Der »Rechtsterrorismus« ist keineswegs eine neue Erscheinung

Tat und Täter

Die Debatte um den »Nationalsozialistischen Untergrund« wird unter dem Schlagwort des »Rechtsterrorismus« geführt. Dabei wird unterstellt, dass sich in deren Taten eine neue Qualität der politisch motivierten Gewalt von rechts offenbare.

Man habe derartige Verbrechen nicht für möglich gehalten, gab der Präsident des Verfassungsschutzes, Heinz Fromm, vor einigen Wochen zu Protokoll. Das gibt zu denken. Denn in dem allgemeinen Erschrecken, welches das Auf- und Ableben des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) ausgelöst hat, wirft dieses Eingeständnis ein grelles Licht auf den Grad der Realitätsverleugnung, die den Umgang mit dem militanten Rechtsextremismus bislang geprägt zu haben scheint. Allein so ist zu erklären, dass seit dem Bekanntwerden der Morde des NSU die neue gesellschaftliche Herausforderung nicht mehr länger nur im »Rechtsextremismus«, sondern vor allem im »Rechtsterrorismus« gesehen wird. Dieser bedeute eine neue Dimension der Gewalt, mit der einfach niemand rechnen konnte. Was aber genau ist derart »neu« und unvorhersehbar am NSU? An dem Umstand, dass die Gruppe gezielt und kaltblütig Menschen ermordet hat, kann es nicht liegen, denn seit der deutschen Wiedervereinigung wurde eine Vielzahl von Menschen von rechten Gewalttätern ohne Skrupel verprügelt, gejagt und ermordet. Bisher waren diese Opfer aber nicht Grund genug, von Rechtsterrorismus zu reden, im Gegenteil: Rechte Gewalt wurde lange Zeit nicht als politisch motiviert, sondern im Kontext von sozialen Problemen und Jugendgewalt diskutiert.

Im Fall des NSU jedoch spricht niemand mehr von »Jugendgewalt«, denn wer als »Terrorist« bezeichnet wird, der gilt als besonders gefährlich und fanatisch. Solche Veränderungen der politischen Rhetorik offenbaren einen strategischen Wechsel innerhalb des gesellschaftlichen Diskurses: Es soll sich bei den Morden des NSU ausdrücklich um etwas anderes gehandelt haben als bei den rechtsextremen Taten, die bisher als »Jugendgewalt« verbucht worden sind. Aber ist das plau­sibel? Der Begriff »Terrorismus« ist vom französischen »terreur« abgeleitet, was soviel heißt wie »Schrecken«. Die Produktion von Angst und Schrecken gilt somit als ein wesentliches Merkmal terroristischer Gewalt. Der französische Philosoph Marcel Hernaff hat in Lettre International unlängst als »Terrorismus im eigentlichen Sinne« den Typus von Gewalt bezeichnet, mit welchem die Täter den Zweck verfolgen, eine Gesellschaft durch gewaltsame Aktionen zu destabilisieren. Die Bevölkerung soll durch willkürliche gewaltsame Handlungen eingeschüchtert und erpresst werden.
Überträgt man diese Überlegung auf die Praxis des NSU, wird schnell klar, dass eine Ettikettierung als Terrorismus nach diesem Kriterium Schwierigkeiten bereitet: Nicht die gesamte Gesellschaft stand im Fadenkreuz der Gruppe, sondern allein der von den Tätern als »ausländisch« phantasierte Teil der Bevölkerung. Zwar ging es um die Verbreitung von Angst und Schrecken, aber eben nicht taktisch begründet im Hinblick auf einen dadurch vorangetrieben Zusammenbruch des politischen Systems, sondern allein bezogen auf die Effekte innerhalb einer klar lokalisierten Feindgruppe in ihrem Verhältnis zur imaginierten Eigengruppe.
Jenseits des Slogans »Deutschland den Deutschen – Ausländer raus« lassen sich diese Taten deshalb keiner politischen Strategie sinnvoll zuordnen. Darüber hinaus existierte weder ein eigenständiges ideologisches Profil oder ein »Manifest« wie beim norwegischen Rechtsextremisten Anders Breivik, noch gibt es dazu weiterführende Äußerungen von der letzten Überlebenden des Mördertrios. Also muss man sich zur Rekonstruktion der politischen Ziele vornehmlich auf die Taten stützen, wie es durch das Vermittlungskonzept einer Art »Propaganda der Tat« von den Tätern ja auch intendiert worden ist. Soweit sich das aus dem Muster der bislang bekannten Umstände rekonstruieren lässt, bestand das Programm des NSU hauptsächlich darin, vermeintliche »Ausländer« körperlich anzugreifen, um sie zu verletzen und zu töten. Ohne Zweifel dürfte das die Angehörigen und die Gruppe potentieller Opfer erheblich verunsichert und terrorisiert haben. Der damit verbundene Effekt der Einschüchterung, der als Kalkül der Gewalt gelten kann, stellt jedoch kein Alleinstellungsmerkmal des NSU dar, sondern wird von den Tätern im Bereich rechter Gewalt ebenfalls beabsichtigt. Je nach Statistik zählt man dort 59 bis 189 Tote als Folge dieser Strategie.

