden Sie vor den deutschen Ethik­rat und vor die Schweizer »Ethikkommission im Bereich Humanmedizin« geladen.
Truffer: In beiden Fällen erkannten die Ethikgremien erst aufgrund von politischem Druck Handlungsbedarf. In Deutschland benötigte es dafür, nach 15 Jahren vergeblicher Vorstöße im Bundestag, den Umweg über die Uno. In der Schweiz, wo es von einer Vielzahl von Parlamentariern gestützte Vorstöße im Nationalrat gab, ging es deutlich schneller. Es ist als großer Erfolg zu bewerten, dass Betroffene und Eltern erstmals in ­einem solchen Rahmen angehört wurden. Der bisherige Verlauf der Anhörungen gibt Anlass zu großer Hoffnung. Die Stellungnahme des deutschen Ethikrates wird für den Februar erwartet, die der Schweizer Kommission für den Sommer.
Gibt es auch in anderen Ländern Entwicklungen in diesem Bereich, vielleicht auch Organisationen, mit denen Sie vernetzt sind?
Bauer: Es gibt einen globalen Trend zur Stärkung von Kinderrechten, des Grundsatzes der informierten Zustimmung und des Stellenwerts der Medizinethik. Das verleiht unserem Anliegen Rückenwind. Soweit wir wissen, ist »Zwischengeschlecht« derzeit die einzige Gruppe, die explizit auf ein gesetzliches Verbot von kosmetischen Genitaloperationen an Kindern hinarbeitet und dabei Öffentlichkeitsarbeit, Realpolitik und gewaltfreie Aktionen zusammenbringt. Es gab allerdings Vorläufer, zum Beispiel die »Intersex So­ciety of North America« oder die »Arbeitsgruppe gegen Gewalt in der Pädiatrie und Gynäkologie«. Auch die US-Lobbyorganisation »Advocates for Informed Choice« geht zum Teil in eine ähnliche Richtung. Außerdem stehen wir international in Kontakt mit Selbsthilfegruppen, allgemeinen Menschenrechtsgruppen, Kinder- und Frauenrechtsorganisationen sowie Gruppierungen, die sich für die genitale Unversehrtheit einsetzen.
Und arbeiten Sie auch mit politischen Gruppierungen zusammen, die sich nicht speziell mit Themen der Sexualität beschäftigen?
Truffer: Um die schnellstmögliche Beendigung der Genitalverstümmelungen durchsetzen zu können, braucht es politische Mehrheiten. Realpolitik hat deshalb in unserer Arbeit einen großen Stellenwert, und wir suchen die Zusammenarbeit mit vielen politischen Kräften ebenso wie mit solidarischen LGBT-Gruppierungen. Leider benutzen jedoch viele dieser Gruppierungen Zwitteranliegen immer noch hauptsächlich in vereinnahmender Weise, zum Beispiel zur Abschaffung des behördlichen Geschlechtseintrags, während die konkrete Beendigung der Verstümmelungen für sie kein Thema ist. Hier besteht nach wie vor großer Diskussionsbedarf. Immerhin kommen aber zu praktisch allen unseren Aktionen Mitglieder von LGBT-Gruppen.
Wie sind eigentlich die öffentlichen Reaktionen auf ihr Engagement?
Bauer: Von den Menschen auf der Straße bekommen wir in der Regel positive Reaktionen. Den meisten ist sofort klar, was wir meinen: »Die sollen doch selber entscheiden dürfen.« Auch manche Mediziner stehen unseren Forderungen aufgeschlossen bis positiv gegenüber. Der harte Kern der Täter wirft uns dagegen vor, wir seien es, die ihre Menschenrechte verletzen würden, und droht uns zunehmend mit rechtlichen Schritten. In der Öffentlichkeit ist die Sensibilisierung sicher vorangeschritten, und auch einige Selbsthilfegruppen treten den Ärzten gegenüber entschiedener auf.
Truffer: Nach wie vor benötigen wir aber tatkräftige Unterstützung, durch sachdienliche Hinweise und Recherchen zu lokalen Genitalverstümmlern, durch Mithilfe und Unterstützung vor Ort bei Aktionen oder durch finanzielle Hilfe. Die Mitgliedschaft bei »Zwischengeschlecht« steht allen offen, die unsere Ziele teilen und etwas dazu beitragen möchten, diese zu erreichen.