Das neue ostdeutsche Selbstbewusstsein

Gauck ist nur der neue Gysi

Mit Angela Merkel und demnächst Joachim Gauck bekleiden Ostdeutsche zwei der drei höchsten Staatsämter. Der Osten dreht auf, und der Sound für das neue ostdeutsche Selbstbewusstsein kommt von Kraftklub. Aber ist das alles am Ende nicht doch nur die alte Mitleidstour?
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Als die Mauer fiel, kam die Welle rübergeschwappt, ein Tsunami arroganter Wessis, der das Land überflutete mit sozialer Bibberkälte und amerikanischer Bäh-Kultur. »Kolonisierung« schrien die einen, »Apartheid« manch andere, und der Bundestagsabgeordnete Rolf Kutzmutz von der PDS beklagte, Ostdeutsche würden stigmatisiert, »wie es andere bayerische Politiker vor einem dreiviertel Jahrhundert mit den Juden begannen«. 22 Jahre nach der Wende können wir erleichtert feststellen, dass der Holocaust an den Ossis gerade noch mal ausgeblieben ist. Es ist sogar ganz und gar anders gekommen: Die Ostdeutschen übernehmen das Ruder. Und es ist nicht die PDS! Wer hätte das vor zehn Jahren gedacht? Nicht Gysi, nicht Pau, nicht Wagenknecht, gar niemand aus der SED. Der Osten hat gewonnen, aber nicht im Rückwärtsgang der DDR-Verklärung, sondern auf dem Weg zu neuen Ufern.

So ungefähr jedenfalls erzählen es die Feuilletons, auch und gerade wenn sie von der Band Kraftklub sprechen. Sie ist der große Hype, weil sie eine neue ostdeutsche Identität formuliere, auf die offenbar alle gewartet haben. Die Wochenzeitung Freitag jubilierte: »Die Band Kraftklub holt den ostdeutschen Diskurs aus den Museen heraus und bringt ihn dorthin zurück, wo er hingehört: auf die Straße.« Dorthin zurück also, wo ihn seit Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda ohnehin jeder verortet? Doch der ostdeutsche Diskurs drehte sich nicht nur um die Nazihegemonie auf ostdeutschen Straßen, er feierte auch fröhliche Urständ in der und rund um die PDS bzw. Linkspartei. Das Neue soll nun angeblich sein, dass junge Musiker aus dem Osten Karriere machen, obwohl sie keine Nazis sind, und dass Politiker nach oben kommen, die nicht aus der Linkspartei stammen. Aber gab es das mit Rammstein und Merkel nicht längst?
Okay, ein paar Ossis machen nun Karriere – aber auch sie, wie gehabt, nur mit ihrem Opferstatus. So wie die PDS sich als Partei der entrechteten und vom Westen drangsalierten Ostler profilierte, funktioniert es auch bei den Wendegewinnern von heute: Sie stehen »auf keiner Gästeliste«, sind »Verlierer«, und weil die Eltern mehr kiffen als sie selbst, haben sie keinen Ansatzpunkt für ihre Rebellion. So punkten die Kraftklub-Musiker aus Chemnitz. Der Freitag sieht sie gar als Stimme einer wie Ausländer und Schwule unterdrückten Minderheit (immerhin nicht als vom Holocaust bedrohte Juden).
Und auch der ehemalige Pfarrer Joachim Gauck, der in der DDR nicht gerade durch Dissidenz aufgefallen ist und vor der Wendezeit nie politisch aktiv war, ist hauptsächlich als Opfer zu einer Persönlichkeit geworden, durch das – tatsächlich schlimme – Schicksal seines in ein sibirisches Arbeitslager verschleppten Vaters, das den Sohn in seiner Kindheit traumatisiert hat und das bis heute unaufhörlich seinen Antikommunismus nährt.
Hans-Jochen Tschiche, ebenfalls ein ehemaliger Pfarrer, der sich seit Anfang der achtziger Jahre in der DDR-Opposition engagierte, schrieb jetzt im Freitag und in der Süddeutschen Zeitung, Gauck habe niemals zur DDR-Opposition gehört: »Er sprang erst später auf den fahrenden Zug auf.«

