Der Europäische Gerichtshof erlaubt atypische Beschäftigungsverhältnisse

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Der Europäische Gerichtshof in Luxemburg hat entschieden, dass dauerhaft befristete Arbeitsverträge erlaubt sind. Geklagt hatte eine Justizangestellte aus Nordrhein-Westfalen, die elf Jahre lang befristet beschäftigt war.

Anzeichen von Erschöpfung, Niedergeschlagenheit und Nervosität sowie Angstattacken werden mittlerweile unter dem Begriff Burn-out zusammengefasst. Mit diesem Phänomen beschäftigen sich hierzulande immer häufiger die Krankenkassen und die Medien, denn es ist nicht von der Hand zu weisen: Immer mehr Arbeitnehmer in der BRD fühlen sich ausgebrannt, entwickeln die genannten Symptome und erkranken. Krank fühlt sich Michaela M. zwar nicht, aber sie sagt: »Ich bin zurzeit ziemlich fertig.« Unumwunden gibt die 45jährige zu, dass sie »immer müde« sei. »Erholt habe ich mich schon lange nicht mehr.« Michaela M. ist Angestellte bei einem Bildungsträger, sie erzählt, dass ihr Arbeitsvertrag auf sechs Monate befristet sei, und das nun schon zum zweiten Mal. »Wenn ich diese Runde schaffe, habe ich aber Aussicht auf einen unbefristeten Arbeitsvertrag.«

»Ziemlich fertig« und »immer müde« fühlt sich Michaela M., weil sie sich unter der besonderen Beobachtung ihrer Vorgesetzten wähnt und permanent versucht, ihr Bestes zu geben. »Da hängt einfach viel dran. Ich bin ja schon froh darüber, dass ich diesen Job überhaupt bekommen habe. Richtig ruhig werde ich aber erst dann, wenn ich die Sicherheit eines unbefristeten Arbeitsvertrags habe«, sagt sie.
In den Monaten, bevor sie ihre derzeitige Stelle angetreten hat, war sie arbeitslos. Auch diese Zeit beschreibt sie als sehr belastend. Die Absagen auf ihre zahlreichen Bewerbungen waren nicht nur frustrierend, sie steigerten auch ihre Furcht davor, zukünftig auf ALG II angewiesen zu sein. »Ich habe mir große Sorgen um meine Zukunft gemacht, und ich hatte Angst vor ALG II, weil ich dann meine Wohnung und meine Altersvorsorge verloren hätte.«
Ausgiebig Urlaub hat Michaela M. schon lange nicht mehr gemacht, vorher fehlte das Geld, seit sie arbeitet, fehlt die Zeit. Im Jahr stehen ihr 20 Urlaubstage zu: »Aber weil mein Vertrag befristet ist, kann ich nicht langfristig planen. In den zwei Wochen, die ich jeweils frei bekomme, fahre ich zu meinen Eltern oder besuche Freunde. Dass Bianca Kücük genervt war, kann ich gut verstehen.« Michaela M. spielt auf den Fall einer Justizangestellten an, die vom Land Nordrhein-Westfalen elf Jahre lang mit befristeten Arbeitsverträgen beschäftigt worden war. Kücük klagte auf Festanstellung und zog bis vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg.

