Die Ermittlungen gegen den NSU

Fehmarn sehen – und morden

Der »Nationalsozialistische Untergrund« konnte sich auf ein Netzwerk von Komplizen stützen. Die Zahl der involvierten Neonazis lässt das Versagen der Behörden umso drastischer erscheinen.

Ausführlich soll Carsten S. bei den Ermittlern aussagen. Freiwillig hatte sich der in der HIV-Prävention tätige Sozialpädagoge aber nicht gestellt. Vergangene Woche holte ihn seine neonazistische Vergangenheit in Thüringen ein, die nicht so recht zu seinem gegenwärtigen Leben als bekennender Homosexueller in Nordrhein-Westfalen passen will. Um sechs Uhr stürmte am Mittwochmorgen eine Spezialeinheit der GSG 9 die Wohnung von Carsten S. in Düsseldorf-Oberblik und brachte ihn mit dem Hubschrauber nach Karlsruhe zum Bundesgerichtshof. Der Vorwurf des Bundesanwalts: Vor etwa zehn Jahren soll der heute 31jährige für das Neonazitrio Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe eine Waffe mit Munition gekauft haben.
Mit der Festnahme von Carsten S. sitzen mittlerweile fünf mutmaßliche Unterstützer des »Nationalsozialistischen Untergrunds« (NSU) in Untersuchungshaft. Bei weiteren Neonazis fanden Durchsuchungen statt. Eine Reihe von Kadern der NPD, »Freien Kameradschaften« und Teile der Blood-and-Honour-Szene scheinen das Trio über 13 Jahre in der Illegalität unterstützt zu haben. Zehn Morde konnten die drei so verüben. In dieser Zeit mieteten sie insgesamt 64 Fahrzeuge, darunter einige Wohnmobile, etwa um Urlaub auf Fehmarn zu machen – oder gezielt Menschen zu ermorden. Dem neuesten Ermittlungsstand zufolge werden ihnen auch zwei Sprengstoffanschläge und neun Raubüberfälle angelastet.

Nicht nur Carsten S., der einst im »Thüringer Heimatschutz« (THS) aktiv war, wurde mit seiner Vergangenheit konfrontiert. Bereits im Dezember erschien eine Spezialeinheit bei Max-Floria B. in Dresden. Nach dem Untertauchen des Nazi­trios 1998 soll er die Flüchtigen in seiner Wohnung in Chemnitz aufgenommen haben. Dass es sich dabei um die »Bombenbastler von Jena« handelte, will der heute 33jährige nicht gewusst haben. Im Unterschied zu anderen mutmaßlichen Helfern befindet sich Max-Floria B. nicht in Untersuchungshaft, vor allem weil er Anfang 2002 aus der Szene ausstieg und, auf die »sporadischen Anrufe« von Mundlos hin, jeden weiteren Kontakt ablehnte.
Anders verhält es sich mit Holger Gerlach, der im November festgenommen wurde, weil er dem Trio über Jahre Ausweise und Führerscheine bereitgestellt haben soll. Der heute 37jährige soll zwar seit 2005 nichts mehr mit der Szene zu tun haben, doch noch im Mai 2011 soll Gerlach, der Böhnhardt sehr ähnlich sieht, ihm wieder geholfen haben, wenn auch nur zögerlich, wie es aus Ermittlerkreisen heißt. Es sei nach all der Zeit zu spät, sich einfach herauszuziehen, soll ihm das Trio in seinem Haus im niedersächsischen Lauenau gesagt haben. Gerlach ließ sich daraufhin die Haare kurz schneiden und setzte sich eine ovale Brille auf, um Böhnhardt noch mehr zu ähneln. Gemeinsam fuhr man dann zu einem Fotostudio im nahen Rodenberg. Auf dem Amt beantragte Gerlach einen Reisepass – in Begleitung von Zschäpe. Nicht aus Gründen der Gesinnung, sondern nur aus falsch verstandener Freundschaft habe er dem Trio zuletzt geholfen, behauptet Gerlach.
In der Haft war Gerlach tatsächlich der erste, der aussagte und andere belastete – vor allem Ralf Wohlleben, von 2002 bis 2008 stellvertretender NPD-Vorsitzender in Thüringen. Ende November nahmen die Ermittler den im »Freien Netz« aktiven Kader wegen Beihilfe zu sechs Morden und eines versuchten Mordes fest. Vier Tage zuvor hatte Gerlach ausgesagt, dass er im Auftrag von Wohlleben dem Trio eine Waffe übergeben habe. Das geht aus einer Erwiderung der Bundesanwaltschaft auf die Haftbeschwerde von Zschäpes Verteidiger hervor. Demnach will sich Gerlach 2001 oder 2002 am Bahnhof in Zwickau mit dem Trio getroffen haben. In einer Wohnung hätten sie dann die Waffe ausprobiert. Die notwendige Munition sei gleich mitgeliefert worden.