Dabei gab es in der DDR viele, die sich nicht erst gegen den Staat wandten, als die Mauer schon bröckelte. Und es waren auch nicht nur Pfarrer. Da waren zum Beispiel Punks, Künstler, Anarchisten, von denen manche viele Monate oder Jahre ihres Lebens in Stasiknästen verbrachten, weil sie staatsfeindliche Sprüche auf Mauern gesprayt, Flugblätter mit Aufrufen zum Wahlboykott verteilt oder einfach nur ihre Flucht aus der DDR vorbereitet hatten. Sie sahen sich nicht als Opfer, sondern als Handelnde, und haben nach der Wende versucht, sich auch die neue Realität anzueignen. Man hat sie in besetzten Häusern angetroffen oder in der Antifa, und manche sind noch einmal im Knast gelandet. Von solchen Menschen aber spricht niemand, sie bekommen kein Bundesverdienstkreuz (sie würden es auch gar nicht annehmen), von ihrer »Ostidentität« wollen sie nichts hören, weil sie sich nicht als Ostdeutsche, sondern schlicht als dissidente und antiautoritäre Menschen begreifen. Doch nicht Systemkritiker sind gefragt, sondern nur Kritiker ganz bestimmter Systeme.
Es ist verständlich, dass Joachim Gauck immer noch unter den Schrecken seiner Kindheit leidet und dass er die Stasi und das SED-Regime aus ganzem Herzen ablehnt. Dagegen ist nichts einzuwenden, im Gegenteil, recht hat er. Aber hat man vom vermeintlichen Bürgerrechtler etwas gehört, als die sächsische Polizei vor einem Jahr über eine Million Mobilfunkverbindungsdaten in Dresden erfasste, weil sie eine antifaschistische Demonstration unter Kontrolle halten wollte? Man hörte auch nichts von ihm oder einem anderen ehemaligen DDR-Bürgerrechtler, als an diesem Wochenende bekannt wurde, dass deutsche Geheimdienste im Jahr 2010 mehr als 37 Millionen E-Mails und Datenverbindungen überprüft haben, nämlich schlicht alle, in denen bestimmte Schlagwörter wie »Bombe« oder »Atom« zu finden waren. Und als in Tunesien im vorigen Jahr die Bevölkerung erfolgreich ihren Diktator stürzte, wo waren da diese Bürgerrechtler, um Reisefreiheit für die Tunesier zu fordern? Die wird immer noch auf grausame Weise auf offener See von der Grenztruppe Frontex unterbunden, im Auftrag der europäischen Regierungen, auch der deutschen. Allein 2010 kamen im Mittelmeer 1 500 Flüchtlinge ums Leben, fast doppelt so viele wie insgesamt in 28 Mauerjahren an der deutsch-deutschen Grenze. Reisefreiheit ist eben auch nur populär, wenn bestimmte Leute in bestimmte Länder reisen wollen.

Die Ostidentitität, von der die Rede ist, ist vor allem eines: eine Opferidentität. Ob Gysi oder Gauck. Das war so und das scheint auch so zu bleiben. Bisher war Ostalgie vor allem Nostalgie, nun wird der gleiche Quatsch als Perspektive verkauft. Dabei litten die einen an der DDR, die anderen am Ende der DDR und die Jüngsten leiden an den leidenden Alten, einig sind sie sich nur darin, zu leiden. Von einer gemeinsamen »Identität« jedoch kann wohl kaum die Rede sein.
Was es allerdings gibt, das ist eine eigene Ost­realität. Tatsächlich sind 1989 für eine ganze ­Generation von Menschen Weltbild, Rechtsverständnis sowie Lebensperspektive von einem Tag auf den anderen kollabiert und ihre große Ratlosigkeit gaben diese Menschen an ihre Kinder weiter. Und natürlich gibt es dort in Ostdeutschland spannende, einmalige, lehrreiche Erfahrungen, die im Westen niemand gemacht hat und die völlig zu Recht von Schriftstellern in Bücher, von Filmemachern auf die Leinwand und von Musikern zu Gehör gebracht werden. Der Vorwurf der Opferstilisierung geht denn auch nicht so sehr an Kraftklub, die ja wirklich ganz sympathische und intelligente Texte machen, sondern vielmehr an jene Feuilletonisten, die wieder einmal krampfhaft versuchen, aus all diesen vielfältigen Wende- und Nachwendeerfahrungen eine hübsche einheitliche »Ostidentität« zu zimmern. »Wäre der Osten ein Mensch, der Umgang mit ihm erfüllte zuweilen den Tatbestand des Mobbings«, klagte das SZ-Magazin neulich.
Viele hätten den Ostler gerne als klar definiertes Subjekt, manch einer möchte ihn gar als eigenes »Volk«, als »Ethnie« sehen. Eine Frau aus dem Osten rief 2010 das Arbeitsgericht an, weil sie der Meinung war, ihre Bewerbung als Buchhalterin sei wegen ihrer Herkunft aus den neuen Bundesländern abgelehnt worden. Ihr Anwalt sprach von ethnisch motivierter Diskriminierung. Doch das Arbeitsgericht stellte fest: Ostdeutsche verfügten nicht über einheitliche Merkmale in Tradition, Sprache, Religion, Kleidung oder Ernährung, und daher seien sie nicht als »Ethnie« oder »Volksstamm« anzusehen. Gut für Joachim Gauck, denn sonst könnte er wohl kaum Bundespräsident werden.
Eigentlich wäre er ja auch der Richtige dafür, so als »Bürgerrechtler«. Denn als solcher hätte er auch im Osten immer noch einiges zu tun. 74 Prozent der Ostdeutschen sind einer Studie der Volkssolidarität von 2009 zufolge mehr oder weniger ausländerfeindlich, und das, obwohl nur 2,4 Prozent Ausländer im Osten leben. Nur 24 Prozent der Ostdeutschen finden es »sehr wichtig«, in einer Demokratie zu leben.
Wer sich angesichts solcher Einstellungen ein neues ostdeutsches Selbstbewusstsein wünscht, der ist lebensmüde, selbst Nazi – oder lebt im Westen.