Kücük wurde von 1996 bis 2007 mit insgesamt 13 befristeten Arbeitsverträgen beim Kölner Amtsgericht beschäftigt. Anfang Dezember 2007 wurde der Justizangestellten mitgeteilt, dass ihr Arbeitsvertrag nicht mehr verlängert werde. Kücük klagte auf Entfristung, zuerst vor dem Arbeitsgericht Köln, dann vor dem Landesarbeitsgericht und schließlich vor dem Bundesarbeitsgericht (BAG). Das verwies den Fall nach Luxemburg. Vor zwei Wochen, vier Jahre nachdem Kücük Klage eingereicht hatte, entschied der EuGH, dass prinzipiell nichts dagegen einzuwenden sei, Arbeitnehmern auch dauerhaft sogenannte Kettenbefristungen zuzumuten. Die mehrfache Verlängerung von befristeten Verträgen widerspreche nicht dem EU-Recht, stellte der EuGH fest. Bianca Kücük wurde beim Amtsgericht Köln stets als Vertretung für fehlende Mitarbeiter eingesetzt, beispielsweise für Kolleginnen und Kollegen im Erziehungsurlaub. Das sei rechtens, befand der EuGH, allerdings wird Kücüks Fall nun an das BAG zurückgehen. Die Richter in Luxemburg haben zwar entschieden, dass Kettenverträge wie bei Kücük im Prinzip zulässig sind, denn es gebe sachliche Gründe, die die mehrfache Verlängerung befristeter Arbeitsverträge legitimierten, allerdings sei es Aufgabe der nationalen Gerichte, Missbrauch zu verhindern.
Der EuGH hob in seinem Urteil den Sachgrund hervor, die Begründung für die Befristung müsse im Arbeitsvertrag erwähnt werden und zutreffend sein. Ein solcher Sachgrund kann dem EuGH zufolge ein vorübergehender Bedarf an Vertretungskräften sein. Der Hinweis auf Haushaltsmittel reiche jedoch nicht aus, befand das BAG beispielsweise hinsichtlich der Verträge einiger Mitarbeiter der Bundesagentur für Arbeit (BA). Diese hatten in den Jahren 2010 und 2011 erfolgreich gegen ihre befristeten Verträge geklagt, die schließlich entfristet werden mussten. Manche Beschäftigte können ihren Arbeitsvertrag also durchaus genau überprüfen lassen und bisweilen auch erfolgreich gegen die Befristung klagen.
Bianca Kücük und Michaela M. aber gehören bis auf weiteres nicht zu ihnen. In einem Interview mit Spiegel Online äußert der Arbeitsrechtler Martin Krömer die Befürchtung, dass das Urteil des EuGH dazu führen könnte, dass es künftig noch mehr Kettenverträge geben wird. »Jetzt nämlich wissen noch mehr Arbeitgeber, dass sie generell rechtmäßig sind.«

Die negativen Auswirkungen, die das Urteil mit sich bringen könnte, entsprechen einem allgemeinen Trend. Die Tendenz zur Verschlechterung der Lage von Arbeitnehmern in der BRD war bereits vor dem Luxemburger Urteil unübersehbar. Bereits 2009 arbeiteten 22 Prozent aller Vollzeitbeschäftigten im sogenannten Billiglohnsektor. Mehr als 80 Prozent aller Mitarbeiter an deutschen Hochschulen haben befristete Stellen, berichtete das Politmagazin »Panorama« Ende Januar. Bei 75 Prozent aller neu abgeschlossenen Arbeitsverträge im vorigen Jahr handelte es sich um sogenannte atypische Beschäftigungsverhältnisse, die wegen ihres massenhaften Aufkommens längst zu typischen Beschäftigungsverhältnissen geworden sind: Minijobs, Zeitarbeit, Zeitverträge. Mittlerweile sind 910 000 Menschen hierzulande als Leiharbeiter beschäftigt. In der Baubranche, im Weiterbildungssektor, im Verlagswesen und zahlreichen anderen Branchen ist die erzwungene Selbständigkeit die Regel geworden: Die Betroffenen sind alleine für ihre Sozialversicherungsbeiträge zuständig, ihre Arbeitgeber haben sich elegant aus der »Sozialpartnerschaft« verabschiedet.
»Millionen von Menschen haben Jobs, aber sichere Lebensplanung ist ihnen ein Fremdwort«, lautete das Resümee der »Panorama«-Sendung. Die Existenzangst, die Folgen der fehlenden sozialen Absicherung oder die drohende Altersarmut sind ihnen hingegen ein Begriff. In der Sendung war von Frauen die Rede, die sich zum Abbruch einer Schwangerschaft entscheiden, weil sie sich existentiell unsicher fühlen, und von Wohnungssuchenden mit befristeten Arbeitsverträgen, die keine Chance auf dem Wohnungsmarkt mehr haben, da Vermieter diejenigen Anwärter bevorzugen, bei denen sie langfristig mit Mietzahlungen rechnen können. »So dramatisch ist es bei mir nicht«, sagt Michaela M., sie kann von ihrem Gehalt leben und hofft immerhin, dass sie in einigen Monaten eine Festanstellung erhält. Allerdings stellt sie fest: »So, wie wir leben – das ist nicht das, was einem vermittelt worden ist, als man jung war.« Beispielsweise sei längst nicht mehr ausgemacht, dass man eine gewisse Sicherheit beanspruchen könne, wenn man in eine gute Ausbildung investiert habe, und jeden Tag arbeiten gehe. »Manchmal wird einem klar, dass der Boden, auf dem man steht, ziemlich instabil ist. Und dann kann man schon richtig Angst bekommen.«