Diese Waffe samt Munition soll wiederum Carsten S., der im Jahr 2000 kurzfristig stellvertretender Vorsitzender der »Jungen Nationaldemokraten« in Thüringen war, in Jena gekauft haben. Sein Name taucht schon früh in einem Geheimbericht des Verfassungsschutzes auf, der, ebenso wie die genannte Beschwerdeerwiderung, einzelnen Zeitungsredaktionen vorliegt. Ob das Trio von dieser Waffe bei Straftaten Gebrauch gemacht hat, ist unklar. Für die neun Morde wurde sie zumindest nicht verwendet.
Dem Geheimbericht zufolge soll Carsten S. im Jahr 1999 als Einziger telefonischen Kontakt zu den Untergetauchten gehabt haben. In der Szene habe er neue Unterschlüpfe und Spendengelder für sie zu organisieren versucht. Von den Morden und Banküberfällen des Trios will er nichts gewusst haben. Schon nach 2000 habe er keinen Kontakt mehr zur Naziszene gehabt. »Mehr möchte ich dazu nicht sagen, da ich vor elf Jahren ein neues Leben begonnen habe«, ließ er über seinen Anwalt erklären. Der Bundesanwalt glaubt allerdings, dass er noch bis 2003 Kontakte zur Szene gehabt und zumindest »billigend in Kauf genommen« habe, dass die von ihm besorgte Waffe benutzt werde.
Eine Person, die zur Aufklärung beitragen könnte, schweigt derweil weiter: Beate Zschäpe. Bereits Anfang November stellte sie sich der Polizei in Jena. »Ich bin die, die sie suchen«, sagte sie damals – und schweigt sich seitdem »zur Sache« aus. Vier Tage zuvor hatten sich Mundlos und Böhnhardt nach einem gescheiterten Banküberfall selbst getötet, während Zschäpe in Zwickau ihre Wohnung sprengte und eine Bekenner-DVD per Post versendete. Im Schutt der fast vollständig zerstören Wohnhälfte fanden die Ermittler auf einem Computer die Daten einer weiteren DVD. Wurden in dem ersten bekannt gewordenen Video die Opfer durch die Comic-Figur »Paulchen Panther« verhöhnt, stellt das zweite Video die politischen Absichten in den Vordergrund. Unterlegt mit dem Song »Am Puls der Zeit« der Rechtsrockband »Noie Werte«, werden darin auch Bilder der Opfer gezeigt, und es wird die Botschaft eingeblendet, dass man nun sehen könne, wie ernst es der NSU meine. An der Produktion der ersten DVD soll André Eminger, der Betreiber des Szeneversands »Caput Mortuum« in Zwickau, beteiligt gewesen sein. Dem Bundesanwalt zufolge soll auch er Wohnmöglichkeiten für das Trio organisiert haben, ebenso wie Matthias Dienelt, ein mutmaßlicher Anführer der früheren »Brigade Ost«. Beide sitzen derzeit in Haft.

Aus dem Schutt der Zwickauer Wohnung konnte die 350köpfige Ermittlungsgruppe noch anderes Material sichern. Aus diesem schließen die Ermittler, dass das Trio die Morde sehr genau vorbereitet habe. Dabei sollen sich die drei Neonazis bei der Auswahl ihrer Opfer auf »unarische« Männer im zeugungsfähigen Alter konzentriert haben. In einem Fall, bei der geplanten Ermordung eines türkischen Unternehmers aus Dortmund, sollen sie von der Tat abgesehen haben, weil das mögliche Opfer bereits über 60 Jahre alt war.
Die neuen Erkenntnisse werfen aber auch weitere Fragen an die staatlichen Sicherheitsbehörden auf. Immerhin waren in dem Netzwerk rund um den NSU Mitglieder aus Gruppen aktiv, die von verschiedenen Behörden beobachtet wurden, insbesondere vom THS, an dessen Aufbau der ­V-Mann Tino Brandt führend beteiligt war. Bis heute ist unklar, wie viele V-Männer in welcher Weise in diesem Umfeld wirkten. Und dass der sächsische Blood-and-Honour-Kader Jan W., bei dem im Zuge der Ermittlungen Durchsuchungen stattfanden, den Auftrag gehabt habe, die Untergetauchten mit Waffen zu versorgen, soll der Brandenburger Verfassungsschutz bereits 1998 erfahren haben. Seit dem zufälligen Auffliegen des NSU mehrt sich denn auch in den Parlamenten die Kritik an den zuständigen Behörden, denen vorgeworfen wird, Informationen zurückzuhalten. Der Thüringer Landtag hat mittlerweile einen Untersuchungsausschuss eingerichtet, der zur Aufklärung des Naziterrors beitragen soll. Insbesondere Martina Renner von der Linkspartei, stellvertretende Vorsitzende des Ausschusses, möchte die Untersuchungen nicht nur auf die Naziszene selbst beschränkt sehen. Ihres Erachtens müsse in die Aufklärung auch »das gesellschaftliche Umfeld und vor allem auch die politische und behördliche Verantwortung« einbezogen werden.