Beide Konzepte verbindet deutlich mehr, als sie unterscheidet, es handelt sich nicht um grundsätzlich verschiedene Ansatzpunkte ideologisch motivierter Gewalt, sondern höchstens um eine etwas andere Form der Umsetzung. Beide Gruppen von Tätern eint das Ausagieren einer völkischen Paranoia, wie sie von Harald Welzer in seinem Buch »Täter« zutreffend beschrieben wurde: als die absolute Unterscheidung von Zugehörigen und Nichtzugehörigen, gepaart mit der phobischen Setzung, dass die einzige Lösung bestehender gesellschaftlicher Probleme in der vollständigen Auslöschung der Nichtzugehörigen bestehe. Der aktuelle »Rechtsterrorismus« stellt damit nichts anderes dar als die Fortsetzung rechter Gewalt mit anderen Mitteln, denn der NSU arbeitete auf Grundlage derselben Ideologie wie alle anderen aktionsorientierten Rechtsextremisten auch. Nicht einmal die finanzielle, logistische und protektionistische Unterstützung durch den Verfassungsschutz ist neu oder von einer anderen Qualität als zum Beispiel diejenige im militanten Umfeld der NPD.
Trotzdem wird der »Rechtsterrorismus« des NSU in deutlich bemühter Abgrenzung zum Bereich der rechten Gewalt diskutiert. Das funktioniert nur, weil letzterer zuvor systematisch als unpo­litisches Phänomen kleingeredet wurde. Diese Praxis wurde unlängst sogar vom Vizepräsidenten des Bundestages, Wolfgang Thierse (SPD), kritisiert: »Rechtsextrem motivierte Übergriffe werden entgegen aller Kritik als Jugendgewalt abgetan.« Die Darstellung rechter Gewalttäter als unpolitische Jugendliche zielt in der Regel darauf ab, die Rolle der rechtsextremen Ideologie und ihrer Verbreitung innerhalb der Gesellschaft zu leugnen und damit zu dethematisieren. Dadurch gerät die bestehende Blutsverwandschaft zwischen rechter Gewalt und Rechtsterrorismus als Problem gar nicht erst nicht in den Blick.

Daran ist auch die deutsche Rechtsextremismusforschung nicht ganz unschuldig. Sie hat den hegemonialen Diskurs über rechte Gewalt mit Deutungen versorgt, die dem volkstümlichen Bedürfnis nach Entlastung und einer politisch gewollten Verharmlosung stark entgegengekommen sind. Nach dem Dafürhalten vieler Wissenschaftler wird rechte Gewalt primär nicht deshalb angewendet, weil sie den Tätern aus weltanschaulichen Gründen plausibel und gerechtfertigt erscheint, sondern weil es sich um verführte, verirrte oder vernachlässigte Jugendliche handelt, die sich nicht anders zu helfen wissen, als mit Hilfe dieser Gewalt ihre ungünstigen Lebensbedingungen zu kommentieren. Trotz früher Warnungen von Sozialwissenschaftlern wie Albert Scherr, Benno Hafeneger oder Birgit Rommelspacher hat sich ausgehend von dieser Prämisse im Mainstream der Ursachenforschung ein »Jugenddiskurs« entwickelt, in welchem es nicht um die Rekonstruktion der Motive und Ziele rechtsextremer Gewalttäter ging, sondern um Themen wie Pubertät, schwierige Familienverhältnisse oder problematische Lebenslagen. Als Folge standen die Täter und ihre Probleme im Zentrum der Aufmerksamkeit, nicht aber die Opfer und die Gründe, aus welchen sie dazu gemacht wurden. Tat und Täter wurden analytisch entkoppelt, eine Kausalität zwischen Motiv und Handlung als unplausibel verworfen. Die klare Struktur der von rechter Gewalt betroffenen ­Opfergruppen wurde zwar zur Kenntnis genommen, einen Einfluss auf die Diagnose »Jugend­gewalt« hatte sie jedoch nicht.
Selbst als die Zahl der Gewalttaten sich nach den Steigerungsraten Anfang der neunziger Jahre auf dem relativ konstanten Niveau von etwa 980 polizeilich registrierten Fällen pro Jahr einpendelte, wurde von Seiten des wissenschaftlichen Fachpersonals weiterhin behauptet, dass diese Angriffe hauptsächlich aus Unmut über soziale Faktoren wie Arbeitslosigkeit, aus Orientierungslosigkeit oder Langeweile begangen wurden. Würde man diese Faktoren positiv verändern, so das optimistische Kalkül dahinter, dann würde sich das Problem der rechten Gewalt von alleine erledigen. Die Forschung produzierte das Paradox, dass zwar ein gesellschaftlich relevantes Problem namens »rechte Gewalt« existierte, man den dafür verantwortlichen Akteuren jedoch nicht zugestehen wollte, »rechts« genug zu sein, um als Ursache für dieses Problem zu gelten. Wie sehr dabei die politische Subjektivität der Täter ignoriert wurde, kann am folgenden Beispiel illustriert werden: In einer Befragung von verurteilten rechtsextremen Gewalttätern zwischen 17 und 24 Jahren äußerten jene zwar eindeutig ihre rechtsextreme Gesinnung, wurden aber von der untersuchenden Wissenschaftlerin durchweg als »unpolitisch« eingestuft. Dies geschah mit der Begründung, dass die jungen Männer zwar die einzelnen Elemente ihrer Überzeugung deutlich machen konnten, diese aber ausschließlich anhand von Floskeln, einfachen Stereotypen und inhaltsleeren Phrasen erläutert hätten. Über die von ihnen verübte Gewalt fällte die Forscherin deshalb das Urteil, dass es sich nicht um rechtsex­treme oder politische Gewalt gehandelt haben könne.

Solche Folgerungen sind im wissenschaftlichen Diskurs über rechte Gewalt nicht marginal, sondern durchaus verbreitet. Bei genauer Betrachtung offenbart sich in dieser Art des analytischen Zugangs der vollständige Bankrott einer Diagnostik, die ausschließlich täterorientiert arbeitet: Wenn nämlich das Kriterium der Ausdrucks­fähigkeit eines Gewalttäters maßgeblich darüber entscheidet, um welche Art von Gewalt es sich handelt – wäre es dann auch unzulässig, eine Vergewaltigung als Form und Ausdruck »sexueller Gewalt« zu bezeichnen, nur weil der Täter das Wort »Patriarchat« nicht richtig buchstabieren kann? Die Absurdität dieser Logik liegt auf der Hand: Ob eine Gewalttat politisch motiviert ist oder nicht, sollte im Rahmen einer wissenschaftlichen Analyse von transparent hergeleiteten Kriterien des »Politischen« abhängen und nicht davon, ob die Täter sprachlich und inhaltlich die Qualitätsindikatoren bildungsbürgerlicher Idealvorstellungen zu bedienen wissen. Letztere zum Maßstab zu nehmen, um damit über die Existenz einer rechtspolitischen Motivation zu befinden, ist gerade auch im historischen Rückblick fatal: Der Rechtsextremismus ist nämlich schon immer eine Ideologie gewesen, die fast ausschließlich aus Stereotypen, Floskeln und Phrasen besteht. Man mag Vertretern dieser Ideologie von einem akademischen Standpunkt aus mangelnde Rationalität attestieren, weniger politisch wird das Phänomen dadurch nicht.
Wer also meint, in der simplen Struktur rechtsextremistischer Tatbegründungen einen sicheren Beweis für die unpolitische Motivation der Täter gefunden zu haben, der täuscht sich und andere in fahrlässiger Weise: Solange diese Form der Gewalt auch und gerade von Seiten der Wissenschaft nicht als das begriffen wird, was sie ist, nämlich eine militante Strategie zur Durchsetzung politischer Zielvorstellungen, wird in der gesellschaftlichen Diskussion das Gespenst des »Rechtsterrorismus« immer wieder urplötzlich und überraschend auftauchen, kurz für Erschrecken sorgen und nach einer überwiegend sicherheitspolitischen Debatte wieder verschwinden. Ein Grund zum Aufatmen wäre das für die Opfer rechter Gewalt nicht.